Eine Bewegung, über die nicht berichtet wird, findet nicht statt.
Bürger*innenprotest als Medienevent
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Protestgruppen und soziale Bewegungen erzeugen den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit über die Medien. Damit ist auch ihre Wirkung abhängig von medienwirksamen Inszenierungen und sie unternehmen große Anstrengungen, um medial sichtbar zu werden und zu bleiben.
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Diese zugespitzte Aussage verdeutlicht, wie sehr Protestgruppen und soziale Bewegungen medialer Resonanz bedürfen. Wird über sie nicht berichtet, stehen ihnen keine eigenen Medien zur Verfügung oder werden diese nicht genutzt, so wissen nur wenige um einen Protest: die Aktivisten selbst, zufällig anwesende Zuschauer, die mit dem Protest unmittelbar konfrontierten Adressaten sowie die Personen, die über direkte Kommunikation vom Protest erfahren.
Folglich unternehmen die meisten Protestgruppen große Anstrengungen, um medial sichtbar zu werden und zu bleiben.
Im Kampf um mediale Aufmerksamkeit unterscheiden sich Protestgruppen nicht von vielen anderen Akteuren, darunter Unternehmerverbände, Stiftungen, Gewerkschaften, Kirchen und politische Parteien.
Für Protestgruppen, die eine breite Öffentlichkeit erreichen wollen, ist die mediale Kommunikation von existenzieller Bedeutung. In der Auseinandersetzung um das knappe Gut „öffentliche Aufmerksamkeit“ (und Zustimmung) müssen diese Gruppen nicht nur einen relativ hohen Aufwand betreiben, sondern sich auch besonderer, auf ihre Möglichkeiten abgestimmter Mittel und Techniken bedienen.
Ja die Masse zählt. Das ist die Form von Politik, die einen Unterschied macht.
Medienorientierte Strategien und Inszenierungen von Protestgruppen
Protestgruppen und soziale Bewegungen können im Prinzip unterschiedliche Haltungen zum etablierten Medienbetrieb einnehmen, die sich, in englischsprachiger Terminologie, durch ein vierfaches „a“ kennzeichnen lassen:
abstention (Enthaltung),
attack (Angriff),
adaptation (Anpassung) und
alternatives (Nutzung alternativer Medien).
Mit diesen vier Positionen sind lediglich grundsätzliche Ausrichtungen benannt. Vielfach werden die drei letztgenannten Strategien miteinander kombiniert, um eine breitere Wirkung zu erzielen. Je nach Lage der Dinge können sie sehr unterschiedliche Ausprägungen annehmen und unterschiedliche Randbedingungen nutzen. Im Weiteren soll speziell auf die Strategie der Anpassung an (massen-)mediale Strukturen, Mechanismen und Selektionskriterien eingegangen werden, wobei der Taktik der Inszenierung besondere Beachtung geschenkt wird. Mit dieser Fokussierung wird einem deutlichen Trend innerhalb der Protestlandschaft Rechnung getragen. Hiervon gibt es allerdings markante Ausnahmen. Links- und rechtsradikale Gruppen standen traditionell der Anpassungsstrategie skeptisch gegenüber (wenngleich zu Teilen die mediale Fixierung auf Protestgewalt in Rechnung stellend). Sie zählen auf ihre eigenen Medien. In den letzten Jahren haben sich vor allem rechtspopulistische Gruppen wie
Die öffentliche Präsentation von Protest
Protest kann durch seine Ausgestaltung auf unterschiedliche Grundfunktionen ausgerichtet sein:
den Zusammenhalt der Protestierenden stärken,
Aufmerksamkeit erzielen,
Forderungen zu Gehör bringen,
Problemlösungen propagieren,
Zustimmung und Unterstützung erlangen,
Personen oder Einrichtungen delegitimieren bzw. lächerlich machen,
Drohungen aussenden,
Abläufe stören, blockieren oder verhindern,
physischen Schaden anrichten.
Meist werden mehrere solcher Ziele in einem Protestakt oder in einer Protestkampagne kombiniert, teilweise auch von unterschiedlichen Trägergruppen parallel und in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung verfolgt.
Inszenierung von Protest
Erst wenn die Darstellung des Protests geplant wird oder gar, analog zum Theater oder Film, einer Art von Skript oder Drehbuch folgt, um ganz bestimmte Wirkungen vor allem im Hinblick auf ein Publikum zu erzielen, sollte von einer Inszenierung von Protest gesprochen werden.
