Nach dem
Definition: „Postkolonialismus“ als Sammelbezeichnung
Am Beginn steht eine Definition von „Postkolonialismus“ als Sammelbezeichnung, handelt es sich doch keineswegs um ein einheitliches Phänomen mit homogener Orientierung und identischer Zielsetzung. Ganz allgemein können mit der Bezeichnung jene Denkansätze erfasst werden, die sich die Erforschung des Kolonialismus und seiner Folgen vorgenommen haben. Daher ist auch von „Postkolonialen Studien“ und „Postkolonialen Theorien“ die Rede. Einschlägige Ansätze gibt es in den Geschichts-, Kultur-, Literatur- oder Sozialwissenschaften, weshalb man es mit einer multidisziplinären Dimension der jeweiligen Forschung zu tun hat. Dabei folgen die Akteure der Annahme, dass Kolonialismuserfahrungen und ihre Folgen in der westlichen Welt nicht hinreichend aufgearbeitet und berücksichtigt würden. Es gehe es um die Schaffung eines stärkeren öffentlichen Bewusstseins, was mitunter mit aktivistischen Engagement verbunden ist. Entsprechend sind in der Forschungslandschaft häufig derartige Gesinnungen vorzufinden, jeweils mit unterschiedlichen Motiven (vgl. z.B. Kerner 20212; Varela 2020).
Mehr zum Thema:
Definition: „Antisemitismus“ im Kontext
„Antisemitismus“ soll als zweiter Begriff definiert werden. Ganz allgemein lautet die Begriffsbestimmung: Es handelt sich um eine Feindschaft gegen Juden als Juden. Demnach hat man es mit einer besonderen Form „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ zu tun. Gleichwohl lässt sich der Antisemitismus klar von anderen Vorurteilen unterscheiden. Während dabei Minderheitenangehörige in der Regel von einem überlegenen Standpunkt aus als minderwertig herabwürdigt werden, kann der Antisemitismus demgegenüber auch von einem unterlegenen Standpunkt mit einem geschlossenen Weltbild ausgehen. Dies muss nicht in allen Fällen von Judenfeindschaft so sein, aber nur im Antisemitismus werden Juden nicht nur herabgewürdigt, sondern zugleich als übermächtig und überlegen imaginiert. Insbesondere beim israelbezogenen Antisemitismus ist dieses Phänomen auch im Zusammenhang mit postkolonialen Theorieansätzen zu beobachten.
Mehr zum Thema: Klaus Holz:
Definition „Israelfeindlichkeit“ im Kontext
Zur Analyse bedarf es noch einer weiteren Definition – und zwar von „Israelfeindlichkeit“. Gemeint ist keine bloße Kritik an der israelischen Regierung in einem differenzierten Sinne, geht es doch um ein pauschales Negativbild vom israelischen Staat. Derartige Auffassungen münden gelegentlich in Judenfeindschaft, was aber nicht in allen Fällen auch von kontextfreien und unfairen Zuschreibungen so sein muss. Denn eine israelfeindliche Auffassung kann auch nicht-antisemitische Motive haben, etwa bei einer pauschalen Palästinasolidarität mit den angeblich Schwächeren. Für Aussagen bezüglich der antisemitischen Israelfeindlichkeit müssten immer einschlägige judenfeindliche Prägungen nachweisbar sein, was auch eine intensivere Analyse mit tiefgründigen Betrachtungen für eine überzeugende Kommentierung nötig macht. In den damit einhergehenden Fragen bestehen die methodischen Schwierigkeiten, wird doch eine differenzierte Deutung, ob etwaige Aussagen im Kontext Israel als eindeutig antisemitisch zu werten sind, gerade durch eine polarisierte Debattenlage häufig nur noch schwer möglich.
Mehr zum Thema: Haury/Holz:
Antisemitismus und Israelfeindlichkeit im Postkolonialismus
Wenden wir uns nun der eigentlichen Fragestellung zu: der postkolonialen Deutung des Nahost-Konflikts und der Deutung von Israel als Kolonialmacht. Hier lässt sich eine polarisierte Zuordnung konstatieren: Die Palästinenser werden in dieser Sichtweise als pauschal Unterworfene wahrgenommen, womit eine klare Opfer- gegenüber einer Täter-Zuschreibung erfolgt. Es gibt demnach eine einseitige Positionierung, gegen die Israelis und für die Palästinenser. Dies erfolgt meist undifferenziert und dadurch in einem israelfeindlichen und nicht nur israelkritischen Sinne. Häufig werden dabei brutale Gewalthandlungen von palästinensischer Seite als legitime Widerstandshandlungen verstanden (vgl. Elbe 2024, Gerber 2021). Angesichts dieser Einseitigkeit stellt sich die Frage, wie es um Antisemitismus und Israelfeindlichkeit im Postkolonialismus als Rezeptionskontext steht.
