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Universelle Menschenrechte und kulturelle Besonderheiten*

Georg Lohmann

/ 8 Minuten zu lesen

Gibt es eine absolute Grundvoraussetzung für den Anspruch der allgemeinen Gültigkeit der Menschenrechte oder kann dieser aus verschiedenen kulturellen Kontexten hergeleitet werden? Der Philosoph Georg Lohmann unternimmt den Versuch einer Begründung des egalitären Universalismus der Menschenrechte.

Gelten Menschenrechte universell oder erfordern kulturelle Besonderheiten auch unterschiedliche Menschenrechte? (© AP)

Aktuelle Herausforderungen

Auf einer Tagung im Auswärtigen Amt Berlin berichteten Regierungsvertreter über die Arbeit im neuen Menschenrechtsrat (MRR) der Vereinten Nationen in Genf. Ein wichtiges Problem ergebe sich aus der Zusammensetzung der Vertreter im MRR. Die Vertreter der Universalität der Menschenrechte seien offenbar in der Minderheit, eine Mehrheit wolle eher regionale und kulturell spezifische Menschenrechtsverständnisse durchbringen. In der Diskussion wies der Botschafter Pakistans sehr geschickt darauf hin, dass 1948 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) 56 Mitgliedstaaten der neugegründeten Vereinten Nationen (UNO) zugestimmt haben, jetzt seien aber in der UNO 192 Staaten, die Geschichte sei weitergegangen und so müsse man sich nicht wundern, wenn nun auch im Verständnis der Menschenrechte eine "Weiterentwicklung" zu beobachten sei.

Einer solchen Auffassung gemäß, die die Menschenrechte z.B. der islamischen Scharia anpasst, wie es in einer islamischen Menschenrechtserklärung schon geschehen ist, haben Frauen nicht notwendigerweise die gleichen Rechte wie Männer oder sind einige Rechte wie z.B. das Recht auf Meinungsfreiheit zu Gunsten bestimmter religiöser Überzeugungen eingeschränkt. Will man gegen solche Versuche der Umdeutung der Menschenrechte angehen, so muss man sich über ein angemessenes Verständnis der Menschenrechte klar werden. Dabei ist es besonders wichtig, dass man über eine gut begründete Konzeption der Menschenrechte verfügt, und dass man weiß, warum man für eine bestimmte Auffassung eintritt und wo man kompromissbereit sein kann. Was versteht man also unter Menschenrechten und wie bzw. was kann oder muss man begründen?

Was sind Menschenrechte?

Menschenrechte sind besondere Rechte. Sie unterscheiden sich zunächst von einfachen Bürgerrechten durch ihr Gewicht: Sie beziehen sich auf besonders wichtige und fundamentale Sachverhalte menschlichen Lebens. Sie sind aber auch durch eine Reihe formaler, für alle Menschenrechte gültigen Eigenschaften ausgezeichnet. Menschenrechte sind ihrem Begriff nach universelle Rechte, da sie für alle Menschen gelten, und sie sind egalitäre Rechte, da sie für alle Menschen in der gleichen Weise gelten. Sie sind ferner kategorische oder unbedingte Rechte, da man keine Vorleistungen zu erbringen hat, sondern nur ein Mensch zu sein braucht, um Träger von Menschenrechten zu sein. Und sie sind schließlich individuelle und subjektive Rechte, da nur der jeweils einzelne Mensch Träger von Menschenrechten ist.

Menschenrechte sind ihrer Idee nach aber nicht nur moralisch begründete Ansprüche, sie sind auch von einem dafür legitimierten politischen Gesetzgeber in Kraft gesetzte juristische Rechte, die man in einem entsprechenden Rechtssystem einklagen kann. Wir nennen Menschenrechte, die in eine Staatsverfassung aufgenommen worden sind, Grundrechte, und wir kennen auf völkerrechtlicher Ebene eine Reihe von Menschenrechtspakten und Konventionen, in denen die beteiligten Staaten sich zur Einhaltung und Beachtung bestimmter Menschenrechte verpflichtet haben.

