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Der Vergleich von Parteiensystemen

Oskar Niedermayer

/ 5 Minuten zu lesen

Parteiensysteme lassen sich mit Hilfe einer Reihe struktureller und inhaltlicher Eigenschaften international vergleichen. Dadurch können verschiedene Systemtypen unterschieden werden, wobei die Zugehörigkeit zu einem Typ sich im Zeitablauf ändern kann.

Interessierte Bürger betrachten die Wahlplakate der großen Parteien zur kommenden Bundestagswahl, aufgenommen am 29. September 1976 in Hannover. (© picture-alliance/dpa)

Parteiensysteme und ihre Eigenschaften

Unter einem Parteiensystem versteht man die Gesamtheit der Parteien in einem politischen System sowie deren Beziehungsgeflecht. Der oft verwendete Begriff des 'Einparteiensystems' für diktatorische Staaten mit nur einer Staatspartei ist somit ein Widerspruch in sich selbst und man sollte daher besser von 'Einparteienstaaten' sprechen. Die Beziehung zwischen den Parteien muss nicht unbedingt in Form eines Wettbewerbs zwischen unabhängigen Parteien bestehen, sondern kann sich auch als Über- bzw. Unterordnungsbeziehung äußern. Damit lassen sich kompetitive von nichtkompetitiven Parteiensystemen unterscheiden. Nichtkompetitive Parteiensysteme sind in der Regel Hegemonialsysteme, in denen eine Partei dominiert, wie z.B. in der ehemaligen DDR. Dort verhindern institutionelle Regeln, dass die Machtposition der Hegemonialpartei durch die anderen Parteien gefährdet wird.

Das Beziehungsgeflecht zwischen den Parteien lässt sich durch eine Reihe von Eigenschaften beschreiben, deren Muster das Parteiensystem zu einer bestimmten Zeit charakterisiert. Dabei können strukturelle und inhaltliche Eigenschaften unterschieden werden, die man auf der elektoralen - auf den Wettbewerb um Wählerstimmen bezogenen - und der parlamentarischen Ebene analysieren kann.

Format

Die Struktur eines Parteiensystems wird zunächst durch die Anzahl der das System bildenden Parteien bestimmt. Diese als Format bezeichnete Eigenschaft lässt sich auf der elektoralen Ebene durch die Anzahl der an Wahlen teilnehmenden und auf der parlamentarischen Ebene durch die Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien messen. Zudem lassen sich anhand verschiedener Kriterien relevante von irrelevanten Parteien unterscheiden.

Fragmentierung

Beim Format werden alle Parteien unabhängig von ihrer Größe gleichgewichtig behandelt. Um die Frage zu beantworten, ob ein Parteiensystem mit einer bestimmten Anzahl von Parteien auf wenige große Parteien konzentriert oder in viele kleine Parteien zersplittert ist, wird als zweite Eigenschaft die Fragmentierung bestimmt. Sie nimmt die Größenverhältnisse der Parteien bei den Wählerstimmen bzw. den Parlamentsmandaten in den Blick und gibt den - durch bestimmte Messgrößen bestimmten - Grad an Zersplitterung eines Parteiensystems an.

Dominanz und Asymmetrie

Für Parteiensysteme, die durch zwei große Parteien dominiert werden, ist es für die Analyse ihrer Funktionslogik sinnvoll, zusätzlich das Ausmaß der Dominanz der beiden Großparteien und ihr Größenverhältnis zu betrachten. Gemessen wird die Dominanz durch die Summe der Stimm- bzw. Mandatsanteile der beiden Parteien. Ihr Ausmaß wird z.B. dann relevant, wenn der gemeinsame Mandatsanteil zwei Drittel überschreitet, weil dies in vielen Staaten die Schwelle für verfassungsändernde Mehrheiten darstellt. Das Größenverhältnis der beiden Parteien ist für den Machtwettbewerb bedeutsam: Wenn die Parteiendemokratie als System potenziell wechselnder Parteiregierungen betrachtet wird, so kommt der prinzipiellen Chancengleichheit zum Machtgewinn überragende Bedeutung zu. Längerfristige deutliche Vorteile einer der beiden Großparteien gefährden diese Chancengleichheit. Die Größe des Vorteils einer der beiden Parteien, d. h. die Asymmetrie zu ihren Gunsten, wird durch die Differenz der Stimmen- bzw. Mandatsanteile der beiden Großparteien gemessen.