Wird die mediale Vermittlung des Protests in Rechnung gestellt oder angestrebt, so zielt die Inszenierung nicht direkt und exklusiv auf den vermuteten „Geschmack“ des Publikums. Vielmehr versuchen die Protestierenden zunächst vor allem den medialen Erwartungen und Mechanismen zu entsprechen, um auf diesem Weg ihr Publikum, ihre speziellen Adressaten oder gar die Weltöffentlichkeit
Um mittels der Inszenierung erwünschte Resonanzen bei Medien und – nachgelagert – auch beim Medienpublikum zu erzielen, können Protestgruppen auf eine Reihe von Techniken zurückgreifen. Einige dieser Mittel, wenngleich ursprünglich auf ein vor Ort anwesendes Publikum ausgerichtet, sind Jahrhunderte alt (z. B. das Verbrennen von Puppen, die einen Gegner verkörpern; das Straßentheater, bei dem „die Obrigkeit“ lächerlich gemacht wird; die Störung der Nachtruhe durch jämmerliche „Katzenmusik“). Andere Techniken wie die sog. Flashmobs, bei denen sich Akteure im Internet zu meist nur wenige Minuten dauernden Protestaktionen verabreden, sind erst mit den modernen audiovisuellen und nachfolgend digitalen Medien, insbesondere
Techniken der medialen Aufmerksamkeitserzeugung
Nachfolgend werden einige der Möglichkeiten, mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen, kurz vorgestellt.
Spektakel
Dazu zählen Auftritte, die aufgrund ihres Neuigkeits- bzw. Überraschungswertes oder auch ihres provokativen Charakters der Sensationslust der Medien entgegenkommen, vielleicht auch Irritationen erzeugen. Beispiele: Ein ironischer Jubelchor von Demonstranten, die mit lautem Beifall die Rede eines scharf kritisierten Politikers verunmöglichen; protestierende Student:innen, die sich nahe des ARD-Hauptstadtstudios nackt in die winterkalte Spree stürzen; Klimaschützer:innen, die Museumsbilder verunstalten, um ihren Forderungen Aufmerksamkeit zu verschaffen.Dramatisierung und Skandalisierung
Ein Sachverhalt, eine Person oder Gruppe wird als nicht hinnehmbar, empörend, gefährlich usw. dargestellt. Beispiele: Unternehmer werden im Zuge eines Arbeitskampfes als Sklavenhalter, Blutsauger, Erpresser oder Ähnliches bezeichnet. Leugner:innen der Corona-Pandemie heften sich einen Judenstern an die Brust, um sich als Opfer staatlicher Zwangsmaßnahmen darzustellen. Aktivist:innen der Letzten Generation treten in den Hungerstreik, um Gespräche mit führenden Politiker:innen zu erzwingen.Personalisierung und Symbolisierung
Ein allgemeiner, vielleicht auch komplexer Sachverhalt wird auf eine anschauliche und greifbare Weise verdichtet und repräsentiert, wobei teilweise auch regelrechte Feindbilder konstruiert werden. Beispiele sind die Darstellung von Personen oder Gruppen als Verkörperung des Bösen schlechthin; das Verunzieren von Porträts auf Wahlplakaten mit einem aufgemalten Hitlerbart; der Abgesang auf historische Errungenschaften (etwa Demokratie oder Pressefreiheit), die in Gestalt eines Sarges zu Grabe getragen werden.Erzählungen
Eine Protesthandlung wird in eine umfassendere historische Traditionslinie, in eine bekannte, auf Tatsachen oder Mythen beruhende Erzählung (Narrativ) eingebettet. Beispiel: Rechtsradikale Gruppen sprechen von „Interner Link: Umvolkung “ oder dem „Großen Austausch“; sie interpretieren ihre Feindschaft gegenüber Flüchtlingen als Ausdruck eines seit Jahrhunderten währenden Kampfes des (christlichen) Abendlandes gegen türkische, arabische oder asiatische Invasoren und erinnern dabei u. a. an die Belagerung Wiens durch ein türkisches Heer.Deutungsstrategien
Durch einen bewusst gewählten Interpretationsrahmen wird ein Sachverhalt in ein bestimmtes Licht gerückt, um damit positive oder negative Assoziationen, Gefühle und Bewertungen auszulösen. Zentrale Elemente einer Deutungsstrategie (engl.Interner Link: Framing ) sind die Problematisierung, die Benennung von Ursachen bzw. Schuldigen sowie das Aufzeigen von Lösungen.