Begonnen hat diese Entwicklung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948. Dabei ist der Katalog der konkreten, einzelnen Menschenrechte ein offener Katalog. Es ist im Prinzip möglich, neue Menschenrechte hinzuzufügen oder auch ein Recht herauszunehmen. Welche konkreten Rechte in den Katalog aufgenommen wurden oder werden, das bestimmt sich nach besonderen Unrechtserfahrungen und Bedrohungen, denen Menschen ausgesetzt waren und sind. Insbesondere die AEMR von 1948 ist eine Reaktion auf die Erfahrungen der Barbarei und Unmenschlichkeit des Naziregimes und der totalitären Verbrechen weltweit.

Welche Arten von Begründungen der Menschenrechte gibt es?

In der Philosophie werden eine Reihe von ganz unterschiedlichen Begründungsvarianten der Menschenrechte diskutiert. Das Auffassungsspektrum reicht von der Leugnung ihrer Begründbarkeit und damit der Existenz von Menschenrechten überhaupt bis zur Überzeugung ihrer absoluten Begründetheit. Dabei variieren je nach philosophischer Position und vertretener Moralauffassung die unterschiedlichen Begründungsversuche.

Absolute Begründungen operieren in der Tradition des Naturrechts oder des Vernunftrechts mit dem Begriff der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als eines absoluten Wertes oder mit dem Begriff der Menschenwürde. In der Tradition Kants stehen auch Versuche, die Menschenrechte als Freiheitsrechte zu begründen.

Starke (kultur-)relative Auffassungen verstehen die Menschenrechte als nur relativ zu einem bestimmten Kultursystem "begründbar". Andere folgen einem "cross-cultural approach", der durch einen Kulturvergleich versucht, empirische Gemeinsamkeiten als Basis festzustellen. Schwach relative Positionen verstehen den egalitären Universalismus der Menschenrechte relativ zu bestimmten Moralvorstellungen oder politischen Positionen. Relationale Positionen versuchen, den Objektivitäts- und Universalitätsanspruch von Menschenrechten durch Korrespondenzen zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität einzulösen.

Ein Begründungsversuch des egalitären Universalismus der Menschenrechte

Es gibt nicht nur eine, sondern mehrere moralische Begründungen des Menschenrechtsuniversalismus, was angesichts des Pluralismus der Kulturen in der Welt die Möglichkeit eröffnet, die Menschenrechte von unterschiedlichen Voraussetzungen aus zu begründen.

Eine häufig vertretene Auffassung ist, dass Universalismus und Egalitarismus der Menschenrechte moralisch nur in einer absoluten Weise begründet werden könnten (etwa indem man, wie Kant, von einer absolut gesetzten Vernunft ausgeht oder von einer absolut gesetzten Konzeption der Menschenwürde aus den Universalismus der Menschenrechte "ableitet"). Vielfach wird die Meinung vertreten, dass eine relativ ansetzende Begründung den moralischen Universalismus verfehle. Eine solche Verknüpfung von egalitärem Universalismus und einer absoluten Konzeption müsste aber nachweisen, dass es eine solche absolute Prämisse der Begründungen gibt. Meines Erachtens scheitern aber bislang alle Versuche, diese nachzuweisen. Was für alle akzeptabel sein können muss, darf nicht schon im Vorfeld des Begründungsversuchs vorausgesetzt werden. Deshalb erscheint es mir sinnvoll, nach einem alternativen Begründungsprozedere zu suchen.

Die Möglichkeit dazu wird eröffnet, wenn man sich noch einmal die Konstellation der hier relevanten Begriffe anschaut. Die gängige Auffassung scheint auf einer Kategorienverwechselung zu beruhen. Sie stellt gewissermaßen die Weichen der Argumentation falsch und kommt deshalb auch zu der falschen Schlussfolgerung, dass ein Universalismus nur absolut begründet werden könne und – wenn dies nicht möglich sei – dass eine nur relative Begründung zur Aufgabe des Universalismus führe und damit zu einer nur partikularen Geltung. Es gilt daher, die Grundbegriffe der Diskussion neu zu ordnen.

