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Gender Budgeting eröffnet neue Sichtweisen

Dr. Elisabeth Stiefel

/ 7 Minuten zu lesen

Dr. Elisabeth Stiefel, Mitglied im Beirat Bürgerhaushalt der Stadt Köln, setzt sich für gendersensible Methoden der Haushaltsführung ein.

(© Pawel Szvmanski on Unsplash)

Der Bürgerhaushalt

Bürger‑ bzw. Beteiligungshaushalte laden die Wohnbevölkerung zur Mitentscheidung über das Finanzmanagement ihres Gemeinwesens ein. Als Instrument direkter Demokratie geben sie auch solchen Gruppen eine Stimme, die es schwer haben, sich in repräsentativen demokratischen Verfahren Gehör zu verschaffen. Lebenslagen, die von der gesellschaftlichen Normalität. abweichen, bleiben in repräsentativen Strukturen auch dann sperrig, wenn es um die Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels geht.

Innovative Verfahren wie der Bürgerhaushalt tragen dagegen der Vielfalt moderner Bedarfs‑ und Lebenslagen Rechnung. Sie bringen Fragen auf die Tagesordnung, die zuvor nicht gestellt wurden oder lediglich als Anliegen von Minderheiten galten. Diese Sicht hat weit reichende Konsequenzen für den Umgang mit Ressourcen. Sie bildet ein Gegengewicht zu einem Finanzmanagement, das sich vorrangig an betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten und damit an der Bilanzierung von Input und Output, von Aufwand und Erträgen orientiert. Bürgerhaushalte unterstützen das Leitbild der Bürgergesellschaft und ihren Anspruch, den Potenzialen und Bedürfnissen aller Bevölkerungsgruppen Raum zu geben.

Grundsätzliche Überlegungen, die im Rahmen der Etablierung von Bürgerhaushalten auf ein neues Verhältnis des Gemeinwesens und seinen Mitgliedern verweisen, kommen bisher vor allem aus Ländern des Südens, gelten jedoch auch für Kommunen in der sog. alten Welt. Das Recht zur Mitgestaltung öffentlicher Finanzen verleiht BürgerInnen einen Status, der über die reine Nutzung kommunaler Dienstleistungen hinaus weist. Die Individuen sind nicht länger nur Kunden oder gar Klienten, sondern übernehmen Mitverantwortung für das Wohlergehen der Gemeinschaft. Damit erweitern sie das Spektrum der Ressourcen für eine zukunftsfähige Stadtpolitik.

Das Gender Budget

In der EU gilt das Gender Budget als Instrument von Gender Mainstreaming. Gender Budgeting wird als Anwendung von GM auf öffentliche Haushalte gesehen. Im Gegensatz zu Gender Mainstreaming ist die Einführung von Gender Budgeting nicht verpflichtend. Öffentliche Haushalte sollen sich jedoch bis 2015 grundsätzlich eine Geschlechterperspektive zu Eigen machen.

GM und damit auch GB haben das Ziel, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die Bestandteil aller demokratischen Verfassungen ist, durch strukturelle Veränderungen und konkrete Maßnahmen in reale Gleichstellung zu überführen. Aktionsraum für diese Strategie sind alle Bereiche politischen Handelns, die für die Lebenslage der Individuen Bedeutung haben.

Bürgerbeteiligung auf dem Weg in eine lebensfreundliche Stadtgestaltung

Um Gemeinsamkeiten und Widersprüche der neuen Prinzipien öffentlicher Haushaltsführung zu entdecken, bedarf es tiefer schürfender Recherche. Der Gewinn für den öffentlichen Umgang mit öffentlichem Geld ist an die Bedingung gebunden, dass diejenigen Probleme erkannt und benannt werden, für die neue Lösungen gesucht werden müssen.

Unabhängig von den konkreten Zielen eines Bürgerhaushalts geht es zunächst darum, auch diejenigen zur Beteiligung zu motivieren, deren gleichwertige Lebens‑ und Entwicklungschancen gesichert werden sollen. Nur sie können beschreiben, was sie an einer Lebensführung hindert, die sie als befriedigend empfinden. Die gleichzeitig sach‑ und personengebundene Problematik lässt sich an einer Vielfalt von Beispielen demonstrieren. Ein unzureichend ausgebauter Nahverkehr beeinträchtigt z.B. andere Bevölkerungsgruppen als der fehlende Kindergarten oder die Schließung eines Jugendzentrums, wenn Personalkosten eingespart werden müssen.

