Themen Mediathek Shop Lernen Veranstaltungen kurz&knapp Die bpb Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen Mehr Artikel im

Antisemitismus in Lateinamerika | Antisemitismus | bpb.de

Antisemitismus Was heißt Antisemitismus? Glossar Antisemitismus Antisemitismus-Definitionen Was ist moderner Antisemitismus? Was heißt Antisemitismus? In der extremen und populistischen Rechten Sekundärer Antisemitismus Israelbezogener Antisemitismus Islamischer Antisemitismus Antizionistischer und israelfeindlicher Antisemitismus Antisemitismus im linken Spektrum Geschichte des Antisemitismus Von der Antike bis zur Neuzeit 19. und 20. Jahrhundert Krisenbewusstsein damals und heute Flucht und Vertreibung von Juden aus den arabischen Ländern "Antizionismus" in der frühen DDR Aktuelle Phänomene, Strömungen, Debatten Intersektionalität und Antisemitismus Holocaust, Kolonialismus und NS-Imperialismus Antisemitische Einstellungsmuster in der Mitte der Gesellschaft Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft Postkolonialismus Antisemitismus in der BDS-Kampagne Antisemitische Verschwörungstheorien Antisemitismus im Internet und den sozialen Medien Antisemitismus im deutschsprachigen Rap und Pop Extreme Rechte und rechter Terror im Netz Aktueller Antisemitismus Antisemitismus bei Muslimen Antisemitismus weltweit Europa Frankreich Gaza-Krieg Großbritannien Iran Lateinamerika Österreich Polen Spanien USA Der Feindschaft begegnen Antisemitismus als justizielle Herausforderung Video: Der Interreligiöse Chor Frankfurt Video: Begegnungsprojekt "Meet a Jew" Prävention und Intervention in sozialen Medien Antisemitismus in der praktischen Bildungsarbeit "Mohamed und Anna" Einleitung Historischer Kontext Überlegungen zum Einsatz im Unterricht Sechs Unterrichtsideen Israelbezogener Antisemitismus an Schulen Antisemitismus in der Schule Debatte um die Position Irans Rede Ahmadinedschads Iran und Israel Polemik: Israel muss weg! Standpunkt: Ahmadinejads Mission Redaktion

Antisemitismus in Lateinamerika

Christoph Joppich

/ 19 Minuten zu lesen

Antisemitismus und Lateinamerika werden nur selten miteinander in Verbindung gebracht. Üblicherweise wird die Judenfeindschaft als ein wahlweise europäisches, westasiatisches oder nordamerikanisches Problem betrachtet. Damit wird der Antisemitismus in Lateinamerika pauschal unterschätzt oder missverstanden, da er regelmäßig zu einem Gegenstand politischer Konflikte wird.

Am 18. Juli 1994 zerstörte eine Autobombenexplosion das Gebäude des jüdischen Gemeindeszentrums AMIA in Buenos Aires. Dabei wurden 85 Menschen getötet und über 300 verletzt. (© picture-alliance/dpa, dpaweb | Daniel Luna)

Antisemitismus ist ein globales Phänomen. Lateinamerika ist dabei eine Region, die – grundsätzlich, aber auch bezogen auf Antisemitismus – verkürzt wahrgenommen wird. Der kolumbianische Autor Gabriel García Márquez bezeichnete dieses Phänomen als „Einsamkeit Lateinamerikas“: Einerseits wird der Subkontinent wie eine etwas defizitäre Verlängerung von Europa oder Nordamerika verstanden. Andererseits wird er mit europabezogenen Wunschbildern belegt, die der lateinamerikanischen Realität überhaupt nicht gerecht werden.

Hinführung: Wie über Antisemitismus und Lateinamerika nachdenken?