Fallbeispiel: Der „Orientalismus“ bei Edward Said
Beim ersten Fallbeispiel soll es um das „Orientalismus“-Konzept bei Edward Said gehen, gilt das ebenso betitelte Buch doch als Grundlagenwerk für den Postkolonialismus. Der amerikanisch-palästinensische Literaturwissenschaftler veröffentlichte die einflussreiche Schrift 1978 (Said 1978). Er nahm darin eine Analyse von Darstellungen des Orients in der westlichen Welt vor, wobei die dichotome Deutung von Orient und Westen als essentialistisches Zerrbild kritisiert wurde. Indessen erfolgten auch viele Einwände aus der Forschung gegen Said, etwa hinsichtlich der offenkundigen Auslassungen, fehlender Differenzierungen und des eigenen antiwestlichen Essentialismus (vgl. Khawaja 2018; Teilbaum/Litvak 2022). Bedeutsam wurde fortan die Ausweitung seiner Blickrichtung auf den Nahost-Konflikt, etwa in seinem 1979 erschienenen Buch „The Question of Palestine“ (Said 1979). Demnach seien die dortigen Juden ab 1948 zu neuen Kolonisatoren geworden, hätten sie sich doch mit den „weißen Europäern gegen den farbigen Orientalen“ gestellt. Antisemitismus fand keine Aufmerksamkeit, Israel galt fortan nur noch als Täter (vgl. Harstel 2021; Stossberg 2022).
Mehr zum Thema: Gabriele Metzler:
Fallbeispiel: Achille Mbembe über die israelische Palästinenserpolitik
Der kamerunische Historiker und Philosoph Achille Mbembe ist ein weiterer bekannter Postkolonialismus-Theoretiker. Für Bücher wie „De la postcolonie. Essai sur l’imagination politique dans l’Afrique contemporaine“ (dt.: „Postkolonie: Zur politischen Vorstellungskraft im gegenwärtigen Afrika“) von 2000 erhielt er zahlreiche Preise (Mbembe 2000). Es gab aber auch Einwände hinsichtlich der wissenschaftlichen Qualität seiner Werke, wonach darin eher fragmentarische Reflexionen und weniger eine klare Stringenz zu finden seien. Als er jedoch im Jahr 2020 die Eröffnungsrede zur damaligen Ruhrtriennale halten sollte, löste die Ankündigung hierzulande öffentliche Kritik an Mbembe aus, von Antisemitismus und Israelfeindlichkeit war die Rede. So wurde darauf verwiesen, dass er sich bei unterschiedlichen Gelegenheiten immer wieder zum Nahost-Konflikt geäußert hatte, wobei gegenüber Israel vehemente Vorwürfe erhoben wurden: Es gäbe Apartheid und Kolonialverhältnisse, aber auch eine Politik der Vernichtung. Die Besetzung von Palästina sei der größte Skandal unserer Zeit (vgl. Becker 2021; Pfahl-Traughber 2020). Demgegenüber war etwa der
Mehr zum Thema: Meron Mendel:
Fallbeispiel: Ramón Grosfoguel und eine „zionistische Vernichtungspolitik“
Ein weiteres Beispiel für die gemeinten Deutungen stellt Ramón Grosfoguel dar, ein in Berkeley lehrender Postkolonialismus-Theoretiker und Soziologe (vgl. Grosfoguel 2007). Seine Forschungen sind eigentlich auf Lateinamerika konzentriert, doch gelegentlich äußert er sich auch zum Nahost-Konflikt. Einer dieser Beiträge ist mit „Gaza: The Warsaw Ghetto of the 21st Century“ (dt.: "Gaza: Das Warschauer Ghetto des 21. Jahrhunderts") überschrieben (Grosfoguel 2024) und wurde 2024 im Internet durch die islamismusnahe Nichtregierungsorganisation „Islamic Human Rights Commission“ veröffentlicht, deren selbsterklärtes Ziel u.a. darin besteht, behauptete „Islamophobie“ zu bekämpfen, das aber in Fällen von israelbezogenem Antisemitismus generell schweigt. Eine Gleichsetzung der Handlungen von Israel mit dem Nationalsozialismus kündigt bereits der Titel von Grosfoguels Artikel an. In den folgenden Ausführungen ist dann die Rede von der „genozidalen ethnischen Säuberung Palästinas“ oder einem „genozidalen Siedlerkolonialismus“. Behauptetet werden auch enorme Gemeinsamkeiten der gegen die Juden gerichteten nationalsozialistischen mit der gegen die Palästinenser gerichteten „zionistischen“ Vernichtungspolitik. Für Grosfoguel sind unter den von der militant islamistisch-palästinensischen Hamas am 7. Oktober 2023 getöteten Menschen mehrheitlich militärisches Personal und keine israelischen Zivilisten gewesen.
