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Wer trägt die Schuld? - Schießbefehl und Mauertote | Kontraste - Auf den Spuren einer Diktatur | bpb.de

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Wer trägt die Schuld? - Schießbefehl und Mauertote Sendung vom 3. Juli 1990

/ 8 Minuten zu lesen

Hier finden Sie das Sendungsmanuskript zum "Kontraste"-Beitrag vom 3. Juli 1990

Berlin in diesen Tagen. Pioniere der DDR-Grenztruppen sorgen dafür, dass die Mauer in der Stadt bald ganz verschwunden ist. 28 Jahre lang wurde diese Grenze mit Waffengewalt gesichert. Jetzt wird der Todesstreifen zugeteert, das Vergangene vom neuen Alltag überrollt.

DDR-Grenzer

„Was sollen wir darüber sagen? Wir haben damals unseren Auftrag erfüllt, und wir werden auch heute unseren Auftrag erfüllen. Und heute ist das natürlich noch wichtiger, im Interesse unserer Regierung die Aufträge zu erfüllen, die wir erteilt bekommen.“

Frage: „Ja, bloß damals war der Auftrag, auch zu schießen, wenn jemand hier einfach mal über die Mauer wollte.“

„Das waren damals die gültigen Gesetze.“

Es starben 192 Menschen an der innerdeutschen Grenze. Wahrscheinlich sogar noch mehr, denn im Zusammenwirken von Stasi und Armee wurde bei Schüssen auf Flüchtlinge stets vertuscht und verschleiert.

Wo früher geschossen wurde, werden heute die Mützen und Uniformen der Grenzer als Souvenir verkauft.

Was ist mit den Todesschützen?

Heinz Bösel, Militäroberstaatsanwalt

Frage: „Sie ermitteln nur in elf Fällen. Warum?“

„Gegenwärtig nur in elf Fällen.“

Frage: „Warum in elf Fällen? Es sind doch mehrere Dutzend Fälle von Toten an der Mauer bekannt.“

„Diese Fälle sind bekannt, aber es gibt keine Anzeigen zu diesen Fällen, und es gibt auch keine Grundlagen gegenwärtig, diese Fälle anzugehen.“

Frage: „Ist nicht eine Staatsanwaltschaft verpflichtet, gegen Gewalttaten zu ermitteln, gegen Gewalttäter zu ermitteln?“

„Das ist Ihre Einschätzung, dass es sich um Gewalttäter handelt.“

Frage: „Nun gab es ja ganz bekannte Fälle, wie zum Beispiel den Tod des Peter Fechter, der an der Mauer verblutete, über eine Stunde dort lag.“

„Dieser Fall ist mir nicht bekannt.“

Der Tod Peter Fechters ist dem obersten Ermittler der Militärstaatsanwaltschaft der DDR nicht bekannt. Diese Fotos gingen immer wieder um die Welt. Der angeschossene 18-Jährige lag im Stacheldraht bis er verblutete. Westberliner, die ihm helfen wollten, ließ man nicht heran. Die Grenzposten hatten vor allem Angst davor, fotografiert oder gefilmt zu werden. Historische Aufnahmen von 1962: Der tote Peter Fechter wird davongetragen. In Westberlin kam es noch am gleichen Tag zu spontanen Demonstrationen gegen die tödlichen Schüsse.

An der Todesstelle ließen die empörten Berliner ihre ohnmächtige Wut ab. Doch die Demonstranten mussten hinnehmen, dass weder Todesschütze noch Befehlsgeber zur Verantwortung gezogen werden konnten.

Demonstranten

„Mörder, Mörder, Mörder...“

28 Jahre erinnerte dieses Mahnkreuz an den Tod von Peter Fechter. Werden Stadtplanung und Straßenbau auch hier bald alle Spuren tilgen? Peter Fechters Schwestern leben noch immer in Berlin.

Ruth Fechter, Schwester

„Die Familie von uns, die ist interessiert, dass praktisch erstmal Anklage wegen Mord und unterlassener Hilfestellung erstmal gemacht wird und dass die Verantwortlichen praktisch nach all den Jahren auch noch zur Verantwortung gezogen werden, denn sowas verjährt nicht in meinen Augen.“

Frage: „Wollen Sie das jetzt hier vor Gericht und mit Staatsanwälten probieren?“

„Also, in diese jetzigen Richter, da habe ich nach wie vor kein Vertrauen. Da würden sie diese Anzeige bestimmt abschmettern. Denn es sitzen ja immer noch, zum Beispiel in der Generalstaatsanwaltschaft, immer noch die alten Leute da. Die gibt es ja immer noch. Auch wenn nur an höchster Stelle gewechselt wurde, aber wenn man richtig mal guckt, da sitzen immer noch die alten Leute. Und da soll ich hingehen? Nein.“

Heinz Bösel, Militäroberstaatsanwalt

„Wir ermitteln in den Fällen, in denen wir Anzeigen haben und sehen gegenwärtig in allen anderen Fällen, von denen Sie sprachen und die mir nicht im Detail bekannt sind, keinen Handlungsbedarf.“

Filmdokumente über die Schüsse auf unbewaffnete Flüchtlinge. Viele verurteilen das als Mord und Totschlag. Doch der DDR-Militärstaatsanwalt sieht keinen Handlungsbedarf für selbständige Ermittlungen.