Antisemitismus in Lateinamerika wird daher erst ersichtlich, wenn man ihn vor dem Hintergrund der lateinamerikanischen Gesellschaften selbst deutet. Blicken wir auf die zeitgenössische Situation vor Ort, erscheint der Antisemitismus zunächst als relevantes Kriterium politischer Konflikte: Die großen sozialen Bewegungen Lateinamerikas mobilisieren immer wieder in seinem Zeichen gegen den jüdischen Staat. Linksliberale Leitmedien streuen antizionistische Gerüchte, die von Verschwörungstheorien nicht mehr zu scheiden sind. Die Feminismos Populares, eine in den 1970er Jahren entstandene feministische Bewegung in Lateinamerika, veröffentlichte noch 2023 ein Manifest, das Holocaust-Verharmlosung, die Dämonisierung Israels als Apartheid- und Kolonialregime sowie ein Verschweigen der sexuellen Gewaltverbrechen durch die Hamas am 7. Oktober 2023 propagierte. Auf einer feministischen Demonstration in Uruguay 2024 wurde der aufgespießte Kopf einer Jüdin zur Schau gestellt. Im selben Jahr erfolgte ein Angriff auf die israelische Botschaft Mexikos, propalästinensische Demonstrant:innen steckten sie in Brand. Mexikos linke Präsidentin Claudia Sheinbaum, ihrerseits Jüdin, betreibt eine Auflösung dieser Identität in die mexikanische Nationalmasse durch Kokettieren mit katholischen und palästinensischen Symboliken. Als Brasiliens Präsident Lula Anfang 2024 das Vorgehen Israels in Gaza mit dem Holocaust verglich, pflichteten ihm u.a. Kolumbiens Präsident Gustavo Petro und Boliviens Präsident Luis Acre bei. Bei der UN Generalversammlung im September 2025 zog Chiles Präsident Gabriel Boric ebenfalls einen Holocaust-Vergleich. Sowohl Petro, Acre als auch Boric brachen schon 2023 ihre diplomatischen Beziehungen zu Israel ab. Gleichzeitig entstehen neue (rechts)populistische Parteien, die sich zwar pro-israelisch geben, den Antisemitismus aber innenpolitisch durch Verschwörungstheorien oder Rechtsextreme in den eigenen Reihen instrumentalisieren. Dies gilt etwa für Javier Milei in Argentinien, Jair Bolsonaro in Brasilien oder Nayib Bukele in El Salvador.

Das Massaker palästinensischer Terroristen in Südisrael vom 7. Oktober 2023 sowie der militärische Gegenschlag Israels bieten einen situativen Rahmen, vorhandenen Antisemitismus offen(er) auszuleben. Dies gilt gleichermaßen weltweit wie spezifisch in Lateinamerika. Die Empirie bestätigt diesen Eindruck: seit Oktober 2023 sind die Zahlen antisemitischer Taten in der Region gestiegen, häufen sich aber lediglich auf einen festen Sockel, den es zuvor schon gab. Das Neue an der aktuellen Situation ist, dass Antisemitismus vermehrt als legitime Meinung, als ‚Teil des Diskurses‘ gilt. Das aber ist bereits selber Teil der antisemitischen Gewaltstruktur und verschafft der Aggression gegen Jüdinnen:Juden seine Berechtigung. Antisemitismus wird daher erst in seinem Kontext deutlich. Diese gesellschaftlichen und geschichtlichen Umstände des Antisemitismus in Lateinamerika, seine Entstehung und Gegenwart, sollen im Folgenden nachgezeichnet werden.

Die Entstehung: Lateinamerikas Umwege in eine kapitalistische Moderne

Schon der traditionelle Antisemitismus spielte in der Eroberung Amerikas durch Spanien und Portugal eine wichtige Rolle. Das Jahr 1492 kennzeichnet nicht nur die Ankunft von Christopher Kolumbus in der Karibik, sondern auch die Interner Link: Vertreibung der jüdischen Sepharden und Sephardinnen aus dem spanischen Königreich. Die sogenannte Limpieza de Sangre („Blutreinheit“), ein frührassistisches Konzept, das die Vertreibung legitimierte, diente später auch zur Hierarchisierung der kolonialisierten Bevölkerungsgruppen Amerikas. Sie rechtfertigte damit die Kolonialpolitik der spanischen Krone: Die mörderische Versklavung von Indigenen und Schwarzen, ein Existenzverbot für jüdisches Leben sowie die zweitrangige Stellung in Amerika geborener Spanier:innen. Letzteren, den sogenannten kreolischen Eliten, gelang im Windschatten aufklärerischer Ideen, einer sich globalisierenden Marktwirtschaft sowie der Interner Link: Revolutionen von Nordamerika, Interner Link: Haiti und Interner Link: Frankreich, letztlich der Bruch mit der iberischen Kolonialherrschaft. In den 1820er Jahren wurden fast alle spanischen Vizekönigreiche zu Republiken umgeformt, Brasilien wurde eine von Portugal unabhängige Monarchie.