Beispiel: Die zivile Nutzung der Atomkraft wird als eine veraltete, gefährliche und unrentable „Dinosauriertechnologie“ charakterisiert, die durch „sanfte“ und erneuerbare Technologien abzulösen sei.Grenzziehungen und Identitätsbehauptungen
Durch das physische Arrangement der Protestierenden und/oder sonstige Mittel (Kleidung, Symbole, Zeichen, Selbstbezeichnungen usw.) werden Grenzen zwischen „wir“ und „die anderen“ markiert, um nach außen wie nach innen hin Geschlossenheit, Homogenität und kollektive Identität zu behaupten. Abgrenzungen dieser Art können sich auf Teilgruppen innerhalb eines größeren organisatorischen Verbunds, aber auch auf imaginierte Konstrukte wie das Volk als einer Schicksalsgemeinschaft beziehen. Beispiel: Innerhalb eines linken Demonstrationszuges marschiert der „Schwarze Block“. Er stellt sich mittels einer relativ einheitlichen Kleidung (evtl. auch mit vermummten Gesichtern) und durch mitgetragene und meist beschriftete Stoffbahnen, die den Block rundum abgrenzen, als ein Kollektiv dar.
Inszenierungen von Protest als kollektives Produkt
Im Unterschied zur üblichen Theaterinszenierung gibt es bei der Inszenierung von Protest weder eine detaillierte Textvorlage noch einen singulären, für die Gesamtdarstellung verantwortlichen Regisseur, der den „Spielern“ feste Rollen zuweisen und die konkrete Ausführung dieser Rollen vorschreiben könnte. Inszenierungen von Protest sind meist ein kollektives Produkt mit allenfalls groben Vorgaben, deren Einhaltung, geschweige denn konkrete Ausgestaltung, kaum erzwungen werden kann. So passiert es immer wieder, dass radikale Gruppen, zuweilen auch ungebeten, sich dem Protest anschließen und etwaige Absprachen (z. B. einen vorher mühsam ausgehandelten Aktionskonsens oder eine vereinbarte Marschroute) ignorieren oder bewusst durchkreuzen. Das geschah beispielsweise bei Aktionen des linken Blockupy-Bündnisses im März 2015 in Frankfurt/Main, das gegen neoliberale Wirtschaftspolitik im Allgemeinen und das Geschäftsgebaren der Großbanken im Besonderen zu Felde zog. Auch im Zuge der
In anderen Kontexten wird dagegen mit einer Protestkampagne lediglich ein thematischer Rahmen gesetzt, innerhalb dessen diverse, jeweils autonom handelnde Einzelpersonen und Gruppen ihre Form des Protests in Szene setzen. Ein Beispiel dafür boten die sich jeweils über mehrere Tage erstreckenden Proteste gegen die Transporte strahlenden nuklearen Materials in schweren Metallbehältern (Castor) in das atomare Zwischenlager bei Gorleben im Jahr 2010.
