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Piratenpartei Deutschland | Parteien in Deutschland | bpb.de

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Piratenpartei Deutschland PIRATEN

Jörg Hebenstreit Dr. Tim Niendorf

/ 9 Minuten zu lesen

Vom der Netzpolitik aus haben sich die PIRATEN seit 2006 zu einer Mehr-Themen-Partei gewandelt. 2011 und 2012 konnten sie in mehrere Landtage einziehen, diese Erfolge aber seitdem nicht wiederholen.

Die Fraktion Piratenpartei im September 2011 im Abgeordnetenhaus in Berlin. (© picture-alliance/dpa)

Entstehung und Entwicklung

Wie in Schweden wurde auch die deutsche Piratenpartei als Ein-Themen-Partei gegründet, die ihre politische Expertise auf Fragen der Netzpolitik (v.a. Urheberrecht) beschränkte. Von der Gründung der Piratenpartei am 10. September 2006 mit 53 Gründungsmitgliedern nahm außerhalb der Netzgemeinde in Deutschland kaum jemand Notiz (Niedermayer, 2013b:32). Erst mit Bekanntwerden des von der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen vorgestellten "Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen" (kurz: Zugangserschwerungsgesetz) und der damit im Netz ausgelösten "Zensursula"-Kampagne wurde die Piratenpartei in Deutschland im Januar 2009 weithin bekannt. Zu diesem Zeitpunkt war die Partei seit Ende 2007 in der Mehrheit der deutschen Bundesländer mit eigenen Landesverbänden vertreten und hatte sich im Januar 2008 auch an der ersten Wahl beteiligt: Bei der Landtagswahl 2008 in Hessen scheiterten die Piraten jedoch mit 0,3 Prozent klar an der parlamentarischen Zugangshürde. Nach der Diskussion um Netzsperren und vor der Europawahl im Frühsommer 2009 schärfte die Partei dennoch zusehends ihr politisches Profil und erreichte in Deutschland bei der Wahl zum Europäischen Parlament 0,9 Prozent der Stimmen. Vor der Bundestagswahl im selben Jahr erreichten die Piraten bei der Landtagswahl in Sachsen mit 1,9 Prozent der Stimmen zudem ihr bis dahin bestes Ergebnis. Im September setzten die Piraten den Trend auf Bundesebene mit 2,0 Prozent der Wählerstimmen fort, obwohl sie über nur minimale finanzielle Ressourcen verfügten, die einen breit angelegten Offline-Wahlkampf unmöglich machten. Trotz der Rücknahme des Zugangserschwerungsgesetzes durch die schwarz-gelbe Koalition, parteiinternen Personal- und Programmstreitigkeiten sowie eine nachlassende mediale Präsenz der Piraten, gelang es ihnen, auch bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 mit 1,6 Prozent der Stimmen ein ähnliches Ergebnis zu erreichen. Der Wachstumskurs war aber vorerst gebremst, auch die Mitgliederzahlen stagnierten. (Wagner, 2012:72f.).

Mit Ergebnissen zwischen 1,4 Prozent und 2,1 Prozent der Stimmen bei den Landtagswahlen im Frühjahr 2011 (Hamburg, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Bremen) starteten die Piraten auf ähnlichem Niveau in das "Superwahljahr" 2011. Auch bei der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern Anfang September erreichten sie 1,9 Prozent der Wählerstimmen. Deutlich erfolgreicher war die Partei dann bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl Mitte September 2011: Mit 8,9 Prozent der Stimmen gelang den Berliner Piraten der Durchbruch auf landespolitischer Ebene. Vertreten durch 15 Mandate, war die Piratenpartei fortan erstmals in einem deutschen Landesparlament vertreten. Diesen positiven Trend bestätigte die Piratenpartei auch im Folgejahr bei der Landtagswahl im Saarland, wo sie mit 7,4 Prozent der Stimmen (vier Mandaten) den Sprung ins Parlament schaffte. Begünstigt durch eine überzeugende Spitzenkandidatin Jasmin Maurer, das umstrittene ACTA-Abkommen und dem implizit feststehenden Wahlausgang (CDU und SPD einigten sich schon vor dem Wahltag auf eine Große Koalition), waren die Piraten landespolitisch ab Januar 2012 somit auch in einem Flächenstaat vertreten. Gleiches gelang ihnen bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein im Mai 2012 (8,2 Prozent der Stimmen und 6 der 69 Parlamentssitze) und nur eine Woche später, am 13. Mai 2012, bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen (7,8 Prozent der Stimmen und 20 der 237 Parlamentssitze). Diese vier Landtagswahlen markieren den Höhepunkt des politischen Erfolgs der Piratenpartei Deutschland.