Für die Interner Link: Unabhängigkeitsrevolutionen stand ein antikolonialer Patriotismus Pate, universale Bürgerrechte waren nachrangig, die alten kolonialen Handels- und Rechtsstrukturen wurden jahrzehntelang beibehalten. So wurde zwar die kolonialstaatliche Diskriminierung abgeschafft, eine Gleichstellung von Jüdinnen:Juden (oder anderen Gruppen) aber blieb aus. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Staatenbildung durch liberale Reformen konsolidiert. Die meisten Verfassungen der Region stammen aus dieser Zeit. Sie etablierten nationale Integration und zivilrechtliche Strukturen. Diese Reformära führte zu einer Eingliederung Lateinamerikas in den kapitalistischen Weltmarkt – jedoch unter imperialen Vorzeichen: Die lateinamerikanischen Staaten waren vom Export einzelner Rohstoffe und damit von der Nachfrage und dem Kapitalfluss nordatlantischer Industriestaaten abhängig. Ironisch-kritisch wird das Lateinamerika des 19. Jahrhunderts daher als ein inoffizieller Teil des British Empires gezählt. Die Renditen dieser Exportökonomien wiederum wurden nicht auf Arbeitskräfte umverteilt oder in industrialisierende Wirtschaftszweige investiert, sondern dienten der Bereicherung der wirtschaftlich und politisch dominanten Elite der Großgrundbesitzer. Dieses System war und ist äußerst anfällig: Einerseits sorgten Auslandsverschuldung und Nachfrageeinbrüche für regelmäßige Produktions- und Finanzkrisen. Andererseits verfehlte diese oligarchische, quasifeudale Organisation eine Integration der Bevölkerungsmehrheit, die sowohl von politischer als auch ökonomischer Freiheit und Teilhabe ausgeschlossen wurde und ab der Jahrhundertwende mitunter heftig dagegen rebellierte. Die Proteste umfassten nationalistische, bürgerliche, radikalliberale, sozialistische und sozialrevolutionäre Bewegungen, teilweise gleichzeitig oder in Konkurrenz zueinander – manchmal als „Nationalpopulismus“ zusammengefasst. Zögerlich setzen Urbanisierung und Industrialisierung ein.

Mit dieser modernisierenden Aufhebung der kirchlichen, nachkolonialen und vormodernen Autoritäten verlor der traditionelle Antisemitismus an Bedeutung, gleichzeitig wurde jedoch der Nährboden für seine moderne Fortführung gelegt. Gerade in Argentinien, aber nicht nur, bildeten sich innerhalb der herrschenden Elite frühfaschistische Kreise, die die liberalen Umbrüche antisemitisch deuteten. In ihren Schriften wurden Jüdinnen:Juden gleichermaßen für Finanzkrisen, die Aktivitäten der Arbeiterbewegung, das Problem der Prostitution, Massenarmut, die Emanzipation der Frau, Hedonismus, Liberalisierung und kulturelle Vermischung – sprich: für moderne Veränderung prinzipiell – verantwortlich gemacht. Der Strukturwandel solch umfassender Art wurde als eine jüdische Verschwörung phantasiert, die durch ein ethnisch-homogenes, ständisches, theokratisches und patriarchales Gemeinwesen bekämpft werden sollte. Die katholische Kirche befeuerte diese Vorstellungen und machte sie zunehmend massenfähig. Gleichzeitig zu den sozialen Revolutionen in Kontinentaleuropa 1918/1919 kam es in mehreren Ländern Südamerikas zu Pogromen und Massakern an Jüdinnen:Juden, die als Drahtzieher einer bolschewistischen Bedrohung dämonisiert wurden. Insbesondere die „Tragische Woche“ („Semana Trágica“) in Buenos Aires (1919), bei der etwa hundert jüdische Menschen binnen weniger Tage im Zuge der Niederschlagung eines Arbeitskampfes ermordet wurden, steht sinnbildlich für den nun sich herausgebildeten modernen Antisemitismus in Lateinamerika.