Inszenierte Inszenierung: Miet-Demonstranten
Eine seltene Randerscheinung von Protestinszenierungen besteht darin, dass eine finanzstarke Gruppe wie die Kassenärztliche Vereinigung sich im Dezember 2006 dazu hinreißen ließ, über einen Hostessen-Service vermittelte und in weißen Kitteln vor dem Berliner Reichstag auftretende „Miet-Demonstranten“ zu rekrutieren. Offensichtlich waren für den Straßenprotest zu wenig „echte“ Ärzt:innen zu mobilisieren. In Reaktion auf die Veröffentlichung dieses Vorgangs erklärte die Vereinigung, es habe sich um keinen Protest, sondern um den „Abschluss einer
Nutzung und Gestaltung von Randbedingungen des Protestgeschehens
Neben der Ausgestaltung und inhaltlichen Fokussierung der unmittelbaren Protesthandlung können Protestgruppen zudem versuchen, äußere Randbedingungen des Protests zu nutzen bzw. gestaltend darauf einwirken, um dessen mediale Wirkung zu erhöhen. Ein wesentlicher Aspekt hierbei ist die zeitliche, inhaltliche und formale Verknüpfung des Protests mit externen Anlässen und Gegebenheiten. Nachfolgend werden einige dieser Möglichkeiten benannt:
Protest als Ausdruck spontaner Empörung
Der unmittelbare, keinen Aufschub duldende Protest signalisiert eine Authentizität von Motiven und eine Dringlichkeit des reaktiven Protests, dem u. U. eine besondere Legitimität zugesprochen wird. Das zeigt sich auch daran, dass im Versammlungsrecht die auf konkrete Auslöser hin stattfindenden „spontanen“ Aufzüge und Versammlungen von der ansonsten bestehenden Anmeldepflicht befreit sind. Somit kann rasch auf einen Vorfall, etwa eine überraschende militärische Intervention oder einen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim, reagiert werden. Nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch der darauf bezogene Protest kann dann Inhalt von „breaking news“ werden.Protest aus rituellem Anlass
Das Gegenstück zu Spontanprotesten sind regelmäßig wiederkehrende und meist kalendarisch fixierte Proteste, die im Voraus geplant werden und oft in berechenbaren Bahnen verlaufen. Dazu gehören etwa Proteste im Gedenken an Geburts- oder Todestage herausragender Personen (z. B. „Führers Geburtstag“), Ereignisse (Schlachten, Pogrome, Gründungsdaten von Institutionen) oder selbst gesetzten Daten (Internationaler Frauentag am 8. März, 1. Mai als Tag der Arbeit) als Anlass für Protest. Zuweilen suchen Protestierende auch durch die unermüdliche Wiederholung bzw. Fortsetzung ihrer Aktionen Wirkung zu erzielen. So protestierten Angehörige von Personen, die während derInterner Link: argentinischen Militärdiktatur spurlos verschwanden und mutmaßlich getötet wurden, ab April 1977 über Jahrzehnte hinweg jeden Donnerstag auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, um Aufklärung und Strafverfolgung anzumahnen.
Auf derartige Proteste können sich Medien vorab einstellen. Teilweise nehmen darauf schon in einer dem Protest vorausgehenden Berichterstattung Bezug, indem sie etwa über einen Streit unter den Organisatoren, erwartete Teilnehmerzahlen und evtl. drohende Protestgewalt thematisieren. Diese Berichterstattung kann sich je nach ihrer Ausrichtung positiv oder negativ auf die Mobilisierung auswirken.Proteste im Kontext politischer Weichenstellungen und Entscheidungen
Die Chance, dass Proteste mediale Aufmerksamkeit finden, erhöht sich in Phasen, in denen politische Entscheidungen anstehen bzw. gerade getroffen wurden. Dazu gehören Zeiten des politischen Wahlkampfes, Volksentscheide, Gesetzgebungsvorhaben, Regierungsprogramme, Maßnahmen zur Krisenbewältigung (z. B. Pandemien), Entscheidungen über militärische Aktionen und Beschlüsse zu technisch-industriellen Großprojekten. In solchen Phasen herrscht in den Medien eine besondere öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema. Es werden dann u. U. Rechercheteams zusammengestellt; das Pro und Contra der Vorhaben wird ausführlich inInterner Link: Massenmedien erörtert; zuweilen kommen auch Stimmen von Außenseitern zu Wort, die ansonsten kaum Gehör finden würden.Punktuelle Gelegenheiten
Schließlich bieten auch punktuelle Gelegenheiten, die nicht notwendig mit einer politischen Entscheidung verknüpft sind, einen Anlass bzw. Bezugspunkt für Proteste, welche ansonsten mit keiner oder nur geringer medialer Resonanz verbunden wären. Dazu zählen Staatsbesuche von besonders beliebten oder missliebigen Politikern, internationale Gipfeltreffen und Tagungen der Spitzen von EU, Weltbank, Internationalem Währungsfonds, Welthandelsorganisation, Olympische Spiele, politische Skandale, Terroranschläge und technische Katastrophen.
Fast alle dieser Proteste sind reaktiver Art, somit zeitlich und sachlich an äußeren Vorgaben bzw. Ereignissen orientiert. Diese sind Journalist:innen in aller Regel bekannt oder stehen sogar im Zentrum der Berichterstattung. Darauf bezogene Protestaktionen werden dann aufgrund ihrer Vorhersehbarkeit oder ihres konfliktträchtigen Charakters in die ohnehin fällige Berichterstattung aufgenommen oder ein gesonderter Gegenstand von Berichten bzw. Kommentaren. Für manche Medienvertreter kann der Protest eine willkommene Abwechslung insbesondere dann bilden, wenn es vom offiziellen Ereignis nichts Aufregendes zu vermelden gibt.
Protestgruppen können aber auch den Zeitpunkt und Inhalt ihres Auftritts autonom bestimmen, indem sie beispielsweise mit einer proaktiven Aktion oder Kampagne an die Öffentlichkeit treten, die von langer Hand geplant ist. Im günstigen Fall werden sie damit selbst zum
Wandel der Medienarbeit von Protestgruppen
Waren in der weiter zurückliegenden Vergangenheit Proteste meist primär auf die Erwartungen der Teilnehmenden ausgerichtet und suchten ein vor Ort anwesendes Publikum zu beeindrucken, so wurden im Laufe der letzten Jahrzehnte Proteste zunehmend auf mediale Resonanz hin kalkuliert und gestaltet. Es mehren sich zudem Proteste, die ohne die Hoffnung auf mediale Resonanz gar nicht durchgeführt würden.
Sofern Zeitpunkt, Ort und Aktionsform geschickt gewählt sind, kann es einerseits gelingen, mit wenigen Dutzend Protestierenden in die Tagesschau oder das Heute-Journal zu gelangen. Andererseits ist keineswegs garantiert, dass mit der Größe des Protests auch der Umfang der Berichterstattung zunimmt. Diese schmerzliche Erfahrung mussten die Organisatoren einer am 10. Oktober 2015 in Berlin durchgeführten Massendemonstration gegen das Handelsabkommen
Mangelnde oder überwiegend negative Resonanz in den etablierten Medien, aber auch die Abwendung vor allem junger Menschen von den herkömmlichen Medien, verleiten Protestakteure dazu, die vielfältigen Möglichkeiten des Internets zu nutzen. Im Vergleich zu herkömmlichen, in eigener Regie gestalteten „Holzmedien (vor allem Briefsendungen, Broschüren, Flugblätter und Plakate) bietet das Internet eine Reihe von Vorteilen:
geringe Kosten,
hohe Geschwindigkeit,
hohe Reichweite,
Einbindung audiovisuellen Materials
Interaktivität.
Mit der Nutzung des Internets können Protestgruppen zudem die Selektionsmechanismen traditioneller Medien umgehen und ihre Botschaften direkt, ungefiltert und ungekürzt an ein interessiertes Publikum richten. Davon können nicht zuletzt Dissidenten in autoritären Regimen profitieren, deren Stimmen ansonsten ungehört blieben. Das gilt für einzelne Protestakteure im Iran, in Russland, Hongkong und anderswo.
Allerdings steht den genannten Vorteilen des Internets auch eine Reihe von Nachteilen gegenüber. Erstens fehlt bei dieser direkten Kommunikation zwischen Initiatoren und Adressaten von Protestaufrufen die für herkömmliche Qualitätsmedien geltende Überprüfung der Relevanz und des Wahrheitsgehalts von Nachrichten. Ebenso entfällt das Gebot, zwischen Nachricht und Meinung zu trennen. Zweitens kann die Protestkommunikation im Netz durch staatliche Kontrollorgane überwacht und, im Falle autoritärer Regime, durch technische Eingriffe weitgehend unterbunden werden. Vor allem aber wird das Potenzial des Internets insofern überschätzt, als den theoretisch nahezu unbegrenzten Kapazitäten des Netzes nur eine begrenzte Aufmerksamkeit aufseiten der Adressaten gegenübersteht. Zudem wird das Internet nicht nur von den Protestgruppen, sondern auch von Gegenbewegungen und ressourcenstarken Lobbying-Organisationen genutzt. Letztere sind teilweise auch dazu übergegangen, sich fälschlich im Netz als Bürgerinitiativen zu präsentieren (der entsprechende Fachausdruck lautet Astroturfing).
Die zunehmende Medienorientierung nahezu aller auf politischen und ökonomischen Einfluss bedachten Akteure bringt auch aufseiten der Protestgruppen eine Reihe von strukturellen Veränderungen mit sich. Dazu zählen die Trends zur Professionalisierung der Medienarbeit, die ihrerseits wiederum
mit einer fortschreitenden Steigerung des entsprechenden Ressourceneinsatzes sowie
einer Spezialisierung und Verstetigung der Medienarbeit einhergeht.