Fallbeispiel: Judith Butler und „Kritik am Zionismus“
Ähnlich lautende Auffassungen finden sich auch bei Intellektuellen, die nicht direkt dem Postkolonialismus zugeordnet werden können, sich aber mitunter diskursiv in dessen Zusammenhängen bewegen. Judith Butler dürfte hier als bekanntester Fall gelten. Die einflussreiche Gendertheoretikerin versteht sich selbst als Kritikerin des „Zionismus“. Exemplarisch steht dafür ihr Buch „Parting Ways. Jewishness and the Critique of Zionism“ von 2012 (dt. "Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus"), bei dem sie sich mit der Frage beschäftigt, wie eine Kritik am Zionismus aus dem Judentum selbst heraus aussehen könnte bzw. warum diese zwingend notwendig sei. Butler nahm bei verschiedenen Gelegenheiten zum Nahost-Konflikt streitbare Positionen ein. So schrieb sie die Hamas und die islamistisch-schiitische Partei und Miliz Hisbollah 2006 der globalen Linken zu, galten sie ihr doch als fortschrittliche soziale Bewegungen. Butler verurteilte zwar die Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023, sprach aber davon, dass es sich hier um keinen antisemitischen Angriff und um keinen Terror gehandelt habe, da man eher von einem Akt des bewaffneten Widerstands ausgehen müsse. Darauffolgende Antisemitismusvorwürfe dementierte sie mit dem Hinweis auf ihre eigene jüdische Religionszugehörigkeit (vgl. Ermagan 2024; Pfahl-Traughber 2024).
Fallbeispiel: „Historikerstreit 2.0“ um Holocaustdeutungen
Auch unter Historikern kam es zu Konflikten, die aufgrund von Holocaustdeutungen aus postkolonialer Perspektive entstanden („Historikerstreit 2.0“). Ausgangspunkt dafür war der 2021 erschienene Artikel „Der Katechismus der Deutschen“ des australischen Historikers A. Dirk Moses (Moses 2021). Er behauptete darin mit polemischem Einschlag, dass in der deutschen Erinnerungskultur der Holocaust nahezu religiös überhöht werde. Es handele sich um „ein heiliges Trauma, das um keinen Preis durch andere Ereignisse – etwa durch nichtjüdische Opfer oder andere Völkermorde – kontaminiert werden“ dürfe. Dadurch mangele es gegenüber den Kolonialverbrechen an öffentlicher Wahrnehmung. Den Exklusivstatus des Holocaust verteidigten diskursiv „selbsternannte Hohepriester“ als einzige Wahrheit. Gleichzeitig habe diese Auffassung politische Konsequenzen gegenüber Israel, erfolge doch in Deutschland kaum öffentliche Kritik an dessen Politik. In der darauffolgenden Feuilletondebatte ging es insbesondere um die Frage, wie Holocaust und Kolonialverbrechen vergleichend zu sehen seien. Kritiker von Moses und seinen Unterstützern problematisierten, dass die historische Bedeutung des Holocaust so relativiert werde (vgl. Friedländer 2022; Grigat 2023).