Wie in Europa und Japan bildeten sich auch in Lateinamerika faschistische Parteien, die meist aus völkisch-nationalistischen Tendenzen der alten Eliten hervorgingen und als Gegner des Liberalismus und Kommunismus auftraten. Ihnen gelang es jedoch kaum, Vorherrschaften zu etablieren. Die hegemoniale Bewegung, die Lateinamerika in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert bestimmte, war nicht der Faschismus, sondern der Nationalpopulismus: Eine je nach Kontext demokratisierende Kraft, die die Krisenzeit der 1930er und 1940er Jahre bewältigte und die oligarchischen Exportsysteme größtenteils in soziale Marktwirtschaften umstrukturierte. Kennzeichen dieser Entwicklung waren Liberalisierung, Umverteilung und partielle Industrialisierung. Die nationalpopulistischen Regime waren zwar häufig keine ausdrücklichen Gegner des Antisemitismus, trugen aber durch eine integrative Wirkung ihrer Politik zu einer Eindämmung des Antisemitismus bei – was durchaus widersprüchliche Verhältnisse zu Interner Link: Faschismus und Interner Link: Nationalsozialismus hervorbrachte: Der argentinische Interner Link: Peronismus etwa, der aus einer faschistischen Tradition hervorging, letztendlich aber populistische Formen annahm, war verantwortlich für die Interner Link: Aufnahme Hunderter NS-Kriegsverbrecher, unter ihnen Interner Link: Adolf Eichmann und Josef Mengele. Obwohl Präsident Juan Domingo Perón den Antisemitismus öffentlich diskreditierte, florierten antisemitische Ressentiments in seinem gigantischen Beamtenapparat; fast alle relevanten antisemitischen Bewegungen Argentiniens seither weisen eine peronistische Pfadabhängigkeit auf. Voraus gingen dem Peronismus eineinhalb Jahrzehnte massiver faschistischer Agitation, die den Antisemitismus – anders als in vielen anderen Ländern der Region – in weite Bevölkerungsteile verbreitete. Anders die mexikanische Sozialdemokratie: Als Siegerpartei der mexikanischen Revolution (1910-1920) präsentierte sie sich in den 1930er Jahren dezidiert antifaschistisch. Ihr Präsident Lázaro Cárdenas (1934-1940) gewährte etwa dem russisch-jüdischen Revolutionär Leo Trotzki oder der spanischen Linken Asyl. Dennoch war die mexikanische Revolution in ihrer Hochphase auch von einer antisemitischen Stimmung geprägt, sowohl auf Seiten der konservativen Reaktion als auch der liberalen bis linksradikalen Opposition. Und auch in den nationalpopulistischen Episoden Chiles, Costa Ricas, Boliviens sowie Brasiliens wurde Antisemitismus kurzzeitig oder wiederholt funktionalisiert. Verglichen mit der Zeit nach dem ersten Weltkrieg – als die antisemitische Gewalt sich noch in Pogromen und Massakern ausdrückte – und erst recht im Vergleich zu Europa und auch Asien, spielte der Antisemitismus in Lateinamerika in einer Zeit faschistischer Expansion eine verhältnismäßig eher untergeordnete Rolle.

Obwohl Lateinamerika das „Zeitalter der Katastrophen“ (Eric Hobsbawm) durchaus unbeschadet durchstand, blieb die Region von den Implikationen des Interner Link: Holocausts nicht unberührt. Für den globalen Antisemitismus zogen die Niederlage des transnationalen Faschismus und der Übergang vom zweiten Weltkrieg zur Blockkonfrontation zwischen den Siegermächten einen Formwechsel nach sich. Das Ressentiment war fortan von einer psychischen Verdrängung des „Zivilisationsbruchs“ (Dan Diner) bestimmt – in der Hitze des Kalten Krieges fand die Erinnerung an Auschwitz keinen Platz. Einerseits erfuhr der Antisemitismus so eine augenscheinliche Diskreditierung, beide Lager – die Sowjetunion und die USA – legitimierten sich über die Abgrenzung zu den Nazi-Verbrechen. Andererseits erlebte der Antisemitismus ein Fortleben, denn seine gesellschaftlichen Bedingungen wurden in der Nachkriegsära nicht hinreichend bearbeitet, teilweise gar restauriert – so dass er sich letztlich in die konkurrierenden Blöcke integrierte. Diese paradoxe Situation – Fortleben bei gleichzeitiger Verdrängung – führte dazu, dass der Antisemitismus weiter existieren konnte, ohne sofort als solcher erkennbar zu sein. Ein Antisemitismus, der sowohl trotz als auch wegen Auschwitz existiert. Er nährte sich, auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs und jenseits dessen, mit diversen Stoffen aus Interner Link: Verschwörungstheorien, Interner Link: Holocaust-Leugnung, Interner Link: Antizionismus, Interner Link: Chauvinismus und Interner Link: Antikapitalismus. Dabei erscheint er wie losgelöst von Jüdinnen:Juden: Er richtet sich wahlweise an „die“ Eliten, die Erinnerung an das Verbrechen, den jüdischen Staat Israel, Schmarotzer, „Parteibonzen“ oder Banker – seine Gewalt jedoch betrifft stets konkrete Jüdinnen:Juden.