Heinz Bösel, Militäroberstaatsanwalt

„Die Grenzposten haben auf der Grundlage von Befehlen gehandelt, und wenn Sie heute einen dieser Grenzposten fragen, wird er sich sicherlich weder objektiv noch subjektiv als einen Mörder bezeichnen.“

Noch im letzten Jahr wurde der 20jährige Chris Gueffroy erschossen, weil er das tat, was heute jeder kann. Er wollte nach Westberlin. Zusammen mit seinem Freund Christian Gaudian, der dabei schwer verletzt wurde, versuchte er, über den Grenzstreifen zu laufen. Sie hatten auf Erklärungen von SED-Politikern vertraut, es gäbe keinen Schießbefehl. Beide kamen bis an diesen Zaun, der immer noch die Einschussspuren trägt.

Mutter von Chris Gueffroy

„Jetzt, wo die Grenze offen ist, und wir können uns auch diesen Grenzstreifen hier ansehen, hatte ich damals schon mit meinen Vermutungen recht, dass man die beiden Jungen hätte mit Händen fangen können. Der Grenzstreifen ist so schmal, 12 Grenzer waren da, sie hatten keine Chance. Es hätte niemand schießen brauchen. Es war ein ganz gezielter Schuss. Es ist ja ein ganzes Magazin rausgeknallt worden. Wir haben ja nachts die Schüsse gehört, also ist er richtig gezielt erschossen worden. Ich würde schon wie gesagt eigentlich mal diesen jungen Mann fragen, warum er das gemacht hat. Obwohl ich wie gesagt..., im Prinzip klage ich den Staat an.“

Hartmut Küken, Pressesprecher der DDR-Grenztruppen

Frage: Könnten Sie den Namen der Todesschützen noch feststellen?“

„Wissen Sie, jeder Staat stellt sich vor seine Diener.“

Frage: „Wollen Sie sich schützend vor die Todesschützen stellen oder wie ist das zu verstehen?“

„Wissen Sie, für diese Menschen, das ist schwer vorstellbar, war das ein außerordentlich erschütterndes Grunderlebnis in ihrem Leben. Und schon aus dieser Sicht wäre es mir nicht möglich, hier einen Namen zu nennen.“

Heinz Bösel, Militäroberstaatsanwalt

„Man sollte tatsächlich Überlegungen anstellen, ob es nicht zweckmäßig wäre, künftig eine gewisse Straffreiheitserklärung vorzunehmen, um diesen Menschen, um diesen Grenzsoldaten, die in Ausübung ihres Dienstes die Schusswaffe angewendet haben, eine Brücke zu bauen, und sich auch zu offenbaren.“

Der Staatsanwalt plädiert für Straffreiheit der Todesschützen. Und seine Ermittlungen? Die kommen kaum voran. Bislang wurde im Fall Gueffroy nicht einmal der Mit-Flüchtling Gaudian als Zeuge gehört. Rekonstruktionen am Tatort blieben aus, Unterlagen verschwanden, Angehörige der Grenztruppen verweigern die Aussage.

Heinz Bösel, Militäroberstaatsanwalt

„Wir ermitteln gegenwärtig auf der Grundlage des § 262 des Strafgesetzbuches. Wir untersuchen also, ob die Grenzposten die Dienstvorschriften eingehalten haben oder ob sie Verletzungen der Dienstvorschriften begangen haben.“ Frage: „Das heißt, Mord auf Befehl ist keine Straftat für Sie?“

„Dazu möchte ich mich in diesem Stadium der Ermittlungen nicht äußern.“

Frage: „Nun gab es in der deutschen Geschichte schon einmal das Heranziehen des Befehlsnotstandes. Können Sie das verantworten?“

„Dazu möchte ich gegenwärtig keine Aussagen machen.“

Mutter von Chris Gueffroy

Frage: „Sie haben Anzeige erstattet wegen Tötung. Ermittelt wird von der Staatsanwaltschaft wegen Pflichtverletzung im Dienst.“

„Ja, und trotzdem sage ich, es war Mord. Das ist nicht eine Pflichtverletzung im Dienst gewesen, sondern es war eindeutig Mord. Chris ist von vorne erschossen worden, er hat an dem Zaun gestanden und hat eigentlich schon die Arme hochgehalten. Es gab so viele Tote an der Mauer und das sollte man nicht vergessen. Es gab so viele Eltern, die darüber so unglücklich geworden sind. Ich glaube schon, dass man von diesen Leuten Rechenschaft abverlangen kann, muss sogar. Die können sich jetzt nicht einfach alle dahinter verstecken, dass sie auf Befehl gehandelt haben.“

Hartmut Küken, Pressesprecher der DDR-Grenztruppen

Frage: „War es notwendig, dass ein Grenzer im Grenzdienst schießt?“

„Kontroll- und Überwachungsaufgaben an einer Staatsgrenze sind verbunden mit der Notwendigkeit der Durchsetzung der entsprechenden Gesetzgebung. Es hat in den Grenztruppen niemals ein Muss zum Schießen gegeben.“

Ein bislang streng geheim gehaltener Schießbefehl, der Kontraste jetzt vorliegt, beweist das Gegenteil. Nach dem Mauerbau erging am 6. Oktober 1961 an die Wachen, Posten und Streifen der Grenztruppen an der Staatsgrenze-West ein Befehl vom damaligen Verteidigungsminster Armeegeneral Hoffmann. Darin heißt es ausdrücklich: Die Grenzer sind verpflichtet, die Schusswaffe anzuwenden. Auch für den Fall unbewaffneter Flüchtlinge muss nach Zuruf und Warnschuss sofort scharf geschossen werden. Vermutete man Bewaffnung beim Flüchtling, das konnte schon ein Haken zum Überwinden des Stacheldrahts sein, lautet der Befehl ausdrücklich auf Vernichtung der Person. Dieser Befehl wurde im Lauf der Jahre abgewandelt. Die Schüsse der Grenzer hörten nicht auf. Einen Fluchtversuch am Berliner Übergang Chausseestraße im Jahre 1988, zufällig fotografiert. Das Grenzgesetz von 1982. Es wurde einstimmig von der damaligen Volkskammer beschlossen. Die Grenzer waren auch danach weiterhin berechtigt, auf Flüchtlinge zu schießen. Jeden Tag erging auf dieser Gesetzesgrundlage ein mündlicher Befehl an die Grenzposten.

Ehemaliger Grenzsoldat

„Der eigentliche Schießbefehl wurde täglich mündlich ausgegeben, die sogenannte Vergatterung, in der den Soldaten gesagt wurde, dass Grenzverletzer aufzuspüren, festzunehmen oder zu vernichten sind.“

Chris Gueffroy war der letzte von Vielen, die sterben mussten. Todesschützen oder ihre Befehlsgeber? Wer trägt die Verantwortung?

Günter Moll, Chef vom Checkpoint Charly, Oberstleutnant

„Ich selbst bedauere das persönlich sehr, dass an der Staatsgrenze, aus der heutigen Sicht, solche Dinge passiert sind. Aber ich würde sagen, in erster Linie haben wir der Staats- und Parteiführung gedient und dem Verfassungsgeber, unsere Volkskammer. Und die hat das Grenzgesetz verfasst, und wir wurden befohlen, dieses Grenzgesetz bis ins I-Tüpfelchen durchzusetzen."

Hans Modrow

Frage: „Sehen Sie eine Verantwortung bei dem Volkskammerabgeordneten, die damals dem Grenzgesetz auch zugestimmt haben?“

„Ich glaube, so kann man die Frage nicht stellen, dass man jeden Abgeordneten der Volkskammer der zurückliegenden Legislaturperioden einfach kriminalisieren will.“

Frage: „Aber er hat doch dem Grenzgesetz und damit dem Schusswaffengebrauch an der Grenze zugestimmt.“

„Entschuldigen Sie, in diesem Gesetz ist der Schusswaffengebrauch, von dem Sie sprechen, ja nicht festgelegt, das sind doch Verordnungen und Entscheidungen gewesen, die andere gefällt haben, die dieses Gesetz dann ausgelegt haben.“

Außer Hans Modrow von der PDS sitzen in der Volkskammer auch heute noch mehr Abgeordnete, die damals dem Gesetz über den Schusswaffengebrauch zugestimmt haben.

CDU-Wirtschaftsminister Pohl, Bauernparteichef Maleuda und einige andere gehören dazu.

Gerhard Pohl, Wirtschaftsminister

Frage: „Fühlen Sie sich denn eigentlich mitverantwortlich, weil Sie auch diesem Grenzgesetz zugestimmt haben, für die vielen Schüsse an der Mauer, die ja aufgrund der Waffengebrauchsvorschriften gefallen sind?“

„Nein. Wir hatten ja im Prinzip nur Feigenblattfunktion, das wissen Sie doch selber.“ Mutter von Chris Gueffroy

„Das ist absurd, was man eigentlich macht. Ich kann nicht dieses Gesetz 1982 verabschieden und meine Hand dafür hochhalten und jetzt sitze ich wieder da oben, das geht nicht, aber das ist nun mal so. Und irgendwie werden wir das alles zur Kenntnis nehmen müssen.“

Mit freundlicher Genehmigung des Rundfunk Berlin-Brandenburg

Fussnoten