Die Diskussion wird bisher so geführt, als ob eine ausschließende Wahl bestehe zwischen "Universalismus" und "Relativismus". Diese Begriffe sind aber nicht direkte Gegenbegriffe: Der direkte Gegenbegriff zu "Universalismus" ist "Partikularismus", der direkte Gegenbegriff zu "Relativismus" ist eine "absolute Auffassung" oder in diesem Sinne ein "Absolutismus". Ordnet man die Begriffe nach dieser Paarbildung an, so wäre auch zu prüfen, ob nicht auch eine relativ ansetzende Begründung des moralischen Universalismus möglich ist, indem ein moralischer Partikularismus als unbegründet zurückgewiesen wird.

Der moralische Universalismus setzt eine inhaltliche Prämisse: die kulturelle Hochschätzung individueller Selbstbestimmung. Dabei muss diese Prämisse in all jenen Kulturen gelten, in denen individuelle Begründungen verlangt werden können. Historisch entstanden ist sie allerdings in den westlichen Kulturen. Insofern ist der moralische Universalismus m. E. kulturrelativ. Eine schwach relativistische Verteidigung eines moralischen Universalismus der Menschenrechte beginnt mit der oben genannten inhaltlichen Prämisse.

Sie setzt dann in einem zweiten Schritt auf das formale Beurteilungsprinzip der Unparteilichkeit: eine unparteilich nicht begründbare Ungleichbehandlung oder Partikularisierung kann nicht akzeptiert werden und deshalb und insoweit gilt ein universeller und egalitärer Anspruch als begründet.

Auf diese Weise erscheint der moralische, egalitäre Universalismus der Menschenrechte nicht als Startpunkt des Begründungsspiels, sondern er wird generiert und erscheint in einem offenen Begründungsspiel als begründetes Resultat. Insofern formuliert diese Auffassung nicht den Universalismus der Menschenrechte, sondern sie reformuliert und rekonstruiert den Prozess der Universalisierung der Menschenrechte.

Universalismus und kulturelle Besonderheiten

Der moralisch geforderte Universalismus der Menschenrechte erfordert nun keineswegs eine Einheitskultur oder resultiert in einer solchen. Im Gegenteil: Gerade ein verwirklichter und rechtlich wie politisch konkretisierter universeller Menschenrechtsschutz wird die Möglichkeiten einer kulturellen Vielfalt der Menschen erweitern. Dabei darf freilich ein bestimmtes Niveau nicht unterschritten werden. Nicht jede kulturelle Besonderheit ist daher mit dem Menschenrechtsuniversalismus kompatibel.

In den je konkreten Gestalten von Rechtsregimen und Politiken konkretisieren sich auch die universellen Ansprüche der Menschenrechte. Universelle Regeln können nur bzw. müssen in konkreten besonderen Kontexten angewendet werden. Und jede Anwendung einer Regel ist zugleich eine Weiterentwicklung und Neudeutung ihres Gehaltes. Verliert der Menschenrechtsuniversalismus daher durch die notwendige Umsetzung und Konkretisierung in einer besonderen Gesellschaft und Rechtskultur seinen universellen Gehalt?

Man wird unterscheiden müssen zwischen Besonderheiten, die mit dem Universalismus der Menschenrechte kompatibel sind und solchen, die ihm widersprechen. Auch hier möchte ich vorschlagen, diese Grenze nur in Bezug auf das zu ziehen, was noch unparteilich gerechtfertigt werden kann. Zwei recht allgemein gehaltene Vermutungen sollen diesen Vorschlag verdeutlichen:

Bei Rechten, die gekennzeichnet sind durch einen Vorrang von mit ihnen verbundenen negativen Pflichten lässt sich der Universalismus der Menschenrechte strikter (steifer) behaupten oder ist hier besser und "steifer" zu verteidigen. So leuchtet z. B. eine Position nicht ein, die unter Berufung auf die besondere kulturelle Praxis der Straftradition eines Landes das Menschenrecht, nicht gefoltert zu werden, einschränken will.

Bei Rechten hingegen, die in dominanter, charakteristischer Weise mit positiven Pflichten verknüpft sind (Leistungsrechte, unbestimmte positive Rechte, die offen lassen, welche Handlung eine Erfüllung der positiven Pflicht ist), kann der Universalismus flexibler reagieren – man könnte hier von einem "weichen", variablen Universalismus sprechen. Als Beispiele sei auf die besonderen kulturrelativen Ausdeutungen des Rechts auf Bildung oder auf die Kinderschutzkonventionen hingewiesen.