War der Antisemitismus in Lateinamerika bis hierhin vor allem eine Domäne der konservativen bis faschistischen Rechten, kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Entmischung, die insbesondere am Peronismus in Argentinien deutlich wird. Als Bewegung mit faschistischen Wurzeln wurde er 1945 in freien Wahlen gewählt, nicht zuletzt durch eine Interner Link: korporative Sozialpolitik, die Perón die Loyalität großer Bevölkerungsmassen sicherte. Mit dem Aufziehen des Kalten Krieges trat seine faschistische Programmatik in den Hintergrund und er suchte einen sozialen, tendenziell blockfreien Kurs. Dabei wurde seine Bewegung zunehmend von den Fliehkräften der Systemkonkurrenz zerrissen. Ein linker, gewerkschaftlicher und in Teilen sozialrevolutionärer Flügel sowie ein rechter, marktliberaler und in Teilen neofaschistischer Flügel kämpften jahrelang um die Vorherrschaft, parteipolitisch sowie im ganzen Land. Dieser Konflikt reflektierte nicht nur den Kalten Krieg, sondern mündete ab den 1970er Jahren in einen Bürgerkrieg zwischen marxistischer Guerilla und rechtsextremen Terrormilizen. Interessant ist der Umstand, dass beide Lager den Antisemitismus funktionalisierten, wenn auch unter recht verschiedenen Vorzeichen. Für die Linken war er, in Form eines vulgären Antizionismus, eine Feinderklärung und ein Mittel zur Rechtfertigung ihrer terroristischen Praxis gegen den globalen Imperialismus, als dessen Agenten die USA und Israel erklärt wurden. Für die Rechten wiederum bildete er nach wie vor die Grundlage der eigenen Weltanschauung, die eine jüdische Infiltration der organisch-katholischen argentinischen Nation behauptete.

Wie kam es zu dieser Doppelung? Es ist wichtig, dies prinzipiell als Spiegelbild des Interner Link: Kalten Kriegs zu verstehen, der keine politische Bewegung unberührt ließ. Zweifelsohne brachten die rechtsextremen Kräfte den Antisemitismus aus der ersten Jahrhunderthälfte mit. Die antisemitische Neigung der Linken jedoch ist komplizierter, veranschaulichen lässt sie sich an der Kubanischen Revolution: Jene entsprang, anders als häufig angenommen, einer Tradition des Sozialliberalismus. Sie war ein später Nationalpopulismus, kein parteikommunistisches Projekt. Interner Link: Fidel Castro etwa erschien nicht als Sozialist auf der Bildfläche, sondern berief sich auf Kubas sozialliberale Verfassung von 1940, die der Autokrat Fulgencio Batista 1952 durch einen Putsch beseitigt hatte. Das Interner Link: nachrevolutionäre Kuba war Israel sogar freundlich gesinnt – gab diese Haltung aber im Laufe der 1960er Jahre auf. Als zentraler Wendepunkt dieser Entwicklung muss die Trikontinentale Konferenz von Havanna (1966) betrachtet werden, auf der nahezu alle antikolonialen Befreiungsbewegungen und entkolonialisierten Nationalstaaten weltweit teilnahmen. Hier erwirkten die Vertreter des Interner Link: panarabischen Nationalismus, der seinerseits weniger eine antikoloniale als eine ultranationalistische Kraft war, eine Umdeutung des israelisch-arabischen Konflikts: von einem Staatenkrieg zwischen der arabischen Liga und Israel zu einem antikolonialen Befreiungskampf Palästinas, der Israel als imperialistische Kolonialmacht beschwor. Diese Verdrehung hatte freilich keine historische oder empirische Substanz, vielmehr sah sich Israel damals kontinuierlichen Vernichtungsversuchen seitens des arabischen Nationalismus ausgesetzt. Die Nützlichkeit der Umdeutung bestand darin, den Antisemitismus als Moment dekolonialer Emanzipation, als Befreiung der Unterdrückten zu codieren. Israel wie Palästina boten und bieten hierfür Projektionsflächen eigener ungelöster Widersprüche. So wurde der Antizionismus von weiten Teilen der Linken funktionalisiert: als „Zauberformel“ (Detlev Claussen), die die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und die Komplexität des Realkonflikts ausblendet.

Die nun hervortretenden Guerilla-Bewegungen Lateinamerikas, die den Erfolg Kubas nachahmen wollten, machten sich diese Weltanschauung zu Eigen. Viele von ihnen kooperierten mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und legitimierten ihren eigenen Kampf als Teil eines weltweiten Konflikts zwischen Unterdrückten und Unterdrückern, wobei Israel letzteren zugerechnet wurde. Die Bedeutung von Interner Link: Auschwitz, als Gipfel jahrhundertealter antisemitischer Verfolgung und Hintergrund der Gründung Israels, wurde in einem projektiven Dritte-Welt-Nationalismus aufgelöst. Der Holocaust verschwand hinter der Ideologie antiimperialistischer Befreiung. Der Versuch der unterschiedlichen lateinamerikanischen Guerilla-Bewegungen jedoch, die Region vom – wie sie es sahen – imperialistisch-kapitalistischen Joch zu befreien, misslang. Einzig in Nicaragua eroberte 1979 die linksgerichtete Sandinistische Front mühselig die Staatsmacht. In der Folge verschwand die kleine jüdische Gemeinde in dem Land fast vollständig, nachdem die Enteignung jüdischer Unternehmer sowie der Synagoge von Managua, die mit antizionistischen Parolen beschmiert wurde, zu primären Amtshandlungen der neuen Machthaber wurden.

In nahezu allen anderen Ländern Lateinamerikas wurde die Guerilla ausgelöscht. Unter US-amerikanischer Schirmherrschaft errichtete die faschistische Rechte sukzessiv Militärdiktaturen, die nicht nur oppositionelle Kräfte jeder Art verfolgten und ermordeten, sondern auch die nationalpopulistischen Wohlfahrtsstaaten abschliffen und den Süden als antikommunistischen Faustpfand des Nordens etablierten. Anhand Argentiniens Beispiel wird nun auch das Doppelte verständlich: Wie ihre Bundesgenossen funktionalisierten die 1969/70 entstandenen linksperonistischen Montoneros, die größte und wichtigste Guerilla Argentiniens, den Antizionismus zur Legitimation ihrer Weltanschauung. Ihr gegenüber standen die diversen rechtsperonistischen Todesschwadronen, die nicht nur systematisch Linke – peronistisch oder nicht – ermordeten, sondern eine regelrechte Terrorwelle gegen jüdische Ziele entfesselten. 1976 intervenierte das argentinische Militär; doch anstatt die konkurrierenden peronistischen Banden in die Schranken zu weisen, wurden weite Teile des Neofaschismus – peronistisch oder nicht – absorbiert und als parastaatliche Milizen gegen die Linke eingesetzt. Die nun errichtete Interner Link: Militärdiktatur Proceso (1976-1983) ermordete binnen weniger Jahre bis zu 30.000 Menschen, zehn Prozent waren Jüdinnen:Juden. Offiziell sollte die nationale Sicherheit durch die Elimination ‚subversiver Elemente‘ wiederhergestellt werden, faktisch wurde eine systematische Ausrottung der Guerilla durch eine von völkischem und faschistischem Antisemitismus geprägten Diktatur betrieben. Die Erfahrungen jüdischer Häftlinge in den argentinischen Folterlagern der 1970er und 1980er Jahre sind die einer gezielten Vernichtung, nicht weil sie links, sondern weil sie jüdisch waren. Zwar zielte die Tötungskampagne nicht auf die argentinischen Jüdinnen:Juden als Ganzes ab, doch die antisemitische Gewaltpraxis innerhalb der argentinischen Gefängnisse ähnelte denen des Völkermords – eine „Wiederaufführung des Holocausts“ (Federico Finchelstein): Die antisemitischen Täter imaginierten sich als finale Vollstrecker der Nazis und quälten ihre jüdischen Opfer mit höhnenden Bezugnahmen auf Hitler, den NS und Auschwitz.