Mehr zum Thema: Bajohr/O'Sullivan:
Fallbeispiel: Auseinandersetzung um die „documenta fifteen“
Postkoloniale Auffassungen gibt es auch im kulturellen und nicht nur im politischen Kontext. Dafür stand etwa eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die „documenta fifteen“ in Kassel 2022. Das indonesische Kollektiv „ruangrupa“ hatte dort die künstlerische Leitung. Bereits früh wurden Besonderheiten bei der Gestaltung kritisiert, etwa fehlende Einladungen jüdischer und israelischer Künstler. Ein unterstellter Boykott wurde indessen von den Veranstaltern dementiert. Nach Ausstellungsbeginn kam es dann zu heftiger Kritik, insbesondere bezogen auf eine antisemitische und israelfeindliche Ausrichtung mancher Kunstobjekte. Dazu gehörte insbesondere das Banner „People’s Justice“ von „Taring Padi“, das orthodoxe Juden mit Hakennase, Schläfenlocken, SS-Runen und spitzen Zähnen oder einen mit Davidstern versehenen israelischen Militärangehörigen mit Schweinegesicht zeigte. Da nicht nur die letztgenannte Bebilderung für ein klassisches antisemitisches Stereotyp steht, wurde das Banner „People’s Justice“ nach einschlägigen Protesten verhängt (vgl. Bude/Mendel 2025; RIAS Hessen 2023).
Mehr zum Thema: Meron Mendel:
Anmerkungen zur Frage der Repräsentativität
Bevor eine Analyse zu den Deutungsmustern in den behandelten Fallbeispielen vorgenommen werden soll, bedarf es einiger Anmerkungen zu Diskurskultur und Repräsentativität. Der letztgenannte Aspekt bezieht sich auf die Frage, inwieweit die erwähnten Auffassungen allgemein im Postkolonialismus präsent sind. Dazu sei noch einmal an die einleitende Definition erinnert, wonach es sich um eine Sammelbezeichnung handelt und postkoloniale Studien ein heterogenes Feld darstellen. Eine besondere Auffassung zu Israel gehört dabei nicht zu den konstitutiven Merkmalen, sodass auch die folgenden Erörterungen keineswegs pauschal auf den Postkolonialismus übertragen werden können. Die für postkoloniale Studien konstitutive Kritik am Kolonialismus, Imperialismus oder an globalen Ungleichheitsverhältnissen (meist festgemacht am „Westen“), erhöht indes die Wahrscheinlichkeit, dass die in diesem Feld tätigen Menschen vermehrt eine negative bis skeptische Einstellung gegenüber Israel haben. Daraus ergibt sich aber kein Einklang oder Konsens mit den bisher genannten Fallbeispielen und den darin enthaltenen Positionen. Es erfolgten allerdings häufig auch keine Distanzierungen und Kritiken aus dem Feld des Postkolonialismus heraus, sodass der Eindruck einer ebendort stärker verankerten Orientierung ganz in dem referierten Sinne entstand.
Anmerkungen zur Diskurskultur rund um die Thematik
Darüber hinaus sei die Diskurskultur um die Frage, wie es um Antisemitismus im Postkolonialismus als Rezeptionskontext steht, hinsichtlich des Niveaus und der Polarisierung thematisiert. Die aufkommenden Antisemitismusvorwürfe weisen häufig keine genauere Begründung auf, sondern postulieren einschlägige Einstellungen und Zielsetzungen. Dabei bedient man sich nicht des differenzierten Analyseinstrumentariums aus der Antisemitismusforschung, vielmehr dominieren diskursive Einordnungen mit häufig oberflächlichen Zuschreibungen. Den Einwänden begegnen die Kritisierten mit ähnlicher Pauschalität, wobei gerne Antisemitismusvorwürfe pauschal als politisches Instrument zur moralischen Verleumdung wahrgenommen werden. Einschlägige Debatten eskalieren häufig und münden jeweils in übertriebenen Schuldvorwürfen. Derartige Erfahrungen nötigen zu einem differenzierten Vorgehen, wobei auch die dem Antisemitismus eigenen Erscheinungsformen berücksichtigt werden müssen.
