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Definitionen von Antisemitismus | Antisemitismus | bpb.de

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Definitionen von Antisemitismus

Klaus Holz

/ 13 Minuten zu lesen

Wissenschaftlich ist es üblich, auf die Definition von Schlüsselbegriffen große Sorgfalt zu verwenden. Bei „Antisemitismus“ aber dominieren zwei Definitionen die Diskussion, die stark politisiert ist.

Definitionen sind Hilfsmittel der Erkenntnis. (© picture-alliance, Zoonar | Eugene Hill)

Wissenschaftlich ist es üblich, auf die Definition von Schlüsselbegriffen große Sorgfalt zu verwenden. Dies führt idealerweise zu einer überschaubaren Anzahl sehr gut ausgearbeiteter Begriffsbildungen. Bei „Antisemitismus“ ist dies nicht gelungen. Vielmehr dominieren zwei Definitionen die Diskussion, die stark politisiert ist. Im Folgenden werden beide Definitionen vorgestellt und abschießend einige Definitionsmerkmale angegeben.

Die Arbeitsdefinition der IHRA

Die Externer Link: „Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ wurde ursprünglich von der Vorgängerorganisation der Europäischen Grundrechteagentur (Fundamental Rights Agency, FRA) 2004 entworfen, um einen europaweiten Standard für das Monitoring von Antisemitismus zu begründen. Sie fand aber erst ab 2016 große Beachtung. Denn da nahm das Plenum der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) diese Definition an. Sie wird seitdem IHRA-Definition oder -Arbeitsdefinition genannt. Gegründet im Jahr 1998, ist die IHRA ein Zusammenschluss von inzwischen 35 Staaten, neben fast allen europäischen Staaten sind auch Argentinien, Australien, Kanada, die USA und Israel Mitglieder. Mit der Annahme der „Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ gab sich IHRA eine Arbeitsgrundlage für ihre internationalen Anstrengungen gegen Antisemitismus. Der Beschlusstext lautet:

Zitat

Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.

Der Beschluss wird ergänzt durch elf „Beispiele zur Veranschaulichung“. Schauen wir uns aber zunächst die Definition selbst an. Die Formulierung „Wahrnehmung“ (oder im englischen Text „perception“) ist missverständlich, streng genommen falsch. Antisemitismus sei eine „bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden“ (falsche, bösartige, pauschalierende etc.), die entsprechend irgendwie mit dem Judentum korrespondiert. Was mit „bestimmt“ gemeint ist, wird nicht erläutert. Diese Formulierung legt ein falsches Verständnis nahe: demnach wären antisemitische Vorurteile – z. B. „die Juden stecken hinter dem Kapitalismus“ – eine verzerrte Wahrnehmung jüdischer Wirtschaftstätigkeit. Fast alle wissenschaftlichen Antisemitismus-Begriffe halten diesen Ansatz für grundsätzlich falsch. Antisemitismus wurzelt nicht im Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden sondern in der „Imagination“, „Projektion“, „Weltanschauung“ und „Leidenschaft“ der Antisemit*innen, in seiner/ihrer Religion, Kultur, Psyche und Gesellschaft. Antisemitismus ist nicht Wahrnehmung von, sondern „Gerücht über die Juden“.

Im ersten Satz der IHRA-Definition steckt ein zweites grundlegendes Problem: eine bestimmte Wahrnehmung, „die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann“. Eine „Kann-Bestimmung“ heißt: es kann auch anders sein. Die Arbeitsdefinition betont zwar zurecht mit dem starken Wort „Hass“ die emotionale Dimension des Antisemitismus, gibt aber gar keine Hinweise, was Antisemitismus sonst noch sein kann: „Was ist mit Ekel vor Juden, mit Neid, mit Scham? Was ist mit der Behauptung ‚rationaler‘ Ablehnung von Juden etc.?“

Man kann von einer Definition nicht verlangen, dass sie derlei angedeutete Fragen umfassend beantwortet, aber sie darf sie wenigstens nicht verstellen oder gar falsch beantworten. Diese Kritik muss aber dahingehend eingeschränkt werden, dass der eigentliche Sinn der IHRA-Definition nicht wissenschaftlicher, sondern politischer Natur war: Sie diente als Arbeitsgrundlage für staatliche Anstrengungen gegen Antisemitismus. Diese Absicht kann man vorbehaltlos unterstützen, auch wenn die Definition wissenschaftlich eindeutig unzureichend ist.