Die Gegenwart: Vor und nach dem 7. Oktober

Mit dem Zerfall des Ostblocks und dem Prozess der Multipolarisierung vergangener Jahrzehnte entmischte sich auch der Antisemitismus zusehends. Paradigmatisch erscheinen die drei antisemitischen Anschläge von 1992 und 1994: In Buenos Aires wurde zunächst am 17. März 1992 die israelische Botschaft Ziel eines Terrorangriffs, bei dem 29 Menschen starben und 242 verletzt wurden; zwei Jahre später dann kam es zum schwersten Bombenanschlag in der argentinischen Geschichte, als am 18. Juli 1994 eine Autobombenexplosion das Gebäude des jüdischen Gemeindeszentrums AMIA zerstörte und 85 Menschen tötete sowie über 300 verletzte. Bis heute wurde niemand verhaftet oder strafrechtlich verfolgt, Ermittlungen zufolge wurden die Taten von der Interner Link: libanesischen Hisbollah im Auftrag des Iran durchgeführt.

Gedenktafel für die Opfer des Bombenanschlags auf das jüdische Zentrum AMIA am 18. Juli 1994 in Buenos Aires, Argentinien (Aufnahmedatum: 18.07.2024). (© picture-alliance/AP, Natacha Pisarenko)

Einen Tag nach dem AMIA-Anschlag erfolgte die Sprengung eines panamaischen Flugzeugs, zwölf der 21 Passagiere waren jüdisch; inzwischen haben US-Behörden festgestellt, dass die Hisbollah für den Bombenanschlag verantwortlich war. Auch diese Taten hingen letztlich trotz ihrer außerregionalen Urheberschaft mit jener bisher beschriebenen Fortdauer des Antisemitismus in Lateinamerika zusammen.

Dem Kalten Krieg folgte in den 1990er Jahren ein genereller „Epochenwechsel“ (Maristella Svampa): Die Rechte sah sich zunächst für ihre Menschheitsverbrechen moralisch und juristisch diskreditiert. Paradoxerweise waren es die überlebenden Reste der Guerilla, die nun zur dominanten politischen Kraft wurden. In den restaurierten Demokratien formierten sie sich als populistische Parteien links der Mitte, nach 1998 regierten sie in jedem Land der Region zumindest kurzzeitig. Ermöglicht wurde dieser Umschwung durch eine zähe ökonomische Krise, die mit dem globalen Wachstumsrückgang seit den 1970er Jahren und der neoliberalen Umstrukturierung seitens der Militärdiktaturen eingesetzt hatte. Ab den 2000er Jahren gelang es den progressiven Regierungen, die lateinamerikanischen Wohlfahrtssysteme zu sanieren und damit breitflächige Unterstützungsstrukturen aufzubauen. Allerdings lässt sich seit der Weltwirtschaftskrise 2008 eine rückläufige Tendenz beobachten: Mit dem Preisverfall ging auch zunehmend ein verschärfter Ressourcen- und Demokratieabbau einher. Ihre Legitimation, eine großzügige Sozialpolitik auf Basis massenhafter Rohstoffexporte, erodiert seither.