Nachdem die Piratenpartei in den Jahren 2011 und 2012 den Einzug in insgesamt vier Landesparlamente geschafft hatte, scheiterte sie seitdem bei allen Landtagswahlen an der Fünfprozenthürde. Auch bei den Bundestagswahlen 2013, 2017 und 2021 (2,2, 0,4 und 0,4 Prozent der Stimmen) sowie den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 und 2019 (1,4 bzw. 0,7 Prozent der Stimmen, jeweils ein Europaparlamentsmandat) fuhr die Partei ein vergleichsweise ernüchterndes Ergebnis ein. Damit verfehlte die Partei auch das selbst gesteckte Ziel, die in den Jahren 2011 und 2012 gewonnenen Mandate in den vier Landesparlamenten fünf Jahre später zu bestätigen. Ein Blick auf die Landtagswahlergebnisse verdeutlicht zudem, dass die Partei seit dem Jahr 2014 die 2-Prozent- sowie seit 2018 die 1-Prozent-Marke nicht mehr überwinden konnte.

Von Demoskopen wird die Partei bei Meinungsumfragen schon seit Längerem nicht mehr eigens ausgewiesen. Auch an den Slogans der Piraten in verschiedenen Wahlkampagnen lässt sich der Niedergang ablesen: Hatte die Partei in den Landtagswahlkämpfen 2012 noch mit dem Slogan "Fertigmachen zum Entern" geworben, warb man auf den Plakaten in Schleswig-Holstein 2017 selbstironisch mit den Worten: "Totgesagte leben länger". Der Fraktionsvorsitzende der Partei im Saarland warnte vor der Wahl sogar, dass jede Stimme für seine Partei verschenkt sei.

Die Piraten sind aktuell nur noch mit einem Abgeordneten (Patrick Breyer) im EU-Parlament sowie nach eigenen Angaben mit etwa 130 Mandaten (Stand 09/2021) auf kommunaler politischer Ebene vertreten (Piratenwiki 2021). Maßgeblich beeinflusst wurde diese Entwicklung durch zahlreiche Parteiaus- und Fraktionsübertritte von zum Teil prominenten Parteimitgliedern, innerparteiliche Positions- und Flügelkämpfe, personelle Streitfragen, nicht selten aufgetretene Skandale aber auch der fehlenden Anbindung der Kernthemen an landesspolitische Fragestellungen. Zum Verblassen des Alleinstellungsmerkmals der Piratenpartei hat auch die Aufnahme netzpolitischer und datenschutzrechtlicher Themen in die Parteiprogramme der politischen Konkurrenten beigetragen. Der Politikwissenschaftler Bieber weist zudem darauf hin, dass die Piraten mit dem Aufkommen der Alternative für Deutschland den "Nimbus der bevorzugten Protestpartei" (Bieber 2018:445) verloren haben.

Aktuelle Wahlergebnisse der PIRATEN

Wahlergebnisse bei den letzten Wahlen zu Landesparlamenten, dem Bundestag und dem Europäischen Parlament

Bei nicht aufgeführten Wahlen ist die Partei nicht mit einer Landesliste o.ä. angetreten.
WahlDatumProzentualer AnteilStimmenanzahl
AnteilGewinn
Verlust
StimmenGewinn
Verlust
Europäisches Parlament26.05.20190,7%-0,8%243.302-181.742
Brandenburg01.09.20190,7%-0,8%8.712-5.883
Sachsen01.09.20190,3%-0,8%6.632-11.525
Thüringen27.10.20190,4%-0,7%4.044-5.645
Hamburg123.02.20200,5%-1,0%20.559-34.243
Baden-Württemberg14.03.20210,1%-0,3%2.878-18.897
Rheinland-Pfalz14.03.20210,5%-0,2%10.393-6.315
Sachsen-Anhalt06.06.20210,4%0,4%3.8153.815
Bundestag26.09.20210,4%0,0%169.923-3.553
Mecklenburg-Vorpommern26.09.20210,4%-0,1%3.706-229
Saarland27.03.20220,3%-0,5%1.318-2.661
Schleswig-Holstein08.05.20220,3%-0,8%4.753-12.338
Nordrhein-Westfalen15.05.20220,3%-0,7%19.248-61.532
Niedersachsen09.10.20220,4%0,2%14.2425.793
Berlin27.02.20230,3%-1,4%5.145-23.176
Bremen214.05.20230,2%-0,8%2.184-11.959
Hessen08.10.20230,3%-0,1%8.618-2.999
Tabellenbeschreibung

Die Tabelle zeigt die Wahlergebnisse der Partei PIRATEN zwischen dem 26.05.2019 und dem 08.10.2023. Bei 15 von 17 Wahlantritten der Partei in diesem Zeitraum reduzierte sich der prozentuale Anteil der Partei an den gültigen Stimmen im Vergleich zur vorherigen Wahl. Das höchste Ergebnis erzielte die Partei mit 0,7% bei der Wahl in Brandenburg 2019, das niedrigste mit 0,1% bei der Wahl in Baden-Württemberg 2021.

Fußnote: 1 Hamburg: Landesstimmen (bis zu fünf Stimmen je Wähler)

Fußnote: 2 Bremen: Personen- und Listenstimmen (bis zu fünf Stimmen je Wähler)

Quelle: Die Bundeswahlleiterin und Landeswahlleitungen.

Wählerschaft, Mitglieder- und Organisationsstruktur

Die Wahlerfolge der Piratenpartei der Jahre 2011 und 2012 wurden neben der inhaltlichen Netzaffinität vor allem aufgrund der der Partei anhaftenden Begrifflichkeiten und Einschätzungen wie "unkonventionell", "transparent", "Basisdemokratie" bzw. der Metapher des "frischen Windes" in der Politik getragen. Laut einer Umfrage von Infratest dimap rekrutierten sich die Wähler der Piratenpartei bei der Bundestagswahl 2009 aus Wählern aller Parteien. Ein beachtlicher Teil setzt sich zudem aus früheren Nichtwählern und Erstwählern zusammen (Infratest dimap, 2011 zit. in. Niedermayer, 2013c:64). In einem ebenfalls von Infratest dimap herausgegeben Wahlreport wird zudem deutlich, dass Piraten einerseits signifikant stärker von Männern als Frauen gewählt werden, sowie dass andererseits auch das Alter eine zentrale Einflussvariable darstellt. Die Zahlen verdeutlichen, dass die Piratenpartei ihre Wähler vorwiegend in jüngeren Altersgruppen findet (Infratest dimap, 2009:55ff.).