Volatilität

Die bisherigen Eigenschaften beschreiben den Zustand eines Parteiensystems zu einem bestimmten Zeitpunkt. Aussagen über einen Systemwandel können daher nur durch den Vergleich zweier Systemzustände gewonnen werden. Der Wandel selbst wird durch die Volatilität gemessen, die die Veränderungen der Größenrelationen zwischen den Parteien bei zwei aufeinanderfolgenden Wahlen anzeigt.

Polarisierung

Die Polarisierung als inhaltliche Eigenschaft nimmt die ideologisch-programmatischen Distanzen zwischen den Parteien in den Blick. Bei ihrer Messung ist zunächst danach zu fragen, welches die grundlegenden Konfliktlinien des Parteienwettbewerbs sind. In einem zweiten Schritt müssen die einzelnen Parteien auf diesen Konfliktlinien verortet werden und schließlich muss festgestellt werden, wie homogen oder heterogen das gesamte Parteiensystem in Bezug auf diese Konfliktlinien ist.

Über die Anzahl und Art der grundlegenden Konfliktlinien in Parteiensystemen wird seit Jahrzehnten diskutiert. Ausgangspunkte sind zum einen die ökonomische Theorie der Demokratie von Downs, der den Parteienwettbewerb durch den Links-Rechts-Konflikt als einziger Konfliktlinie geprägt sah, und zum anderen die Theorie gesellschaftlicher Konfliktlinien (cleavages) und deren Politisierung durch Parteien von Lipset und Rokkan. In deren Tradition lässt sich der Parteienwettbewerb in vielen europäischen Staaten heutzutage durch zwei Hauptkonfliktlinien kennzeichnen: Im ökonomischen Bereich durch den Sozialstaatskonflikt zwischen marktliberalen und an sozialer Gerechtigkeit orientierten, staatsinterventionistischen Wertpositionen (z.B. Sozialleistungen und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft), und im gesellschaftspolitischen, die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens betreffenden Bereich durch den Konflikt zwischen linksliberalen, multikulturell und international orientierten Wertvorstellungen auf der einen und konservativen bis hin zu autoritären, die nationale Identität und Kultur betonenden Werten auf der anderen Seite (z.B. das Frauen- und Familienbild oder die Haltung zur Multikulturalität).

Segmentierung

Die zweite inhaltliche Eigenschaft gibt den Grad der gegenseitigen Abschottung zwischen den Parteien wieder. Auf der elektoralen Ebene sind Parteiensysteme stark segmentiert, wenn zwischen den Parteien kaum Wettbewerb stattfindet, weil sie ihre jeweilige Wählerschaft aus klar voneinander abgegrenzten und gegenseitig abgeschotteten Wählersegmenten rekrutieren. Auf der parlamentarischen Ebene sind extrem segmentierte Parteiensysteme dadurch gekennzeichnet, dass die Parteien untereinander nicht koalitionswillig sind, während in nicht segmentierten Systemen alle Parteien untereinander prinzipiell zu Koalitionsbildungen bereit sind.