Sowohl die mit positiven als auch die mit negativen Pflichten verknüpften Rechte erfordern eine größere kulturelle Sensibilität und Variabilität sowie zugleich komplexere Anstrengungen bei der Auslegung der jeweiligen Rechte, in denen das, was unparteilich nicht zu rechtfertigen ist, von dem unterschieden wird, was genügt.

* Ich beziehe mich hier z.T. auf meine Aufsätze in Günter Nooke, Georg Lohmann, Gerhard Wahlers (Hg.) (2008), Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, Freiburg, Basel, Wien.

Quellen / Literatur

Aufsätze in Günter Nooke, Georg Lohmann, Gerhard Wahlers (Hg.) (2008), Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, Freiburg, Basel, Wien.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Anne Duncker, Menschenrechte im Islam. Eine Analyse islamischer Erklärungen über die Menschenrechte, Berlin 2006.

  2. Vgl. Jeremy Bentham, Anarchical Fallacies. Being an Examination of the Declaration of Rights Issued During the French Revolution, in: The Works of Jeremy Bentham, Bowring edition, Edingburgh, William Tait, 1843, teilweise wieder abgedruckt in: Jeremy Waldron (Hg.), Nonsense Upon Stilts. Bentham, Burke and Marx on the Rights of Man, London 1987; Alisdair MacIntyre, After Virtue, Notre Dame 2. Aufl. 1985, dt.: Verlust der Tugend, Frankfurt 1986.

  3. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe (AA), Bd. VI.

  4. Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Menschenrechte und Menschenwürde, hg. v. E.-W. Böckenförde u. R. Spaemann, Stuttgart (Klett-Cotta) 1987; Gregory Vlastos, Justice and Equality, in: R. Brandt (Hg.) Social Justice, Englewood Cliffs, N. J. (Prentice Hall) 1962

  5. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, Darmstadt 1998.

  6. Richard Rorty, Human Rights, Rationality, and Sentimentality, in: S. Shute & S. Hurley (Hg.), On Human Rights. New York 1993; dt.: Menschenrechte, Rationalität und Gefühl, in: dies., Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt 1996.

  7. Abduhlahi An-Na`im (Hg.), Human Rights in Cross-Cultural Perspectives, Philadelphia 1992; Michael Walzer, Thick and Thin: moral argument at home and abroad, Notre Dame 1994; dt.: Lokale Kritik - globale Standards. Zwei Formen moralischer Auseinandersetzung, Berlin 1996.

  8. E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt M. 1993.

  9. John Rawls, The Law of Peoples, in: S. Shute & S. Hurley (Hg.), On Human Rights. New York 1993; dt. Das Völkerecht, in: dies. (Hg.), Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt 1996.

  10. Diese Auffassung vertritt auch A. Gutmann, Einleitung, in: M. Ignatieff (2002), S. 17 ff.

  11. Siehe die Kritik von Ernst Tugendhat an Kants absolut gesetzter Vernunftkonzeption, ders. (1993), Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M., S. 70 ff.

  12. "Schwach", weil diese Position nicht behaupten muss, dass alles relativ ist, sondern durchaus nichtrelative Aussagen zulassen kann.

  13. Siehe Georg Lohmann (2001), Unparteilichkeit in der Moral, in: Klaus Günther/Lutz Wingert (Hg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt/M., S. 434-455.

  14. Siehe Heiner Bielefeldt (2007), Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft, Bielefeld.

Weitere Inhalte

Georg Lohmann, geb.1948, ist seit 1996 als Professor für Praktische Philosophie an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg tätig. Er ist Mitglied der dortigen "Arbeitsstelle Menschenrechte". Veröffentlichungen und Herausgeberschaften: "Philosophie der Menschenrechte"; "Menschenrechte zwischen Anspruch und Wirklichkeit"; "Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen". Zahlreiche Aufsätze zur Moralphilosophie, angewandten Ethik, Sozialphilosophie, politischen Philosophie und Kulturphilosophie.