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Sind online-gestützte Bürgerhaushalte "antidemokratisch"?

Redaktion Netzwerk Bürgerhaushalt

/ 4 Minuten zu lesen

Jens Weiß, Professor für Verwaltungswissenschaften an der Hochschule Harz, sieht Beteiligungsverfahren von Bürgerinnen und Bürgern im Internet kritisch. In seinem Artikel „Wer rettet die Demokratie vor der E-Partizipation?“ nennt er Gründe dafür, warum Bürgerhaushalte und Co. die Demokratie nicht fördern, sondern sie schwächen.

Jens Weiß, Professor für Verwaltungswissenschaften an der Hochschule Harz, sieht Beteiligungsverfahren von Bürgerinnen und Bürgern im Internet kritisch. In seinem Artikel Externer Link: "Wer rettet die Demokratie vor der E-Partizipation?" (erschienen in der Zeitschrift "Verwaltung & Management" 06/2013) nennt er Gründe dafür, warum Bürgerhaushalte und Co. die Demokratie nicht fördern, sondern sie schwächen.

Beteiligungsverfahren im Internet seien "en vogue", stellt Weiß zu Beginn seines Artikels fest und beschreibt damit die wachsende Zahl solcher Verfahren in den letzten Jahren, darunter auch Bürgerhaushalte. Denn: Die allermeisten Bürgerhaushalte in Deutschland nutzen heutzutage vorwiegend das Internet als Beteiligungskanal (siehe Statusbericht 2013 von buergerhaushalt.org). Laut Prof. Dr. Weiß seien die Hauptargumente für solche E-Partizipationsverfahren die Verbesserung der Qualität demokratischer Entscheidungen und die Reaktivierung politikverdrossener Bürgerinnen und Bürger. Doch für den Wissenschaftler der Hochschule Harz werfen diese Argumente Fragen auf:

Hilft E-Partizipation gegen "Politikverdrossenheit"?

Für Weiß ist eine positive Entwicklung politischer Beteiligung aufgrund von E-Partizipationsangeboten nicht gegeben. So schreibt er: "Eine Reduzierung der Politikverdrossenheit in unterprivilegierten bzw. unterrepräsentierten Milieus ist durch elektronische Partizipationsverfahren nicht zu erwarten, im Gegenteil". Mehr noch: Er konstatiert gar eine Verstärkung der Politikverdrossenheit in bestimmten Bereichen der Gesellschaft: Seiner Meinung nach erhöhen elektronische Partizipationsverfahren die Zugangshürden politischer Beteiligung. Neben Hürden, die allgemein für politische Beteiligung gelten – darunter ein Wille zur Beteiligung und die Verfügbarkeit bestimmter zeitlicher und kognitiver Ressourcen, kämen durch den Einsatz des Internets kämen weitere Anforderungen wie etwa „spezifisches Wissen“ und besondere "technische Voraussetzungen" hinzu. Diese wachsenden Anforderungen an politische Beteiligung resultieren demnach laut Weiß eher in einer Verstärkung von Politikverdrossenheit. Besonders unterprivilegierte Teile der Gesellschaft würden auf diese Weise von der Beteiligung ausgeschlossen bzw. sie beginnen sich selbst von der Beteiligung abzuwenden. Sein Fazit lautet deshalb: "Im Allgemeinen wird Unterrepräsentation und mangelndes Verständnis von und für Beteiligungsmechanismen die Politikverdrossenheit noch verstärken".

Verbessert E-Partizipation die Qualität der Demokratie?

Der Autor verweist an dieser Stelle auf wissenschaftliche Erkenntnisse im Bereich des kollektiven Handelns und der Repräsentation schwacher Interessen. Deren Befunde zeigen: "Kleine Gruppen mit starken Interessen und hinreichenden Ressourcen können sich real wie virtuell in der Regel relativ gut organisieren". Auf diese Weise können sie sich durchsetzen gegen große, ressourcenschwache und dadurch schwer mobilisierbare Gruppen. Sichtbar werde dies, so hebt Weiß hervor, etwa durch die Themen, die bei Onlinebeteiligungen zur Debatte stehen. Meist seien dies eben nicht die Themen der Unterprivilegierten. Dadurch, dass diese Gruppen nicht in den Verfahren repräsentiert sind und ihre Themen nicht auf der Agenda stehen, bezeichnet Weiß E-Partizipationsverfahren gar als "antidemokratisch".

Wer integriert die Vielfalt der Meinungen?

Für Weiß steht fest: Die Integration von Meinungen ist notwendigerweise Aufgaben einer Moderation. Ihr komme die Aufgabe zu, die meist wenig konsensorientierten und demokratischen Diskussionen im Internet unparteiisch zu ordnen. Generell sei jedoch zu fragen, ob in einer Online-Beteiligung überhaupt ein Ergebnis erzeugt werden kann, mit dem am Ende eine Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zufrieden ist. Ist dies nicht der Fall, so würde die E-Partizipation nicht, wie von Befürwortern angenommen, die Legitimation politischer Entscheidungen erhöhen. "Statt eines integrativen und legitimationsfördernden Online-Diskurses würde sich eine virtuelle Welt unverbundener, differenzierter und vermutlich auch sehr widersprüchlicher […] Communities herausbilden".

Ausgehend von diesen Überlegungen hebt der Autor hervor, dass diese demokratietheoretischen Probleme der E-Partizipation bisher in der Praxis wenig Beachtung gefunden hätten. Er fasst zusammen: "In der Summe wirken die derzeitigen Online-Partizipationsverfahren demokratietheoretisch naiv". Es sei problematisch, die wachsende Beliebtheit solcher Verfahren als eine "Stärkung der Demokratie" zu interpretieren.

Dann lenkt der Verwaltungswissenschaftler den Blick noch auf einen ganz anderen Aspekt: Die kommerzielle Seite der E-Partizipation. Er kritisiert, dass zunehmend kommerzielle Interessen bei der Einführung von E-Partizipationsverfahren einer Rolle spielen würden. Das sei ein "großer Schritt zur Ökonomisierung der Demokratie".

Mindestkriterien für die Praxis von E-Partizipation

Zum Abschluss formuliert der Autor Mindestkriterien für die Praxis von E-Partizipationsverfahren. Hier eine Auswahl:

  • "Bereits in der Phase des Agenda-Settings, also der Auswahl von Themen für Partizipationsverfahren, muss die adäquate Repräsentation unterprivilegierter Milieus gesichert sein."

  • "Im Verfahren müssen Maßnahmen zur Mobilisierung unterrepräsentierter Interessen vorgesehen sein."

  • "Ist abzusehen, dass aufgrund von großen Unterschieden in der Verfügung über Ressourcen, bestimmte Gruppen z.B. durch Public-Relations-Kampagnen überproportional Einfluss nehmen werden, […] so sollte auf das Verfahren verzichtet werden. Alternativ könnte ein Veto-Recht für die unterprivilegierten Gruppen vorgesehen werden."

Folgt man Weiß, so wäre die logische Konsequenz für online-gestützte Bürgerhaushalte wohl auf den ersten Blick: abschaffen. Ob Weiß so weit gehen würde, bleibt in seinem Artikel offen. Immerhin formuliert er eine Reihe von Mindestkriterien, die darauf hinweisen, dass er doch noch Hoffnung für die Online-Partizipation sieht. Die Folgefrage an dieser Stelle wäre: Wenn nicht im Netz, wo dann? Gibt es ein Medium, dem Weiß die Eignung zur Erreichung schwer erreichbarer Zielgruppen bescheinigen würde? Kann überhaupt ein einzelnes Beteiligungsinstrument dieses Ziel erreichen? Diese Fragen und Weiß‘ Argumente gilt es weiter zu diskutieren, wenn E-Partizipationsverfahren im Allgemeinen und Bürgerhaushalte im Spezifischen eine Zukunft haben sollen.

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