Diese Absicht ist nur im zeitgeschichtlichen Zusammenhang adäquat zu verstehen: In den Jahren ab etwa 2000 rückt ein teils gewalttätiger „Antisemitismus gegen Israel“ in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, der vor allem bei Muslimen, migrantischen Bevölkerungsteilen und der politischen Linken verortet wird. Die IHRA-Definition reagiert auf diese veränderte Situation in elf „Beispielen“, die „zur Veranschaulichung“ der Definition angefügt sind. Einige dieser Beispiele richten sich gegen Holocaust-Leugnung, Gewalt, Extremismus, „dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen“. Mit sieben Beispielen aber dominieren Charakterisierungen des israelbezogenen Antisemitismus: hierzu gehört der Vorwurf, Juden seien Israel „stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer“, die Behauptung, „die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“, „das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung“ oder „Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten“. Diese Beispiele benennen einige wichtige aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus gegen Israel. Allerdings muss der Grundsatz, der in der IHRA-Definition oft überlesen wird, hinzugefügt werden: Ob es sich bei solchen Aussagen tatsächlich um Antisemitismus handelt, kann nur „unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts“ entschieden werden. Je nach Kontext können die zitierten Aussagen unterschiedlichen Sinn entfalten. Deshalb sind die Beispiele nur Hilfsmittel für eine Analyse, die diese nicht ersetzen kann.

Die IHRA-Definition entfaltete ab 2016 in Deutschland eine zunächst nicht intendierte Eigendynamik: Nach dem Beschluss der IHRA folgte die Bundesregierung im September 2017, die „nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ anzunehmen – woraufhin diese in der Folge eine starke normative Kraft entwickelte. Viele weitere Organisationen wie z. B. der Interner Link: Zentralrat der Juden in Deutschland, die Hochschulrektorenkonferenz, Landesregierungen und Fußballvereine haben seitdem Bekenntnisse zur Arbeitsdefinition abgelegt. Die IHRA-Definition wurde zum erfolgreichen Katalysator in einem Prozess, die Ablehnung von Antisemitismus institutionell zu verankern. Der Inhalt der Definition im Einzelnen war hierfür nicht entscheidend. Vielmehr wurde die IHRA-Definition zu einem Symbol für eine grundlegende Orientierung: Gegen Antisemitismus und für Israel zu sein. Diese Orientierung aber kann dazu neigen, (falsche) Kritik an Israel für antisemitisch zu erklären.

Die starke Konzentration auf israelbezogenen Antisemitismus ist einerseits eine Stärke der IHRA-Definition, andererseits aber rückt damit in den Hintergrund, dass erstens nicht aller Antisemitismus im Zusammenhang mit dem Interner Link: Nahostkonflikt steht und auf Israel bezogen ist. Das gilt besonders für Interner Link: Antisemitismus im rechten und rechtsextremen Bereich, der mit dem Fokus auf den Interner Link: linken und muslimischen Bereich zu Unrecht aus dem Blick gerät. Zweitens bedeutet, Antisemitismus abzulehnen, sich mit allen Jüdinnen und Juden, nicht nur mit Israel zu solidarisieren. Damit sind auch jüdische Selbstverständnisse zu achten, die dem jüdischen Staat skeptisch oder gar ablehnend begegnen. Drittens ist für eine pro-israelische Haltung nicht nur die Dimension des Antisemitismus relevant, sondern auch die Dimension des Nahost-Konfliktes. Alle Auseinandersetzungen wie die um die Interner Link: documenta 15 oder um die Reaktionen auf das ungeheuerliche Verbrechen am 7. Oktober 2023 , als die Hamas einen großangelegten Terrorangriff auf israelisches Staatsgebiet startete, kreisen um das Geflecht aus Antisemitismus und israelisch-palästinensischem Konflikt. Eine gute Definition müsste Hilfsmittel zur Hand geben, dieses Geflecht zu durchdringen. Viertens hat die IHRA-Definition inzwischen eine derart normative Kraft entfaltet, dass sie mitunter als einzig legitime Bestimmung von Antisemitismus präsentiert wird. Wissenschaftlich sind weder der Monopolanspruch noch der damit verbundene politische Machtanspruch akzeptabel.

Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus

Gegen die Engführung auf israelbezogenen Antisemitismus mehrte sich in den letzten Jahren zunehmend Kritik. So schrieb Moshe Zimmermann, die Antisemitismusforschung neige „zur künstlichen Ausdehnung des Begriffs und vor allem zur inflationären Verwendung der Kategorie ›israelbezogener Antisemitismus‹“. Micha Brumlik sah einen neuen „McCarthyismus“ am Werke, der jede kritische Debatte über Israel durch einen Antisemitismusvorwurf unterbinden wolle. Dan Diner schrieb vom „zuletzt offenkundig gewordenen Umstand“, dass Israel sich an judenfeindlichen Stimmungen kaum störe, „jedenfalls solange nicht, wie sie seiner zionistischen Staatsräson nicht entgegenstehen“.

Solche Kritiken motivierten die Externer Link: „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ (JDA), die 2021 veröffentlicht wurde. Die IHRA-Definition sei „in wichtigen Punkten unklar“ und verwische „den Unterschied zwischen antisemitischer Rede und legitimer Kritik am Staat Israel“. Dies habe „zu Kontroversen geführt“ und „den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt“. Die JDA versteht sich als Alternative, wenigstens Verbesserung der Arbeitsdefinition der IHRA. Sie definiert:

Zitat

Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).

Diese Formulierung nimmt die beiden oben formulierten Einwände gegen die Arbeitsdefinition („Wahrnehmung“, „Hass“) auf. Antisemitismus reicht von Vorurteil bis Gewalt, ist „Diskriminierung“ von Menschen „als jüdisch“ und nicht wie in IHRA eine „bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden“. Überdies wird auf eine Kann-Bestimmung verzichtet, so dass der Wortlaut der JDA präziser als der der Arbeitsdefinition ist.

Der JDA-Definition ist eine „Präambel“ vorausgestellt, die das Anliegen, Bekämpfung des Antisemitismus, und die Kritik der IHRA-Definition formuliert. Sie wird ergänzt durch fünfzehn „Leitlinien“, die fünf allgemeine Grundsätze und je fünf Beispiele benennt, die „als solche antisemitisch“ bzw. die „nicht per se antisemitisch sind“. Abgeschlossen wird der Text durch zwei Seiten „Fragen und Antworten“.

Auch die JDA hat an zentraler Stelle begriffliche Unklarheiten. So heißt es an einer Stelle: „Was für Rassismus im Allgemeinen gilt, gilt im Besonderen auch für Antisemitismus.“ Der Antisemitismus habe zwar „einige spezifische Besonderheiten“, der Kampf gegen ihn aber müsse „mit dem allgemeinen Kampf“ gegen alle Formen der Diskriminierung „verbunden“ sein. Worin die Besonderheiten des Antisemitismus liegen, wird nicht ausgeführt. Die gegenteilige These, wonach sich Rassismus und Antisemitismus grundsätzlich unterscheiden, gerät dadurch aus dem Blick. Deshalb kann man die JDA auch so lesen: Antisemitismus ist eine besondere Form des Rassismus. Das wiederum legt die politische Position nahe: Wer gegen Rassismus ist, ist auch gegen Antisemitismus. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen sind jedoch gerade von Widersprüchen zwischen antikolonialer Rassismuskritik und pro-israelischer Antisemitismuskritik geprägt: Ist Israel ein weißer Kolonialstaat oder der Staat der Überlebenden des Holocaust? Ist ersteres antisemitisch, legitimiert letzteres die Unterdrückung der Palästinenser*innen?