Mit Blick auf die Schulbildung lässt sich hervorheben, dass Wähler mit Hauptschulabschluss unterdurchschnittlich und Wähler mit mittlerer Reife durchschnittlich für die Piratenpartei gestimmt haben. Der Zuspruch zur Partei war unter Wählern mit Hochschulreife am höchsten, größer als der von Wählern mit abgeschlossenem Hochschulstudium. Die Piraten können zudem nicht nur aus unterschiedlichen Parteilagern, sondern auch unterschiedlichen sozialen Milieus mobilisieren. Während die Stammwählerschaft in Berlin aus einem vorwiegend jungen und netzaffinen Milieu bestand, kann dies für die übrigen Wahlerfolge, wie beispielsweise im Saarland, keinesfalls behauptet werden (Bieber, 2018:444). Neben den angesprochenen Erst-, Jung- und Nichtwählern sind es vor allem gemäßigte Protestwähler, die zur Wahl der Piratenpartei neigen.

Die Mitgliederstruktur der Piratenpartei Deutschland kann generell als sehr heterogen bewertet werden. Dies gilt vor allem mit Blick auf die geografisch-regionale Verteilung der Mitglieder. Traditionell sind die Piraten in den drei Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg stärker vertreten, darüber hinaus aber auch im Saarland und Brandenburg. Absolut betrachtet verfügen die Landesverbände Nordrhein-Westfalen (1481) und Bayern (970) über die meisten Mitglieder (Piratenwiki 2022a). Eine eklatante Spaltung gibt es auch zwischen der Anzahl von registrierten und stimmberechtigten Mitgliedern. Wenn Piratenparteimitglieder länger als drei Monate keine Mitgliedsbeiträge zahlen, werden sie nicht, wie üblich, aus der Partei ausgeschlossen, sondern verlieren lediglich ihr Stimmrecht bei Abstimmungen auf Parteitagen oder im Liquid Feedback, einer freien Software, die die Partei für interne Abstimmungen verwendet. Wenn man die Mitgliederanzahl der Piratenpartei untersucht, ist es deshalb sinnvoller, zu fragen, wie viele stimmberechtigte Mitglieder registriert sind. Momentan gilt dies für 1.954 Piraten (33,5 Prozent der Gesamtmitglieder).

Nachdem die Entwicklung der Mitgliederzahl seit 2006 des Öfteren zwischen Stagnation und explosionsartigem Anstieg wechselte, ist sie seit ihrem Höhepunkt am Jahresende 2012 (ungefähr 34.500 Mitglieder) im fortwährenden Rückgang begriffen. So lag die Mitgliederzahl im Juni 2016 bei 16.821 Mitgliedern, ein Jahr später bei 13.621 Mitgliedern und ging seither noch einmal um 57 Prozent auf 5.826 Mitglieder (Stand: 05/2022) zurück (Piratenwiki 2022a). Zwar gab es sporadisch auch immer wieder Neueintritte, doch am generellen Vorzeichen des Mitgliedersaldos sollte dies nichts ändern. Eine gleichzeitige Mitgliedschaft in einer anderen Partei neben der Piratenpartei ist erlaubt. Aus organisatorischer Sicht handelt es sich bei einem Mitgliederschwund jedoch nicht nur um Mitgliederschwund an sich, sondern immer auch um einen Verlust von Wahlkämpfern, Beitragszahlern, Unterstützern und potentiellem politischen Personal. Als problematisch erwies sich für die Piratenpartei darüber hinaus, dass sich unter den Ausgetretenen immer wieder führende Köpfe der Partei befanden - darunter Politikerinnen und Politiker wie Marina Weisband, Sebastian Nerz, Christoph Lauer, Martin Delius, Anke Domscheit-Berg oder die ehemalige Europaparlamentsabgeordnete (2014-2019) Julia Reda.

