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Rapper´s Delight | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Rapper´s Delight

Klaus Farin

/ 4 Minuten zu lesen

Fast zehn Jahre spielte sich HipHop ausschließlich in wenigen schwarzen Vierteln von New York ab, eine Straßenkultur, unbeachtet vom Rest der Welt – noch.

Von der Straße bis zum Mainstream: Rap-Urgestein Ice-T. (© AP)

"Die Partys in den Häuserblocks, den Parks, manchmal den leerstehenden Wohnungen, dann auch zunehmend in den Schulen und Gemeindezentren machten Rap bekannt, brachten die MCs und DJs mit ihren fahrbaren Verstärkeranlagen. Diese Sound-Systeme wurden immer stärker, der Wettbewerb schärfer, einige MCs zu lokalen Stars, die zunehmend auch Gagen für ihre Auftritte nahmen und Mitschnitte ihrer Raps auf Kassetten verkauften. Der Sprung in den angemieteten Tanzsaal in der Bronx war der nächste Schritt in die Kommerzialisierung. Größere Tanzsäle waren von der Musikergewerkschaft für Orchester reserviert, doch das ließ sich durch Bestechung umgehen. Immer größere Säle, Mieten, Gagen waren die Folge, bis jemand in New Jersey eine Gruppe zusammenstellte, um den Schallplattenmarkt zu testen" (Karrer 1995, S. 35).

Niemand in der Bronx kannte "Wonder Mike", "Master G." und "Hank The Imp" oder hatte sie jemals auf einer der vielen Ghetto-Partys auftreten sehen. Sie waren nicht einmal DJs, sondern offensichtlich nur eine Studioband. Doch zum Entsetzen der DJs und MCs aus der Bronx verkaufte sich "Rapper´s Delight" von der Sugarhill Gang sofort mehr als zwei Millionen Mal. Der erste Schock dauerte nicht lange und die Rapper erkannten ihre eigene Chance. "Als ich "Rapper´s Delight" hörte, dachte ich: "Scheiße, das kann ich auch." Und ich hab´s probiert", beschreibt Ice-T in seiner Autobiografie "Who gives a Fuck?" die Anfänge seiner Rapper-Karriere (S. 120). Die Veröffentlichung der ersten Rapsingle aller Zeiten bedeutete einen epochalen Einschnitt in der Geschichte der Musikkulturen: Konnte DJ-Musik bis dahin nur live, im Rahmen eines einmaligen, ortsgebundenen Ereignisses erlebt werden, bei dem das Publikum selbst als Resonanzkörper eine bedeutende aktive Rolle einnahm, so konnte der auf Vinyl gepresste Sound nun an jedem Ort von jedem Publikum - auf einer Party ebenso wie alleine vor dem Radio sitzend - konsumiert und jederzeit in der exakt gleichen Form wieder aufgerufen werden. Die DJ-Musik begibt sich damit auf den Weg von der Ereignis- zur bloßen Konsumkultur, die Botschaften des Rap erreichen nun millionenfach die Ohren von Jugendlichen, die den sozialen Kontext der Entstehungsgeschichte des Rap nicht kennen bzw. nicht nachvollziehen können, weil sie niemals in ihrem Leben einen Fuß in die realen Ghettos gesetzt hatten. Filme wie "Wild Style" (1982, Regie: Charlie Ahearn), "Beat Street" (1984, Regie: Harry Belafonte/David Picker), "Style Wars" (1982, Regie: Henry Chalfant/Toni Silver) oder "Breakin" (1984, Regie: Jod Silber) trugen die bunten Identitätssymbole New Yorker Graffitisprayer und die Fitnesskunst jugendlicher B-Boys (Breakdancer) auch in bundesdeutsche Jugendklubs, wo die selbstbewusste Bilder- und Körpersprache der afroamerikanischen bzw. lateinamerikanischen Straßenkids vor allem bei hierzulande ebenfalls sprachlos belassenen Einwandererjugendlichen ein euphorisches Echo auslöste. Und ebenso bei ihren Sozialarbeitern, sahen diese in der HipHop-Kultur doch eine wunderbare Chance, den Sprachlosen eine Stimme, den Marginalisierten Selbstbewusstsein durch kreative (und nicht gewaltförmige) Aktivitäten zu geben - ein nicht zu unterschätzender Einflussfaktor bei der folgenden Popularisierung von HipHop unter westdeutschen Migrantenjugendlichen.

Denn längst flüchteten auch türkische, kurdische, arabische... Jugendliche aus den beengten Wohnungen und häufig kaputten und gewalttätigen Familienverhältnissen auf die Straße, vor Arbeitslosigkeit und dem immer häufiger erfahrenen Chauvinismus der Deutschen in harte Drogen, Kriminalität und Gangwars. Die HipHop-Kultur gab vielen dieser Jugendlichen eine neue Heimat, eine alternative Form, Anerkennung zu gewinnen, Wünsche, Ängste und Forderungen loszuwerden. Kein Wunder, dass sich überall in Deutschland Jugendzentren in Graffiti- und Breakdance-Werkstätten verwandelten.

Zum ersten Mal war da eine Musik, die sowohl von den eigenen Alten als auch der deutschen Mehrheitsgesellschaft abgelehnt wurde, eine Musik, die selbst in der plattesten Macho-Gangster-Rap-Version immer noch mehr Realität getankt hatte als Michael Jackson und Madonna. "Pop is was für kostgänger der illusion", spuckt der Rapper Abdurrahman (24) voller Verachtung aus. "Bruder, den pop hab ich gefressen, so wahr wie mir nach kümmel is, nix übrig hab ich für´s flachgepfiffene, ich will da nicht "n abgetragenes kleid tragen, bloß weil´s null kostet. Und ich will, weil ich ne reale größe bin, nen realen anlasser, der mich auf touren bringt und "n bild von mir gibt, das rein und kraftvoll is. Ich hör´s liebesgedudel auf allen frequenzen: "o, ich bin so allein, komm mich doch balde frein" oder "du gehst fort, und ich denk an mord" und so weiter. Was in gottes namen hat dieser dreck mit mir zu tun, was hab ich kanake mit diesem dreck zu schaffen..." (Zaimoglu 1995, S. 19f.).

Standen bei den US-Rappern neben dem Standardrepertoire aus Sex & Crime noch soziale Probleme, der Ausschluss vom materiellen Reichtum der Gesellschaft im Vordergrund, so identifizierten sich die Einwandererjugendlichen in Deutschland vor allem mit der unmissverständlichen antirassistischen Message. Doch nach und nach strömten auch weiße Kids herbei, die weder das eine noch das andere aus persönlichem Erleben kannten und gerade deshalb auf diesen exotischen Ghetto-Thrill, gepaart mit absoluter Coolness, abfuhren.

Quellen / Literatur

Ice-T mit Heidi Siegmund: Ice-T: Who gives a Fuck? München 1995.

Karrer, Wolfgang: Rap als Jugendkultur zwischen Widerstand und Kommerzia- li- sierung. In: Gulliver 38, Berlin/Hamburg 1995, S. 21 - 44.

Zaimoglu, Feridun: Kanak Sprak. 24 Miss- töne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg 1995.

Fussnoten

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ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.