Die Kritik an der JDA konzentriert sich auf die Frage, ob sie den gegen Israel gerichteten Antisemitismus angemessen erfasst. Die JDA selbst rückt dieses Problem ins Zentrum, indem sie in fünf Beispielen Antisemitismus gegen Israel benennt: Wenn etwa die „klassischen“ Stereotype des Antisemitismus in vermeintlicher Kritik an Israel verwendet werden, das Existenzrecht Israel bestritten wird oder Jüdinnen und Juden „kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich“ gemacht werden. Umgekehrt sei es „nicht per se antisemitisch“, palästinensische Forderungen zu unterstützen oder den Zionismus abzulehnen. Auch wenn solche Äußerungen „nicht maßvoll, verhältnismäßig, gemäßigt oder vernünftig“ vorgebracht würden, seien sie durch das Menschrecht auf freie Meinungsäußerung geschützt.

Den Beispielen kann man im Wesentlichen zustimmen. Das Problem, das sie nicht reflektieren, liegt auf einer anderen Ebene. Auch wenn bestimmte Aussagen „nicht per se antisemitisch“ sind, sind sie es doch typischerweise. Das gilt z. B. für die Parole „From the river to the sea, palestine will be free“, die in der JDA fragmentarisch angeführt wird. Mit dieser Parole wird meist ein nationaler Anspruch eines palästinensischen Volkes gegen den nationalen Anspruch Israels erhoben. Der Hinweis in der JDA, damit könne auch die Forderung nach „volle[r] Gleichberechtigung“ gemeint sein, geht am wesentlichen vorbei: Oft ignoriert oder bestreitet diese Parole das Existenzrecht Israels.

Ähnlich verhält es sich mit der Feststellung der JDA, „Boykotte, Desinvestitionen und Sanktionen“ (BDS) seien „gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten“, weshalb sie gegen Israel gerichtet „nicht per se antisemitisch“ seien. Unerwähnt bleibt in der JDA, dass die Interner Link: BDS-Bewegung – angesichts ihres transnationalen Kampagnen-Charakters, ohne typische Strukturmerkmale einer klassischen Organisation – zwar nicht komplett antisemitisch ist, aber wesentlich von Akteuren antisemitischer Organisationen wie der Hamas und der PFLP initiiert wurde. Im Rahmen der sehr heterogenen internationalen BDS-Bewegung gegen Israel verschleiern gerade solche Organisationen ihre Ideologie und Praxis.

Überdies fehlt in den „Beispielen“ das wichtigste Muster des israelbezogenen Antisemitismus, das in der IHRA-Definition wenigstens ungefähr benannt ist: „Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten“. Solche Vergleiche sind zwar nicht „per se antisemitisch“, aber sie sind das zentrale Muster des postnazistischen Antisemitismus. Er zeigt sich in Aussagen wie folgender: „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben“. Dieser Aussage stimmen in Deutschland bis zu 39 Prozent zu. Das Grundprinzip dieses Musters ist die Täter-Opfer-Umkehr, die sich wie folgt formulieren ließe: „Da sich die Juden/Israelis von heute wie die Nazis von damals verhalten, ziehen 'wir' aus der Anerkennung des (damaligen) Holocaust die Konsequenz, heute gegen den jüdischen Staat zu sein.“ Die israelische Politik gegenüber den Palästinenser*innen dient als scheinbarer Beleg für diese Verkehrung. Dieses Muster gehört zwingend in jede Definition des Antisemitismus.

Die Beispiele zeigen, dass die Klarheit der Unterscheidung zwischen „antisemitisch“ und „per se nicht antisemitisch“ sowohl richtiges erfasst als auch in die Irre führt. Je nach Zusammenhang wird aus dem einen das andere. Das Problem der JDA ist nicht der Versuch, Unterscheidungen zu benennen, sondern dass bei den von ihr als „per se nicht antisemitisch“ klassifizierten Aussagen ihre ggf. antisemitische Verwendung nicht problematisiert wird. Genau das aber steht im Mittelpunkt der Schwierigkeiten, kritische von antisemitischen Aussagen über Israel zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund wird die Kritik vorgetragen, dass die oberflächlich größere Klarheit der JDA die Gefahr mit sich bringe, Antisemitismus in bestimmten Fällen nicht zu erkennen – während die IHRA-Definition das komplementäre Problem ignoriere: Wenn man sagt, was antisemitisch ist, impliziert das Bestimmungen, was nicht antisemitisch ist. Das bleibt in der IHRA-Definition aber implizit, wodurch erhebliche Unschärfen entstehen. So sind z.B. viele Jüdinnen und Juden dem jüdischen Staat tief verbunden (was auch mitnichten verwunderlich ist). Wann aber wird eine solche Feststellung zum antisemitischen „Vorwurf gegenüber Jüdinnen und Juden“, sie fühlten sich Israel mehr verpflichtet als ihren „Heimatländern“? Solche Fragen stellt die IHRA-Definition nicht.

Der JDA ist es gelungen, der IHRA-Definition Konkurrenz zu machen. Eine größere internationale Diskussion über die sachlichen und politischen Fragen hat sie jedoch nicht stimuliert, obwohl die JDA von rund 200 Erstunterzeichner*innen veröffentlicht wurde – darunter viele renommierte jüdische und/oder israelische Gelehrte ebenso wie viele prominente Wissenschaftler*innen, gerade auch aus dem Bereich der Nationalsozialismus- und Antisemitismusforschung. Es ist absolut unüblich, dass eine wissenschaftliche „Definition“ wie eine Petition oder ein offener Brief mit vielen Erstunterzeichner*innen veröffentlicht wird. Eben das macht deutlich, dass die JDA nicht nur ein wissenschaftlicher Text, sondern auch ein politischer Einspruch sein will.

Trotz des Renommees der Erstunterzeichner*innen haben die meisten Institutionen, die die IHRA-Definition anerkennen, offiziell auf die JDA mit blanker Ablehnung reagiert: Da die IHRA-Definition zum Inbegriff der Bekämpfung des israelbezogenen Antisemitismus hypostasiert wurde, wurde die „Infragestellung“ der IHRA-Definition durch die JDA als Versuch bewertet, israelbezogenen Antisemitismus zu verharmlosen oder gar zu unterstützen. Diese „Kritik“ ignoriert, dass die JDA von vielen ausgewiesenen Expert*innen unterstützt wird und wirft jüdischen und israelischen Wissenschaftler*innen vor, Antisemitismus zu verharmlosen. Solche Einlassungen machen deutlich, wie polarisiert und teilweise unversöhnlich die Debattenkultur im Bereich der Antisemitismuskritik ist. Dies dient weder der Erkenntnis noch der Abwehr des Antisemitismus.

Einige Definitionsmerkmale

Aus der Diskussion der beiden Definitionen können Schlussfolgerungen gezogen werden:

  1. Definitionen sind Hilfsmittel der Erkenntnis. Angesichts der erörterten Probleme sollte man wissenschaftlich wie in der politischen Bildung beide Definitionen und weiterführende Literatur zu Rate ziehen. Gerade an den Unterschieden der beiden Definitionen kann das Verständnis von Antisemitismus geschärft werden. In der politischen Bildung entspricht dies auch dem „Überwältigungsverbot“ und „Kontroversitätsgebot“ des Beutelsbacher Konsenses.

  2. Beide Definitionen betonen, dass nur „unter Berücksichtigung des Gesamtkontextes“ geklärt werden kann, ob ein Vorfall antisemitisch ist. Da der Vorwurf des Antisemitismus sehr gewichtig ist, muss besondere Sorgfalt und eine klare sachliche Begründung angemahnt werden. Eine gute Definition hilft hierbei, indem sie zentrale Momente des Antisemitismus präzise darlegt.

  3. Beide Definitionen erklären ausdrücklich, dass sie „nicht rechtsverbindlich“ (IHRA) und „keinesfalls als rechtliches oder quasi-rechtliches Instrument“ (JDA) zu verstehen seien. Eine juristische Definition müsste die Gesetzeslage systematisch berücksichtigen, also z.B. das Grundrecht auf Meinungsfreiheit reflektieren. Vor allem kann eine Definition nur rechtsverbindlich sein, wenn sie rechtsstaatlich verabschiedet wird. Die quasi-rechtliche Kraft der IHRA-Definition, die sie z.B. bei der Vergabe staatlicher Fördermittel entfaltet, wird daher rechtsstaatlich und demokratietheoretisch als problematisch gesehen.

  4. Die Abgrenzung zwischen wissenschaftlichen, politischen und juristischen Definitionen ist zu generalisieren: Je nach Verwendungszusammenhang müssen Definitionen des Antisemitismus unterschiedlich konzipiert werden. Eine wissenschaftliche Definition ist nicht dasselbe wie die Selbstverpflichtung einer NGO, ein Gesetz nicht dasselbe wie pädagogische Arbeitsmaterialien. Natürlich sollten und können diese unterschiedlichen Zugänge zum Antisemitismus miteinander vermittelt sein, aber sie fallen auch idealerweise nicht in eins. Der Alleinvertretungsanspruch einer Definition scheitert in der Vielfalt der Verwendungskontexte.

  5. Beide Definitionen rücken den Antisemitismus gegen Israel ins Zentrum. Das ist begründet, weil davon gegenwärtig fast aller öffentlich-politisch-wissenschaftlicher Streit handelt. Dennoch ist dies nur ein Teilbereich. Der Antisemitismus der neuen Rechten und Rechtsextremen findet weniger Aufmerksamkeit, während Antisemitismus in islamischen, migrantischen und antikolonialen Zusammenhängen überproportional ins Zentrum rückt.

  6. Die Kritik des israelbezogenen Antisemitismus steht in einem doppelten Kontext: dem Nahost-Konflikten zwischen Israel, den Palästinenser*innen und den umliegenden Staaten einerseits und der Legitimation Israels als Staat der Überlebenden andererseits. Die IHRA-Definition hat den Vorteil, Letzteres zu betonen, indem sie besonders auf Leugnungen und Verharmlosungen des Holocaust hinweist. Die JDA hat den Vorteil, dass sie mit der Angabe von „per se nicht antisemitischen“ Beispielen eine „Orientierungshilfe“ anbietet, die den israelisch-palästinensischen Konflikt von Antisemitismus differenziert. Beide einig sind sich darin, dass es antisemitisch ist, Jüdinnen und Juden das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in Israel abzusprechen oder den Holocaust zu leugnen.

  7. Versteht man die Formulierung „Wahrnehmung“, wie oben diskutiert, wohlwollend, so sind sich beide Definitionen darin einig: Antisemitismus richtet sich gegen die Menschen und Einrichtungen, die den Antisemit*innen als jüdisch gelten. Auch Definitionen in wissenschaftlichen Texten betonen dies in der Regel. Antisemitismus richtet sich gegen Jüdinnen und Juden wie gegen den jüdischen Staat als jüdisch.

  8. Aus dem konstruktivistischen Charakter von Antisemitismus folgt die entscheidende Orientierung: Der Antisemitismus hat Vor-Urteile, Bilder von Jüdinnen und Juden, die sich systematisch nicht aus dem realen Judentum, sondern aus den Antisemit*innen in ihrer Religion, Kultur und Gesellschaft erklären lassen müssen. Das Problem Antisemitismus entsteht auf Seiten der Antisemit*innen, nicht aus der Wahrnehmung des Judentums.

  9. Beide Definitionen behaupten, Antisemitismus ist Judenfeindschaft in Wort und Tat. Beiden Definitionen fehlt: „Es gibt keinen Antisemitismus ohne Selbstbild. Der Sinn von Judenbildern ist die Konstruktion von Selbstbildern, d.h. Erzeugung und Versicherung eines »Wir« durch judenfeindliche Deutung der Welt. […] Die einfachste wie allgemeinste Bestimmung von Antisemitismus ist: abwertende Dichotomie »wir/Juden«, nicht: Anfeindung der Juden als Juden.“ Dieses „Wir“ kann z.B. sein: die Christen, die Muslime, die Deutschen oder die Franzosen. Dementsprechend werden für den Antisemitismus typische antijüdische Stereotype von positive Selbstbilder begleitet: betrügerisches Geld vs. ehrliche Arbeit, Lügenpresse vs. Volksmeinung, zersetzend vs. schaffend. Auch für das gesamte Spektrum des Antisemitismus gegen Israel sind Selbstbilder konstitutiv, seien sie links-antikolonial, islamistisch, postnazistisch oder evangelikal. Das übermäßig große Interesse an Israel (bei typischerweise geringen Kenntnissen über das Land) entstammt solchen Selbstbildern.

  10. Psychoanalytische Theorien betonen ebenfalls diese Wendung auf das antisemitische Subjekt und seine Gesellschaft. Die berühmte Formel Freuds, der Judenhass der Christen ist „im Grunde Christenhass“, macht auf die fundamentale Verkehrung aufmerksam: Im Judentum wird bekämpft, was dem eigenen Unbewussten in der eigenen Kultur entsprang. Was nicht anerkannt werden kann, wird zum Fremden und Feindlichen, zum unbewussten „Stoff“, der auf äußere Objekt projiziert wird. Horkheimer und Adorno nennen diese Verkehrung „pathische Projektion“.

  11. Das zentrale Muster des postnazistischen Antisemitismus ist die Täter-Opfer-Umkehr. Besonders prägnant und in den letzten Jahrzehnten zentral wurden dabei zwei Merkmale: Zum einen wird das Wortfeld „jüdisch“ durch „israelisch“ oder „zionistisch“ ersetzt, zum anderen Israel dem Nationalsozialismus nahegerückt: Was Israel mit den Palästinenser*innen macht, gleicht dem, was die Nazis mit den Juden machten. Dieses Muster „erledigt“ zwei fundamentale Probleme des postnazistischen Antisemitismus: Der Holocaust muss erstens nicht als historische Faktum geleugnet werden, was als rechtsextrem stigmatisiert werden würde. Vielmehr werden der Holocaust und der Zwang zum Erinnern zum Argument gegen den jüdischen Staat verdreht. Indem zweitens von Israel statt „vom Juden“ die Rede ist, bewahrt man Distanz zur offensichtlich antisemitischen Sprache und gewinnt die Scheinbelege, die der Nahostkonflikt für den Antisemitismus liefert.

  12. Die Betonung der Selbstbilder, die Wendung auf das antisemitische Subjekt in seiner Gesellschaft bietet Möglichkeiten der Prävention und Pädagogik. Man kann vorurteilshafte Aussagen über das Judentum nicht nachhaltig korrigieren, ohne die darin verwickelten Selbstbilder zu reflektieren. Selbstreflexion ist daher der Schlüssel zu Prävention und Kritik des Antisemitismus.

Quellen / Literatur

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Ein Überblick über die Entstehung und die weiterführende Literatur findet sich bei Peter Ullrich, „Arbeitsdefinition Antisemitismus. Jerusalemer Erklärung“.

  2. Alle Nachweise aus diesem Dokument nach der Homepage der IHRA: Externer Link: https://holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus [05.07.2024].

  3. Dieser Ansatz wird „korrespondenztheoretisch“ genannt: Demnach korrespondieren antisemitische Vorurteile mit vermeintlichen Besonderheiten von Jüdinnen, Juden und Judentum (siehe Holz, Nationaler Antisemitismus, S. 62-77). Zur diesbezüglichen Kritik der IHRA-Definition siehe Uffa Jensen, „Gefährlich nah an einer Korrespondenztheorie“ (2022).

  4. Adorno, Minima Moralia, S. 123.

  5. Jensen, „Gefährlich nah an einer Korrespondenztheorie“.

  6. Holz/Haury, Antisemitismus gegen Israel.

  7. Zitiert nach: Externer Link: https://holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus [12.08.2024].

  8. Siehe hierzu die Kritik an beiden Definitionen von Tom Khaled Würdemann, „Israel und der Antisemitismus“, und die einschlägigen Artikel im Handbuch „Was ist Antisemitismus?“ (Ullrich et al. (Hg.)).

  9. Alle Zitate aus Zimmermann, „Im Arsenal des Antisemitismus“, S. 454.

  10. Brumlik, „Unter BDS-Verdacht“.

  11. Diner, „Der Sarkophag zeigt Risse“, S. 488.

  12. Alle Zitate aus der JDA nach: Externer Link: https://jerusalemdeclaration.org/ (23.07.2024).

  13. Holz/Haury, Antisemitismus gegen Israel, S. 85-112.

  14. Zick u.a., Verlorene Mitte – Feindselige Zustände, S. 70f. Nimmt man die „teils-teils“-Zustimmenden noch dazu, sind es 55 Prozent. Umfragen ergaben immer wieder ähnliche Werte.