Mehr zum Thema: Klaus Holz:
Latenter und manifester Antisemitismus im postkolonialen Diskurs
Am Beginn steht die Erörterung der Frage, inwieweit Antisemitismus in direkter Form aus dem Postkolonialismus heraus vorgetragen wird. Gemeint ist damit die offene Artikulation einer Feindschaft gegen Juden als Juden, also eine manifeste Form in öffentlichen Statements. Derartige Aussagen findet man meist nicht im postkolonialen Diskurs. Entgegen öffentlichen Bekundungen kann es aber sein, dass Anspielungen auf antisemitische Bilder vorkommen, die als latente Dispositionen alltagskulturelle Verbreitung haben und so breitenwirksam anschlussfähig werden können. So fallen im postkolonialen Diskurs etwa „Auge um Auge“-Denkungsarten wie im Alten Testament (Mbembe) oder Darstellungen von Israelis als Schweine und Blutsauger auf („Taring Padi“). Auch wenn dies einzelnen Akteuren subjektiv nicht oder nicht in ausreichendem Maß bewusst sein sollte oder Judenfeindschaft nicht intendiert ist, bestehen hier doch objektiv latente Antisemitismus-Formen.
Antisemitismus als Leerstelle im Postkolonialismus
Über das qualitative und quantitative Ausmaß derartiger Einstellungen im postkolonialen Spektrum lassen sich keine belegbaren Verallgemeinerungen vornehmen. Gleichzeitig kann man die kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus durchaus als inhaltliche Leerstelle im Postkolonialismus wahrnehmen, ist doch die Judenfeindschaft ebendort als gesondertes Thema kaum von Wichtigkeit. Diese Aussage bezieht sich auf unterschiedliche Ebenen von Positionen: Zunächst lassen dessen Anhänger kaum eine selbstkritische Auseinandersetzung mit antisemitischen Inhalten erkennen, gelten doch einschlägige Aussagen oft als bloße Erscheinungsformen von legitimer „Israelkritik“. Darüber hinaus passt Antisemitismus nicht zum programmatischen Kern des Postkolonialismus, der frühere (und gegenwärtige) Auswirkungen des (Neo-)Kolonialismus eher als Rassismusformen untersuchen will. Und dann gibt es auch Antisemitismus in „antikolonialistischen“ Gruppierungen des „globalen Südens“, wobei dessen Existenz und Gefahrenpotential in der Relevanz in postkolonialen Zusammenhängen häufig negiert werden.
Mehr zum Thema: Karin Stögner:
Einseitige Aufmerksamkeit und mögliche Motive
Darüber hinaus fällt eine besonders einseitige Auffassung zur israelischen Politik auf, die nicht durch ein ausgeprägtes Differenzierungsvermögen und analytische Kontextualisierungen gekennzeichnet ist. In solchen Fällen muss dann eher von Israelfeindlichkeit und weniger von Kritik an der israelischen Politik im Postkolonialismus gesprochen werden. Als Begründung für derartige Einstellungen wird immer wieder auf eine pro-palästinensische Solidarität gegenüber den Unterdrückten verwiesen. Blickt man aber auf das einschlägige Engagement, so lässt sich hier eine selektive Wahrnehmung konstatieren. Denn ausbleibende Hilfen aus arabischen Nachbarstaaten sind kein postkolonialistisches Thema. Gleiches gilt für die im Gazastreifen von der Hamas ausgehende Repressionspolitik. Und auch die in der palästinensischen Autonomiebehörde grassierende massive Korruption wird im Postkolonialismus kaum wahrgenommen. Angesichts dieser Einseitigkeit darf die Frage nach latenten Motiven gestellt werden – und Antisemitismus wäre dafür ein möglicher Bedingungsfaktor.
Israelfeindliche Boykottforderungen mit antisemitischen Konsequenzen
Auch wenn sich postkoloniale Denker meist nicht öffentlich in einem deutlich judenfeindlichen Sinne äußern, so ergeben sich objektiv aus manchen Auffassungen oder Forderungen antisemitische Konsequenzen. Anhand von Boykottforderungen gegen Israel, die auch im Postkolonialismus als Protestform breit akzeptiert werden, lässt sich dieser Kontext in der Wirkung veranschaulichen. Bekanntlich geht diese Agitation von der „Boykott, Desinvestment, Sanctions“ (BDS)-Bewegung aus, welche bei den Anhängern des Postkolonialismus große Zustimmung findet. Dabei haben führende Akteure aus regionalen BDS-Kontexten verschiedentlich bekundet, dass es ihnen auch um die Auflösung des israelischen Staates gehe (vgl. Feuerherdt/Markl 2020; Pfahl-Traughber 2023). Selbst wenn solchen Forderungen keine genuin antisemitischen Motive zugrunde lägen, hätte dies unweigerlich erhebliche Folgen, denn: ohne Israel würden Juden in Nahost keine eigenstaatlichen Schutzrechte mehr haben. Angesichts solcher Folgewirkungen weisen derartigen Boykottforderungen deutlich antisemitische Züge auf.