Die Organisationsstruktur der Piratenpartei ähnelt derjenigen jeder traditionellen Partei. So ist sie einerseits regional in Bundesverband und mehrere Landesverbände unterteilt und folgt andererseits dem regulären, organhaften Aufbau einer Partei. Landesverbände sind in allen Bundesländern vertreten. Auf regionaler Ebene trifft man sich zu Stammtischen oder organisiert sich in Kleingruppen von fünf bis neun Mitgliedern, sogenannten Crews. Als klassische Parteiorgane sind der Parteivorstand, der Bundesparteitag sowie das Bundesschiedsgericht zu nennen. Der Vorstand auf Bundesebene setzt sich dabei aus dem Vorsitzenden, einem Schatzmeister, dem politischen Geschäftsführer, dem Generalsekretär sowie deren jeweiligen Stellvertretern, insgesamt also aus acht Personen, zusammen. Für das innerparteiliche Kommunikationsmanagement stehen den Piraten unzählige Werkzeuge zur Verfügung: Piratenwiki, Blogs, Podcasts, Echtzeitkommunikation via Twitter und Social Media, Etherpads (Online-Editor zur kollaborativen Bearbeitung von Dokumenten), Mumble (eine Sprachkonferenzsoftware) und die Software Liquid Feedback. Diese, für das Selbstverständnis der Piraten essentielle, Softwareanwendung ermöglicht es durch die Delegation von Stimmen ("delegate voting") einen flüssigen ("liquid") Wechsel zwischen direkter und repräsentativer Demokratie herzustellen (zu den Details siehe Adler 2018: 115-121 und 135-164).

Programmatik

Während die Piratenpartei in ihrer Gründungsphase im Jahr 2006 als klassische Ein-Themen-Partei mit nur einem Themenfokus, dem der Netzpolitik, eingestuft werden kann, hat sie sich seitdem sukzessive zu einer Mehr-Themen-Partei gewandelt. Dies hat starke inhaltliche Auseinandersetzungen und Dispute zwischen Kernis (Befürwortern eines - auf Angelegenheiten der Netzpolitik begrenzten - Kernprogramms) und Vollis (Befürwortern eines Vollprogramms) entstehen lassen und in nicht seltenen Fällen zum Parteiaustritt geführt. Generell kann man die Piraten mit den Worten von Sebastian Nerz, dem ehemaligen Bundesvorsitzenden, als "sozialliberale Grundrechtspartei" (Beitzer 2011) beschreiben. Auch wenn die Partei für Wähler des gesamten politischen Spektrums wählbar sein möchte, muss sie nach Meinung von Neumann dennoch als "linksliberal" (Neumann 2011:184) eingestuft werden. Darüber hinaus könne die Piratenpartei als "Partei der Postmoderne par excellence" (Neumann 2011:187) charakterisiert werden, denn an die Stelle von ideologischen Gewissheiten tritt zusehends eine Pluralität von Wahrheitsansprüchen. Übergeordnete Begrifflichkeiten sind Datenschutz, informationelle Selbstbestimmung, Transparenz, Freiheit im Internet sowie Beteiligung. Traditionellen Formen von Politik steht man skeptisch gegenüber und vertraut eher auf die selbst vorgebrachte Alternative der Liquid Democracy.

Im Bereich der Digitalisierung und Netzpolitik, dem ältesten Teil des Parteiprogramms, fordern die Piraten die Kopierbarkeit als natürliche Eigenschaft von Immaterialgütern, eine Reform des bestehenden Urheberrechts, das nicht zeitgemäß und zu restriktiv sei, die Abschaffung der verdachtsunabhängigen Vorratsdatenspeicherung, die Gewähr für Netzneutralität, eine Abkehr von Biometrie und zentral angelegten Datenbanken, sowie Datenschutz, Privatsphäre und Open Access. Mit Blick auf die Demokratie setzt man auf das Motto von Willy Brandt: "Mehr Demokratie wagen". Dahinter verbirgt sich vor allem ein Mehr an Transparenz und Teilhabe, das mit Hilfe neuerer technischer Ansätze, wie dem der Liquid Democracy, bestehende Pathologien der Demokratie kurieren soll.