Typen und Wandel von Parteiensystemen

Will man die Vielzahl der existierenden Parteiensysteme ordnen, so kann man sie mit Hilfe einer einzigen Systemeigenschaft in sich gegenseitig ausschließende Klassen einteilen oder mehrere Eigenschaften zu einer Typologie kombinieren. Eine frühe Klassifikation ist z.B. die am Format orientierte Unterscheidung in Zwei- und Mehrparteiensysteme. Eine in vergleichenden Analysen bewährte Typologie teilt die Parteiensysteme nach der Ausprägung ihrer parlamentarischen Wettbewerbsstruktur in Systeme mit einer prädominanten Partei, Systeme mit Zweiparteiendominanz, pluralistische Systeme und hoch fragmentierte Systeme ein. Diese Typologie kann auch die Frage nach der Stabilität oder dem Wandel der Parteiensysteme beantworten, indem eine zu einem Typwechsel führende Veränderung der Wettbewerbsstruktur als Wandel definiert wird.

Die möglichen Ursachen des Wandels lassen sich systematisieren, wenn man sich vergegenwärtigt, dass für demokratische Parteiensysteme der Wettbewerb unabhängiger Parteien konstitutiv ist und jede Art von Wettbewerb durch Angebot, Nachfrage und Rahmenbedingungen bestimmt wird. Die Angebotsseite besteht aus den Parteien, die durch den Einsatz von Ressourcen, durch ihre inhaltliche Positionierung auf den zentralen Konfliktlinien und mit Hilfe unterschiedlicher Strategien, z.B. auch durch Parteineubildungen oder -zusammenschlüsse, versuchen, den Wettbewerb in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Nachfrageseite wird durch die Orientierungen und Verhaltensweisen der Wahlberechtigten, vor allem durch die gesellschaftliche Konfliktstruktur, die längerfristigen Parteibindungen und die kurzfristigen Orientierungen gegenüber dem inhaltlichen und personellen Angebot der Parteien, gebildet.

Der politische Wettbewerb wird zudem durch eine Reihe politisch-institutioneller, ökonomischer, sozialer und sonstiger Rahmenbedingungen beeinflusst. Dem Wahlrecht kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Früher leitete man oft die Entwicklung von Parteiensystemen von der Entwicklung des Wahlsystems ab und war der Ansicht, dass die Verhältniswahl zwangsläufig zu hochfragmentierten Parteiensystemen und die Mehrheitswahl zu Systemen mit Zweiparteiendominanz führen würde. Wie die neuere Forschung zeigt, existiert jedoch kein monokausaler Zusammenhang zwischen Wahlsystem und Parteiensystem, vor allem weil mit der gesellschaftlichen und parteipolitischen Konfliktstruktur ein weiterer wichtiger Erklärungsfaktor der Parteiensystementwicklung hinzukommt. Allerdings wirken die Wahlsysteme - insbesondere aufgrund ihrer Auswirkungen auf die Wahlchancen kleinerer Parteien - der allgemeinen Tendenz nach in die angesprochene Richtung, d.h.: Mehrheitswahlsysteme verringern die Fragmentierung von Parteiensystemen eher als Verhältniswahlsysteme, vor allem wenn diese keine Sperrklauseln enthalten. Neben den rechtlichen können jedoch auch andere Rahmenbedingungen den Parteienwettbewerb stark beeinflussen. In neuerer Zeit war dies vor allem durch sogenannte externe Schocks - d.h. plötzlich auftretende, dramatische Ereignisse oder Entwicklungen, die nicht durch Handlungen der beteiligten Akteure herbeigeführt wurden - der Fall. Zu nennen sind hier vor allen die Covid-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine.

Quellen / Literatur

  • Niedermayer, Oskar (2013a): Die Analyse von Parteiensystemen, in: Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Handbuch Parteienforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 83-117.

  • Niedermayer, Oskar (2013b): Die Parteiensysteme der EU-Mitgliedsstaaten, in: Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Handbuch Parteienforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 847-874.

  • Wiesendahl, Elmar (2022): Parteienforschung, S. 341-400.

Fussnoten

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Oskar Niedermayer für bpb.de

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Prof. Dr. Oskar Niedermayer ist emeritierter Professor und ehemaliger Leiter des Otto-Stammer-Zentrums an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Parteien und Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland.