"Früher war alles besser..."
Früher war alles besser, möchte man fast glauben, wenn man "die Älteren" so reden hört. Weniger Gewalt, mehr Engagement, "Pflichtbewusstsein", statt "Immer nur Spaß haben wollen".
Früher war alles besser, möchte man fast glauben, wenn man "die Älteren" so reden hört. Weniger Gewalt, mehr Engagement, "Pflichtbewusstsein", statt "Immer nur Spaß haben wollen", und "wenn wir uns mal geprügelt haben und einer lag am Boden, dann haben wir dem wieder aufgeholfen und nicht noch mit zwanzig Mann draufgetreten wie die heute". Moderne Mythen. Modern allerdings nur in der thematischen Fokussierung. Aus dem Blickwinkel der Älteren war die gerade aktuelle Jugend schon immer die schlimmste, dümmste, respektloseste etc. – nur noch übertroffen durch die demnächst folgende, die garantiert noch schlimmer, dümmer, respektloser etc. ausfallen wird. So sahen Beobachter bereits in den frühen 60er-Jahren die Jugend fest im Griff der "Konsum- und Kulturindustrie". Die Folge: "Gelegentliche Formen des Ernstes und der Sammlung erweisen sich als Ausnahmen", stelllt Friedrich Tenbruck in seinem Standardwerk "Jugend und Gesellschaft" fest. Die Jugend im Eventtaumel:
"Unstetigkeit, Impulsivität und Unsicherheit gelten herkömmlich als jugendliche Merkmale. Sie blieben jedoch früher Einsprengsel innerhalb umfassenderer Verhaltensstrukturen von größerer Festigkeit. Bei der modernen Jugend herrschen sie vor. Labilität und Gestaltlosigkeit sind Kennzeichen des normalen jugendlichen Verhaltens geworden. Das zeigt sich sinnfällig schon an den in Musik, Tanz, Sprache, Umgang gepflegten Formen. Zu dem Formverlust gesellt sich ein Erlebnisdrang, der ebenso sinnfällig an den Mitteln und Inhalten der Unterhaltung, der Freizeit und des Umgangs hervortritt. Auch hier ist die Radikalisierung unverkennbar. Aus dem Hunger nach dem bewegenden Erlebnis, der Teile der europäischen Jugend bereits um die Jahrhundertwende erfasst hatte, ist der Traum geworden, das Leben als eine bloße Folge von Ereignissen zu verbringen" (Tenbruck 1962, S. 47f.).
"Wenn nicht ein grundsätzlicher Wandel eintritt, kann eine Umkehrung des Machtverhältnisses der Generationen in naher Zukunft die Folge sein, zumal bei der älteren Generation teilweise schon deutliche Anzeichen der Resignation und Kapitulation vor der neuen Jugendmacht festzustellen sind", versuchte neun Jahre später der 29-jährige Horst Opaschowski (1971, S. 34) die Alten vor seiner eigenen Generation zu warnen und dokumentierte in seinem erschütternden Report "Der Jugendkult in der Bundesrepublik" schauerliche Fallbeispiele einer entarteten Jugend: "Wussten Sie schon,
- dass der Protest-Sänger Bob Dylan die Losung ausgab: "Trau keinem über 30";
- dass ein 25-köpfiges Gremium 14 bis 21-jähriger Jugendlicher ("Jugendrat") das Recht hat, in allen "gesamtpolitischen Interessen und Bedürfnissen" der Jugend Anträge an den Stadtrat der Stadt Nürnberg zu stellen, über die innerhalb von drei Monaten beraten werden muss;
- dass sich 1968 westdeutsche Schülerzeitungsredakteure in Bad Lauterberg versammelten und dafür plädierten, Leute über 60 einzuschläfern ..." (a.a.O., S. 15f.).
- die Glorifizierung und Verschönerung der eigenen Jugendzeit bei gleichzeitiger Verdrängung der eigenen Fehltritte;
- Konkurrenzgefühle und Neid nicht nur im Wettstreit um die schwindenden materiellen Ressourcen: In einer Gesellschaft, in der Jugend zum Kult erhoben wird und Ältere mangels einer eigenen Lebensstilidentität nur die Wahl haben zwischen jung oder peinlich, signalisieren reale Jugendliche, dass man selbst nicht mehr dazugehört, so sehr man sich auch anstrengt, "jung" zu bleiben. "Hinter dem Jugendkult der Erwachsenen verbergen sich unterschwellige Gefühle des Lebensneides. Was sie in ihrer Jugend mit Mühen aufgebaut und geschaffen haben, kostet die heutige Jugend nun ganz selbstverständlich aus. Sie müssen täglich mitansehen, wie die Jugend ihr Jungsein erlebt und genießt; sie fühlen sich betrogen. Hinter ihren oft massiven Klagen über die heutige Jugend verstecken sich Traurigkeit und Bitterkeit darüber, dass sie eine bedauernswert "normale Jugend verlebt haben. Ihr verständlicher Wunsch, sich wenigstens heute die Privilegien des Jungseins zurückzuholen, bleibt unerfüllt. Je mehr sie ihrer verlorenen Jugend nachlaufen, umso mehr tragen ihre vergeblichen Versuche die Züge einer Zivilisationsneurose, die die Jugendlichen nur noch jünger und die Erwachsenen älter erscheinen lässt" (Opaschowski 1971, S. 46).
Literatur
Griese, Hartmut M.: Chancen und Risiken in Kindheit und Jugend. In: Gernert/Janssen (Hrsg.) 2000, S. 26 – 40.
Hitzler, Ronald/Bucher, Thomas/ Niederbacher, Arne: Leben in Szenen. Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute. Opladen 2001.
Opaschowski, Horst W.: Der Jugendkult in der Bundesrepublik. Düsseldorf 1971.
Roth, Roland: Globalisierungsprozesse und Jugendkulturen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 5/2002. Bonn 2002, S. 20 – 27.
Scholz, Leander: Schuld hat, wen es trifft. Ein paar Anmerkungen zum Verteilungs- kampf zwischen Jung und Alt. In: Freitag vom 10. Januar 2003, S. 16.
Tenbruck, Friedrich H.: Jugend und Gesellschaft. Freiburg im Breisgau 1962.