  15. Siehe unter: Externer Link: https://jerusalemdeclaration.org/ (23.07.2024).

  16. In der „Scientific Community“ gebe es „nur verständnisloses Kopfschütteln“ über die JDA, Beifall käme „von den Extremisten, Fundamentalisten, Verschwörungsfantasten“, behaupten Julia Bernstein/Lars Rensmann/Monika Schwarz-Friesel, „Faktisch falsche Prämissen“.

  17. Einen sehr hilfreichen Beitrag über Antisemitismus-Definitionen leistet Thomas Haury in „Das Einfache, das doch so schwer zu machen ist?“. Als Nachschlagewerke eignen sich überdies das sehr umfängliche „Handbuch des Antisemitismus“ (herausgegeben von Wolfgang Benz) und das sehr knappe Handbuch „Was ist Antisemitismus“ (Ullrich et al. (Hg.)).

  18. Siehe hierzu „Antisemitismus definieren? Eine Handreichung für die politische Bildungsarbeit“, unter: Externer Link: https://www.rosalux.de/publikation/id/50899/antisemitismus-definieren (23.07.2024).

  19. So heißt es z.B. auf der Homepage des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, die IHRA-Definition werde „in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens, zumindest auf Bundesebene, bereits angewandt“. Sie sei u.a. „handlungsleitend“ für das mit Abstand größte einschlägige Förderprogramm, „Demokratie leben“. Siehe: Externer Link: https://www.antisemitismusbeauftragter.de/Webs/BAS/DE/bekaempfung-antisemitismus/ihra-definition/ihra-definition-node.html;jsessionid=3216EEC4CF05001501DFE084FAD8B3F4.live891 (23.07.2024).

  20. Siehe dazu Ralf Michaels, „Eine Resolution ist kein Gesetz“, in der FAZ vom 09.07.2024, S. 13; und die ausführliche juristische Erörterung von Kai Ambos et al., „Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht – eine rechtliche Beurteilung“.

  21. In der IHRA-Definition ist dies unscharf, was sich auch im Rückgriff auf den „3 D-Test“ zeigt (Natan Sharansky, „Antisemitismus in 3-D“). Die 3 D’s heißen: Dämonisierung (des Staates Israel), Doppelstandard (wenn von Israel gefordert wird, was „von keinem anderen demokratischen Staat erwartet“ (IHRA) wird) und Delegitimierung (das Existenzrecht Israels wird in Zweifel gezogen). Dieser Test ist als erster Check hilfreich, aber die 3 D‘s unterscheiden nicht zwischen der Ebene des Antisemitismus und der des Nahost-Konfliktes. „Das Anlegen doppelter Standards, die Delegitimierung und Dämonisierung des Gegners können in zahlreichen, insbesondere gewaltförmigen Konfliktkonstellationen nachgewiesen werden“, z.B. in der „Feindpropaganda im gegenwärtigen russischen Krieg gegen die Ukraine“ (Haury, „Das Einfache, das doch so schwer zu machen ist?“, S. 295). Über die Spezifik des Antisemitismus gegenüber anderen Formen des Hasses gibt der 3-D-Test keine Auskunft.

  22. Die IHRA sagt unmissverständlich, das Existenzrecht Israels zu bestreiten ist antisemitisch (und muss damit ignorieren, dass es jüdische und universalistische Kritik am politischen Zionismus gab und gibt). Die Formulierung der JDA in Leitlinie 10 ist offener für politische Lösungen des Nahost-Konfliktes etwa in Gestalt eines binationalen Staates.

  23. Z.B. Fein, „Dimensions of Antisemitism“, S. 67; Klug, „The Collective Jew“; Longerich, Antisemitismus, S. 8.

  24. Holz/Haury, Antisemitismus gegen Israel, S. 355f.; Weyand, Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus.

  25. Quindeau, Psychoanalyse und Antisemitismus.

  26. Freud, Der Mann Moses, S. 198.

  27. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 222.

  28. Holz/Haury, Antisemitismus gegen Israel, S. 85-112.

  29. Weyand, „Das Konzept der Kommunikationslatenz“.

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Klaus Holz ist habilitierter Soziologe und Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland. Seine Forschungsschwerpunkte sind Antisemitismus, Nationalismus und Rassismus.