Im Auftrag der Weltbank hat 2007 eine Expertengruppe die Haushaltsführung von Puerto Alegre unter die Lupe genommen, die auch nach fast 20jähriger Praxis noch immer als Prototyp der Bürgerbeteiligung an der kommunalen Haushaltsplanung gilt. Die Untersuchung bestätigte der brasilianischen Hauptstadt Erfolg bei der wirtschaftlichen Entwicklung unterprivilegierter Stadtquartiere. Gleichzeitig machte sie auf eine Problematik aufmerksam, die für alle Bürgerhaushalte Bedeutung besitzt.

Instrument von Armutsbekämpfung und Bürgermitwirkung in Puerto Alegre war von jeher der kommunale Investitionshaushalt und damit die bauliche Infrastruktur. Es ging um die Ausstattung mit Wasserversorgung und Entwässerung, um die Einrichtung von Gewerbegebieten, um den Bau von Krankenhäusern und Kindergärten. Doch der globale gesellschaftliche Wandel in Richtung einer Ökonomie der Dienstleistung schafft neue Armutsrisiken und damit auch neue Herausforderungen für die kommunale Haushaltsplanung. Die Studie hat nachgewiesen, dass Puerto Alegre nicht erfolgreicher ist als andere Städte, wenn es um die Handhabung der laufenden Kosten geht. Der Erhalt und erfolgreiche Ausbau der sozialen neben der baulichen Infrastruktur braucht Sichtweisen, die sich aus der bisherigen Praxis des Bürgerhaushalts nicht ableiten lassen.

Eine verlässliche Gesundheitsversorgung ist etwas anderes als der Bau eines Krankenhauses, und Investitionen in Bildung und Erziehung lassen sich mit dem herkömmlichen Verständnis von Investition nicht bewältigen. Auch die üblichen Sparappelle greifen ins Leere, wenn es um die zukunftsfähige Neuorientierung öffentlicher Haushalte geht. Die derzeitige Finanz‑ und Wirtschaftskrise hat einmal mehr gezeigt, dass Mainstream‑Ökonomen ratlos sind, wenn ihr Denkgebäude Risse zeigt. Gleichzeitig bezweifelt niemand, dass die Linderung der Nöte öffentlicher Daseinsvorsorge ohne strukturelle Reformen eine Utopie bleiben wird. Sparmaßnahmen zu Lasten von Lebensqualität und Chancengerechtigkeit in der Gegenwart beeinträchtigen die Wohlfahrt künftiger Generationen nicht weniger als ein stetig wachsender Schuldenberg, der irgendwann einmal abgetragen werden muss.

Sensibilität für Gender-Fragen eröffnet neue Sichtweisen

In deutschen Bürgerhaushalten haben Frauen – wenn überhaupt – bisher in erster Linie als Zielgruppe Aufmerksamkeit erregt. Sie stehen im Ruf, sich vor allem an niederschwelligen Verfahren zu beteiligen. Beliebt ist der Verweis auf die online-Befragung zum Hamburger Haushalt im Mai 2006, bei der nur 15 Prozent der Voten von Frauen stammten. Die eingesammelten Sparvorschläge repräsentierten folgerichtig eher männliche Präferenzen. Gekürzt werden sollte vor allem in den Bereichen Kultur, Soziales und Familie.

Obwohl Gender-Fragen nicht im Mittelpunkt der erwähnten Studie zum Bürgerhaushalt in Porto Alegre stehen, bieten einige Informationen Brücken zum Weiterdenken. Bekannt ist, dass Frauen, ohne als irgendwie benachteiligte Zielgruppe beworben worden zu sein, in den Versammlungen von Anfang an gleichgewichtig das Wort ergriffen. Sie taten sich vor allem in denjenigen Bereichen hervor, die ihrem privaten und beruflichen Alltag am nächsten waren (Arbeitsgruppen zum Thema Gesundheit bestanden z.B. zu ⅘ aus Frauen). Zum ersten Mal überstieg 2005 die Anzahl der insgesamt am Bürgerhaushalt teilnehmenden Frauen die der Männer. Interessant ist vor allem, dass sie auch in den zeitaufwändigeren Beratungsgremien die Mehrheit übernahmen. In den Focus traten vor allem Frauen ohne Männer (unverheiratet, geschieden, allein erziehend, verwitwet).

Die AutorInnen der Studie halten es für erwähnenswert, dass Gender-Fragen im Bürgerhaushalt von Puerto Alegre offiziell niemals eine Rolle spielten. Demnach waren es ‚private’ Impulse, die Frauen dazu motivierten, in wachsendem Ausmaß Verantwortung zu übernehmen. Solche Befunde decken sich mit Erfahrungen aus anderen Regionen und Kulturen. Überall dort, wo es um ‚Well-Being’, ⅾ.h. um Lebensqualität, Versorgung, personennahe Dienstleistung und sozialen Zusammenhalt geht, melden sich Frauen öffentlich zu Wort. Auch die Hamburgerinnen machen hier keine Ausnahme. Mit einem Anteil von 60 Prozent stellten sie 2005 die Mehrheit derer, die im Rahmen einer Online-Befragung zum Thema ‚Familienfreundlicher Wohnort Hamburg’ kreative Vorschläge einreichten.

Frauen markieren die Bruchstellen des globalen Gütermarkts

Es wäre töricht, Gräben zwischen Frauen und Männern auszuheben, wo es um Wege aus den Krisen der Gegenwart geht. Entgegen der verbreiteten Meinung, Gender Mainstreaming sei eine gegen Männer gerichtete Strategie, schlägt das Gender Budget Schneisen in das Geflecht einer Ökonomie, deren Parameter sich vorrangig am Wachstum von materiellem Wohlstand orientieren.

Die jüngsten Befunde zum Bürgerhaushalt in Puerto Alegre kennzeichnen eine Entwicklung, bei der es um die Sicherung des Gemeinwohls unter veränderten Bedingungen geht. Frauen repräsentieren dabei die weißen Flecken in der Topografie des ökonomischen Theoriehorizonts, der über viele Jahrhunderte im patriarchalen Ernährerhaushalt verwurzelt war. Die Versorgung von Kindern und Alten im Haushaltsinneren oblag den weiblichen Familienmitgliedern, ohne dass ihrer Tätigkeit Arbeitscharakter zukam. Unter diesen Umständen ist es bis heute nicht gelungen, die Bedeutung des personennahen Bereichs für die Marktökonomie zufriedenstellend darzulegen.

Unter den Voraussetzungen des 21. Jahrhunderts wollen und müssen Frauen eigenes Einkommen erzielen, das oft gleichzeitig Grundlage des Familieneinkommens ist. Sowohl die Arbeitsmärkte als auch die Orientierungen und Fähigkeiten von Männern und Frauen sind jedoch noch immer den alten Strukturen verhaftet. Die Friktionen, die daraus entstehen, müssen von allen, gegenwärtig jedoch vor allem von Frauen und Kindern bewältigt werden.

In keinem anderen Projekt der Moderne wird die Verschränkung zwischen dem steigenden Bedarf an personenbezogenen Diensten, den Lebenschancen von Familien und innovativen Konzepten öffentlichen Wirtschaftens sichtbarer als im Bürgerhaushalt des 21. Jahrhunderts. Dienstleistungen, die nicht unbezahlt erbracht werden, leiden an der sog. Kostenkrankheit, weil sich ihre Arbeitsproduktivität im Vergleich zu Marktgütern wenig steigern lässt. Wo immer gespart werden muss, ist die Versuchung groß, personennahe Dienste dem Rotstift auszuliefern, weil sie zu teuer erscheinen und ihre Erträge nicht kalkulierbar sind.

Aus diesem Grund ist es unabdingbar, Gender-bezogene Fragestellungen in die Konzeption und Auswertung von Bürgerhaushalten einzubeziehen. Kommunale ‚Konsumausgaben’ geraten schneller ins Visier von Sparbeschlüssen als Investitionen in prestigeträchtige Bauten oder Gewerbegebiete. Es wird nicht immer gesehen, dass es dabei auch um Arbeitsplätze von Frauen und Männern geht und um die Sicherung von Versorgungsstrukturen innerhalb und außerhalb der Familien.

Die Expertengruppen des Europarats, die über Gender Mainstreaming und Gender Budgeting nachgedacht haben, waren sich der Reichweite ihrer Konzepte bewusst. Sie zweifelten nicht daran, dass es nicht nur um die Korrektur von Unebenheiten im Geschlechterverhältnis ging, sondern um die Anpassung der Wirtschaftsweise des Industriezeitalters an neue Herausforderungen.

Denkstrukturen und Verfahrensweisen, deren Tauglichkeit für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung bisher nicht infrage standen, müssen angepasst werden, wenn für die Probleme des 21. Jahrhunderts konstruktive Lösungen gefunden werden sollen.

Fussnoten

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