In bildungspolitischen Fragen vertritt sie die Grundüberzeugungen, dass Bildung grundsätzlich frei sein sollte und jedem Bürger im Sinne von positiver Freiheit zusteht. Bildungs- und Studiengebühren werden demnach abgelehnt. Darüber hinaus lassen sich ein umfangreiches Kapitel im Bereich der Gesundheitspolitik sowie detaillierte Ausführungen zur Drogen- und Suchtpolitik finden. Das Gesundheitswesen soll über solidarische Beiträge finanziert werden. Ebenso werden Prävention und die Inklusion von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen hervorgehoben. Im Bereich der Gesellschaftspolitik soll das Recht auf freie Selbstbestimmung gelten - Beziehungsmodelle dürften vom Staat genauso wenig reguliert oder bevorzugt werden wie Familienmodelle. Pluralismus und gesellschaftliche Vielfalt werden strikt betont, weswegen auch Migration explizit als Bereicherung für das gesellschaftliche Zusammenleben betrachtet wird.

Lange Zeit war die Wirtschaftspolitik eine große Leerstelle, was allen voran an der nicht gewollten Positionierung im Links-Rechts-Spektrum lag - in den aktuellen Programmen wurde diese Lücke jedoch gefüllt. Neben der nachdrücklichen Forderung eines bedingungslosen Grundeinkommens kann man aus dem Parteiprogramm aber eine prinzipielle Befürwortung der sozialen Marktwirtschaft herauslesen. Ebenso wird betont, dass Wirtschaftspolitik nicht gleich Wachstumspolitik sei. (Piratenwiki 2022b).

Quellen / Literatur

Monographien und Sammelbände

  • Adler, Anja, Liquid Democracy in Deutschland. Zur Zukunft digitaler politischer Entscheidungsfindung nach dem Niedergang der Piratenpartei (= transcript Edition Politik, Bd. 59), Bielefeld 2018.

  • Beitzer, Hannah, Piraten erklären, was Piratenpolitik ist, in: Süddeutsche Zeitung vom 05.10.2011, abgerufen am 27.02.2015.

  • Bieber, Christoph, Die Piratenpartei, in: Decker, Frank/ Neu, Viola (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, 3. überarb. und erw. Aufl., Wiesbaden 2018, S. 443-448.

  • Infratest dimap, Wahlreport. Bundestagswahl 27. September 2009, Berlin 2009.

  • Neumann, Tobias, Ein Blick nach innen. Das Selbstverständnis der Piraten, in: Niedermayer, Oskar (Hrsg.), Die Piratenpartei, Wiesbaden 2013, S.125-148.

  • Niedermayer, Oskar (Hrsg.), Die Piratenpartei, Wiesbaden 2013a.

  • Niedermayer, Oskar, Die Piraten im parteipolitischen Wettbewerb. Von der Gründung Ende 2006 bis zu den Wahlerfolgen in Berlin 2011 und im Saarland 2012, in: Ders., Wiesbaden 2013b, S. 29-61.

  • Niedermayer, Oskar, Die Wähler der Piratenpartei. wo kommen sie her, wer sind sie und was bewegt sie zur Piratenwahl?, in: Ders., Wiesbaden 2013c, S. 63-73.

  • Niedermayer, Oskar, Organisationsstruktur, Finanzen und Personal der Piratenpartei, in: Ders., Wiesbaden 2013d, S. 81-99.

  • Wagner, Marie Katharina, Die Piraten. Von einem Lebensgefühl zum Machtfaktor, Gütersloh 2012.



Webseiten und Dokumente

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im Online-Wahlkampf setzte die Piratenpartei hingegen neue Maßstäbe und galt in ihrer digitalen Heimat durch die effektive Verbindung multimedialer Formate als erfolgreichste und trendsetzende Partei.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Jörg Hebenstreit, Dr. Tim Niendorf für bpb.de

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Dr. Jörg Hebenstreit ist Post-Doc am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben der Parteiensystemforschung auch die Themenfelder Wahlkampffinanzierung, Responsivität sowie Nicht-majoritäre Institutionen.

Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Politikwissenschaft