Ausdruck dessen ist auch die Veröffentlichung von Schriften, in denen Protestgruppen und sozialen Bewegungen Anleitungen für eine professionelle Medienarbeit
Einzelne Bewegungsorganisationen, beispielsweise die Klimaschutzgruppen
In jüngerer Zeit sind überwiegend das Internet nutzende Kampagnenorganisationen aufgebaut worden. In den USA sind dies vor allem MoveOn, in Deutschland Campact.de und eine Reihe kleinerer Gruppen; auf internationaler Ebene agieren avaaz.org und change.org, wobei letztere auch kommerziellen Interessen verfolgen oder zumindest verfolgten, indem sie Adressen verkauften und Geld für Anzeigen (z. B. für gesponserte Petitionen) verlangten.
Vier Kriterien der medialen Beachtung von Protest. (© bpb)
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Massenmedien sind mit einer Flut von Ereignissen und Angeboten (Presseerklärungen, Pressekonferenzen, Agenturberichte, Leserbriefen, User-Kommentaren usw.) konfrontiert, aber haben, mit Ausnahme von Online-Medien, nur begrenzte Aufnahmekapazitäten. Entsprechend rigoros ist die Selektion dessen, was als berichtenswert erachtet wird. Diese Auswahl erfolgt zwar nicht im Einzelfall, aber doch im Prinzip anhand bestimmter Kriterien, angefangen von relativ subjektiven Einschätzungen, Sympathien und Antipathien einzelner Journalist:innen (als
wenn sie einen starken Einfluss auf die Lebenssituation vieler Menschen haben,
wenn es sich um einen Vorgang handelt, der eine weithin bekannte Person betrifft und/oder
wenn das berichtete Ereignis im Verbreitungsgebiet des Mediums liegt.
Zu bevorzugten Nachrichtenwerten zählt auch die Konflikthaltigkeit eines Ereignisses – ein Sachverhalt, der auf viele Proteste zutrifft, allerdings nicht, wie vereinzelt behauptet, ein symbiotisches Verhältnis von Protestgruppen und Medien
unbekannt sind,
nur eine diffuse Struktur ohne eindeutig verantwortliche oder legitimierte Repräsentanten aufweisen und
teilweise widersprüchliche Signale aussenden.
Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass Proteste vor allem dann mediale Beachtung finden, wenn sie eines oder sogar mehrere der folgenden vier Kriterien erfüllen:
hohe Teilnehmerzahl,
hoher Konflikt- bzw. Radikalitätsgrad (insbesondere in Verbindung mit Sach- und Personenschaden),
Einzigartigkeit oder kreative Ausgestaltung der Protestform,
Beteiligung von gesellschaftlich einflussreichen Gruppen bzw. prominenten Personen.
Die Chance auf Berichterstattung wird zusätzlich erhöht, wenn mindestens eines dieser Merkmale wider Erwarten erfüllt wird, z. B. wenn weitaus mehr Menschen als zuvor geschätzt teilnehmen oder wenn ein im Vorfeld als friedlich eingestufter Protest plötzlich in Gewalt umschlägt. Die Chance auf Berichterstattung wird auch davon beeinflusst, in welcher Phase einer Themenwelle ein Protest platziert ist. Wird ein Thema, etwa forciert durch ein großes
Der Zyklus der Medienaufmerksamkeit (issue attention cycle) (© bpb)
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Der Zyklus der Medienaufmerksamkeit (issue attention cycle) (© bpb)
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Generell gilt, dass etablierte Medien immer nur einen Teil des tatsächlichen Protestgeschehens abbilden und abbilden können. Von den derzeit jährlich rund 7.000 behördlich registrierten Protesten in Berlin werden nur einige Hundert in wenigstens einer der Berliner Zeitungen erwähnt. Und nur ein noch kleinerer Teil findet sich wiederum in den bundesweit vertriebenen großen Tageszeitungen, ganz zu schweigen von der Berichterstattung bundesweiter Fernsehsender. Ähnlich restriktive Selektionsmuster wurden auch für die USA und für Frankreich ermittelt.