Mehr zum Thema:
Dualismus von „globalem Süden“ und „kolonialem Westen“
Ein weiteres, näher zu untersuchendes allgemeineres Merkmal des Postkolonialismus ist der behauptete Dualismus von „globalem Süden“ und „kolonialem Westen“. Dabei fällt der Blick einseitig auf die Schattenseiten des Westens, insbesondere der Folgen des Kolonialismus. Dort, wo eine antiwestliche Grundhaltung zu finden ist, folgt häufig auch eine Missachtung oder Negierung positiverer Wertvorstellungen. Dazu gehören die Aufklärung und die Menschenrechte in einem universellen Sinne. Deren Bedeutung wird im postkolonialen Diskurs immer wieder verkannt, insofern sie als angeblich bloßes Herrschaftsmittel einer (neo-)kolonialistischen Machtpolitik gelten. Mit dieser Auffassung beraubt man sich aber der normativen Grundlagen, um den Kolonialismus und dessen bis heute reichenden Folgen einer Kritik zu unterziehen. Die Vorstellung eines unhintergehbaren Dualismus von „globalem Süden“ und „kolonialem Westen“ dürfte auch das öfters zu beobachtende Schweigen gegenüber Diktaturen und Extremismen im „globalen Süden“ erklären. Darüber hinaus wird in der historischen Betrachtung ausgeblendet, dass auch nicht-westliche Akteure als Kolonialmächte wirkten, etwa im Nahen Osten das Osmanische Reich.
Relativierung von Shoah und Totalitarismus
Ein weiteres Feld, das dem postkolonialen Diskurs wiederholt Kritik einbringt, ist das als Relativierung von
Volkhard Knigge:
Interner Link: Äußere Angriffe – Innere Erosionen. Deutsche Erinnerungskultur 2025 .Bajohr/O'Sullivan:
Interner Link: Holocaust, Kolonialismus und NS-Imperialismus. Wissenschaftliche Forschung im Schatten einer polemischen Debatte .
Exkurs: Der 3-D-Test zur Unterscheidung
Bei allen inhaltlichen Einwänden gegen derartige Interpretationen darf aber gefragt werden, ob man es hier immer mit einer antisemitischen Einstellung als erklärte Judenfeindschaft zu tun hat. Bekanntlich gibt es einen „3-D-Test“, benannt nach den Analysekriterien „Dämonisierung“, „Delegitimierung“ und „Doppel-Standards“. Damit sollen antisemitische und nicht-antisemitische Behauptungen zu Israel unterscheidbar werden. Hier besteht aber bei der Anwendung ein methodisches Problem, denn diese Eigenschaften findet man nicht nur in der antisemitischen Israelfeindlichkeit, sondern auch in der nicht-antisemitischen Israelfeindlichkeit. Denn Israelfeindlichkeit gibt es auch aus anderen Motiven, etwa aufgrund einer „antiimperialistischen“ Haltung. Das macht diese Form der Israelfeindlichkeit nicht richtiger, gleichwohl kann sie nicht als Antisemitismus pauschal dem Postkolonialismus zugeschrieben werden.
Mehr zum Thema:
Fazit
Weder existiert Antisemitismus allgemein im Postkolonialismus, noch stellt Israelfeindlichkeit ebendort gar kein Problem dar. Während antisemitische Bekundungen in offener Form kaum vorkommen, lassen sich immer wieder antisemitisch verstehbare Narrative oder Symbole konstatieren. Gelegentlich kursieren auch Gleichsetzungen des historischen Nationalsozialismus mit der israelischen Politik. Derartige Aussagen können, müssen aber nicht einen antisemitischen Hintergrund haben. Demgegenüber liegt Israelfeindlichkeit vor, wenn eine pauschale Unterscheidung zwischen Täter (Israel) und Opfer (Palästinenser) zu beobachten ist. Denn die von der Hamas gegenüber den Palästinensern ausgehende Repressionspolitik ist kaum ein Thema. Dafür erfolgt mitunter eine Apologie der Hamas oder zumindest eine Relativierung, etwa wenn deren brutale Gewalthandlungen wie am 7. Oktober 2023 als nachvollziehbarer „Widerstand“ verklärt werden.