Neben der Frage, ob ein Protest überhaupt in den Medien auftaucht (selection bias), ist auch von Bedeutung, was bzw. wie über den Protest berichtet wird (description bias). Das betrifft die Platzierung und Ausführlichkeit der Darstellung, die Anreicherung mit Bildern, die Hervorhebung bestimmter Aspekte (Inhalt, Form, Personen, Organisationen, Folgen usw.), die direkte oder indirekte Verwendung von Zitaten, offene oder subtile journalistische Bewertungen, Ergänzungen durch Interviews, Statistiken und vieles andere. Ein und derselbe Protest kann somit allein durch die Auswahl von Aspekten des Berichts in eher positivem oder eher negativem Licht dargestellt werden. Beispielsweise kann ein Fernsehbericht über eine große Friedensdemonstration einige zottelige Gestalten, am Boden verstreute Abfälle oder einen hysterisch wirkenden Redner in den Blick rücken und damit negative Assoziationen hervorrufen, während ein anderer Bericht auf eine teilnehmende Familie mit Kleinkindern, bunte Luftballons, originelle Plakate und einen zündenden Redebeitrag fokussiert.
Zusammenfassung und Ausblick
Im Kampf um das knappe Gut öffentliche Aufmerksamkeit haben Protestgruppen in den letzten Jahrzehnten in ihrer Summe wohl an Boden gewonnen, zumal Protest zunehmend als eine legitime und weithin auch rationale Form der Interessenvertretung gilt. Inzwischen greifen auch vormals protestabstinente Gruppen, etwa Polizeigewerkschaften oder Ärzte- und Apothekerverbände, zu diesem Mittel, weil ihm immer weniger das Image von Quertreibern oder Systemveränderern anhaftet, es Aufmerksamkeit verspricht und zunehmend als ein potenziell effektives Mittel der Einflussnahme gesehen wird. Mit der wachsenden Zahl der Protestanliegen und Protestgruppen muss allerdings ein immer größerer Aufwand getrieben werden, um in der Konkurrenz mit anderen Akteuren bestehen zu können. Der Wettbewerb auf immer höherer Stufenleiter, sichtbar u. a. am Beispiel elektronisch eingeholter Unterschriftensammlungen für eine Vielzahl von Protestanliegen, führt jedoch zu keiner größeren medialen Präsenz der jeweiligen Gruppe oder Aktion in den etablierten Massenmedien. Aktionen, deren Teilnehmerzahlen deutlich unter den zuletzt erreichten Spitzenwerten bleiben, vermögen somit kaum zu beeindrucken. Unter diesen Bedingungen kann, wie in der Frühphase von Pegida geschehen, die Verweigerung gegenüber den als „Lügenpresse“ gescholtenen Medien sogar, wenngleich nur vorübergehend, eine besonders große mediale Beachtung hervorrufen.
Internet als Protestmedium?
Einen Ausweg aus dem strukturellen Engpass der Kapazitätsgrenze etablierter Medien scheint das Internet samt den sozialen Medien zu bieten. Das Aufnahmevolumen des Netzes ist nahezu unendlich; der technische und finanzielle Aufwand für die Verbreitung von Botschaften ist überschaubar. Davon profitieren auch die Online-Formate herkömmlicher Medien sowie die neu entstandenen Gruppen und Einrichtungen des Online-Journalismus, darunter T-Online, das Netzwerk Recherche und das Medienunternehmen Correctiv. Die digitale Kommunikation verspricht Protestgruppen bei geringem Aufwand eine hohe Reichweite. Vor allem ermöglicht sie Botschaften, die selbst formuliert und gestaltet sind, also nicht den Filter professioneller Beurteilung durch Gatekeeper durchlaufen müssen. Dem Internet wurde auch zugeschrieben, die Chancen ressourcenschwacher Akteure, Öffentlichkeit zu erlangen, zu verbessern, den Informationsstand der Bevölkerung zu steigern, durch interaktive Kommunikationswerkzeuge gesellschaftliche und politische Partizipation zu fördern und insgesamt zu einer Demokratisierung öffentlicher Kommunikation beizutragen.
Begrenzte Aufmerksamkeitsspirale auch im Internet
Die Konkurrenz um knappe Aufmerksamkeit setzt sich auch im Internet fort: Etablierte Offline-Medien wie „Der Spiegel“, „Focus“ und „Die Zeit“ nehmen auch im Online-Bereich (zumindest bei Nachrichten) eine dominierende Stellung ein, die jedoch längerfristig dadurch gefährdet wird, dass vor allem ein wachsender Teil der jüngeren Generationen dazu tendiert, ausschließlich Online-Formate zu nutzen. Allerdings bedeutet der Vorzug einer potenziell weltweiten Sichtbarkeit von Online-Angeboten keine faktische Sichtbarkeit angesichts der Flut von Angeboten und der Filterung durch Suchmaschinen. Das gilt auch für Protestgruppen. Während sich die Zahl der Aufrufe zu Unterschriften, Protesten, Geldspenden usw. fortlaufend erhöht, bleiben Aufnahmekapazitäten und Unterstützungsleistungen auf der Nutzerseite eng begrenzt.
Die auf Quantität setzenden, netzbasierten Kampagnenorganisationen sind in einen sich allmählich erschöpfenden Überbietungswettlauf mit ihresgleichen und anderen Akteuren eingetreten, sodass die schiere Anzahl von Mausklicks wenig Eindruck zu erzeugen vermag, teilweise auch andere und aufwendigere Aktivitätsformen zu verdrängen droht, wie es die Kritik am „Clicktivism“
Das Internet bietet zudem einen Raum für Gerüchte, Falschmeldungen, Verschwörungstheorien, Beschimpfungen etc. Jürgen Habermas spricht von „den wüsten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen“
Die Verlagerung eines Teils der Protestkommunikation in das Internet ist somit hochgradig ambivalent. Manche Gruppen, gleich welcher politischer oder weltanschaulicher Ausrichtung, können davon profitieren und ihren Adressatenkreis enorm erweitern. So kann die Kampagnenorganisation Campact über ihren Verteiler derzeit direkte Botschaften und Protestaufrufe an rund drei Millionen Menschen richten. Ebenso vermögen Social Media die Kommunikation über politische Themen und die Mobilisierung für Protest zu intensivieren und auszuweiten.
Es spricht wenig dafür, dass im Feld der Protestpolitik die Kommunikation unter Anwesenden bedeutungslos wird, dass der herkömmliche Straßenprotest und dass aufwendigere Formen des Engagements ausgedient haben. Davon zeugen die aktuellen Protestaktionen von Klimaschützer:innen, Landwirten, Mieter:innen, Rechtsradikalen sowie deren Gegner:innen. Protestformen, die physische Präsenz und persönliche Opfer verlangen, vermögen das Publikum wie auch politische Entscheidungsträger:innen eher zu beeindrucken als Abertausende von Klicks und Likes. Das ist auch ein Grund, warum das Volumen des Straßenprotests bei allen kurzfristigen Schwankungen in einer Reihe von Ländern doch eher zu- als abnimmt.
Rolle der etablierten Medien
Auch und gerade mit Blick auf Proteste zeigt sich, dass die herkömmlichen Massenmedien keineswegs einen maßstabsgetreuen Ausschnitt des tatsächlichen Protestgeschehens bieten. Sie zeigen nur die Spitze eines weitaus größeren Eisbergs. Das gilt in erster Linie für die Zahl der Protestereignisse, weniger dagegen für die Zahl der Protestteilnehmer:innen. Letztere wird in ihrem Gesamtbild stark durch relativ wenige Massenproteste bestimmt, die in aller Regel in den etablierten Medien erwähnt werden. Dagegen findet das Gros meist kleinen und unspektakulären Protestereignisse keinen Eingang in die überregionale Berichterstattung.
Das Bild des Eisbergs hinkt also insofern, als im Falle der Proteste die „Konsistenz“ der sichtbaren Teile deutlich von der der unsichtbaren Teile abweicht. Massenhafte, konfliktgeladene und insbesondere gewalthaltige Proteste, als originell geltende Proteste und solche mit der Unterstützung prominenter Organisationen und Personen sind in der medialen Darstellung stark überrepräsentiert. In diesem Sinne stellen die herkömmlichen Medien keineswegs einen „Spiegel“ des Geschehens dar. Vielmehr selektieren, platzieren, beleuchten, betonen und bewerten sie das, was gesehen und kommentiert werden soll. Das trifft in vieler Hinsicht auch auf jene Proteste zu, die im Internet dargestellt, beworben, gefeiert oder auch kritisiert werden.
Weitere Inhalte
Dieter Rucht, Prof. em. für Soziologie, geb. 1946 in Kempten/Allgäu, Seine Forschungsschwerpunkte sind: politischer Protest, soziale Bewegungen, politische Öffentlichkeit und Bürgerbeteiligung.