Der Antisemitismus ist dabei – allerdings durchaus auch schon vor 2008 – ein nützliches Mittel, mit dem viele progressive Regierungen versuchen, eine autoritäre innergesellschaftliche Kohäsion zu bilden. Interner Link: Venezuela, das sich in den letzten Jahrzehnten in eine Diktatur verwandelt hat, sticht hierbei heraus. Als Hugo Chávez 1998 das Präsidentenamt erlangte, lebten etwa 25.000 jüdische Menschen in dem Land – mittlerweile hat der Großteil der jüdischen Gemeinde das Land verlassen. Das Regime hat – auch unter seinem Interner Link: Nachfolger Nicolás Maduro – den Antisemitismus in seinem gigantischen Klientel-Apparat aus Milizionär:innen, Funktionär:innen und Staatspropaganda eingeimpft: Die Opposition, Misswirtschaft, ausländische Sanktionen, Krebserkrankungen des Ex-Präsidenten Hugo Chávez, Kritik überhaupt werden als zionistische Verschwörung gebrandmarkt. Erst im November 2025 bezeichnete Maduro die Militäraktionen der USA in der Südkaribik als Werk „ultrarechter Zionisten“ und „imperialistischer Dämonen“, die Venezuela „den Teufeln ausliefern wollen“. Hier, wie schon auf der Trikontinentalen Konferenz oder in Nicaragua, sehen wir die Essenz eines jeden Antisemitismus: Gehetzt wird gegen Zionismus, Israel, Imperialismus oder die USA – aber es sind immer reale Jüdinnen:Juden, die nach Razzien, Mobbing und Repressionen das Land verlassen (müssen).

Auch wenn Venezuela und Nicaragua im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern herausstechen, vereint alle progressiven Regierungen eine außen- und wirtschaftspolitische Abkehr vom Westen. Insbesondere die totalitären Regime aus China, Russland und eben dem Iran treten vermehrt als neue Handelspartner der Region auf, wobei Nicaragua und Venezuela als regelrechte Brückenköpfe dieser antiwestlichen Achse bewertet werden müssen. Dennoch vollziehen auch die großen Regionalmächte Mexiko, Brasilien und (zumindest bis zur Wahl Mileis) Argentinien zum Teil diese Umorientierung. Insbesondere aber Bolivien (v.a. in Person des Präsidenten Evo Morales 2006 bis 2019), Ecuador (v.a. in Person Rafael Correas, Präsident 2007 bis 2017), Venezuela und Nicaragua gingen seit den 2000er Jahren enge Bündnisse mit dem Iran ein und fielen durch Mobilisierung gegen Israel auf – was durchaus als Legitimationsideologie ihrer Herrschaft zu betrachten ist.

Die Funktionalisierung antisemitischer Agitation ist also ein immer wiederkehrender Bestandteil lateinamerikanischer Geschichte, seitdem die spanische Krone die ‚neue Welt‘ brutal einverleibt hat. Neben Venezuela und Nicaragua nutzen auch vermeintlich ‚moderatere‘ progressive Regierungen gegenwärtig die Gelegenheit, sich des Antisemitismus verstärkt als Instrument zu bedienen. Darauf verweisen jüngste Entwicklungen in Chile, Bolivien, Kolumbien, Brasilien und Mexiko, die dem offenen Antisemitismus aus Nicaragua oder Venezuela zunehmend ähneln. Dieses Phänomen, das sich als ein ‚progressivistischer‘ oder ‚neopopulistischer Antizionismus‘ fassen lässt, hat sich innerhalb der zeitgenössischen Parteilinken Lateinamerikas nahezu verallgemeinert. Es reicht aber weiter als die eingangs zitierten Äußerungen von Lula, Boric oder Petro. Immer wieder folg(t)en auf verbale Attacken dieser Art konkrete Taten, die Jüdinnen:Juden in Lateinamerika – völlig losgelöst vom Nahostkonflikt – unmittelbar betreffen.

Einige ausgewählte Beispiele: In Venezuela wurde ein bewaffneter Überfall auf eine Synagoge in Caracas, der im Klima des Gaza-Krieges 2008/2009 stattfand, durch wochenlange antiisraelische Agitation seitens der Regierung samt Abbruch diplomatischer Beziehungen vorgezeichnet. Die beteiligten Milizionäre entpuppten sich als Mitglieder der Polizei von Caracas, die zwei Jahre später formal aufgelöst wurde und Teil der regierungseigenen Nationalpolizei wurde. Auf Drängen der jüdischen Gemeinde wurden die Täter verurteilt, nichtsdestotrotz markiert 2009 das Stichjahr, in dem der Antisemitismus vollends in die Staatspropaganda und Gewaltpraxis Hugo Chavez' integriert wurde; der Entzug einer Grundlage für jüdisches Leben in Venezuela war damit besiegelt, so dass von den etwa 25.000 Juden, die bei Chávez' Amtsantritt 1998 in Venezuela lebten, heute nur noch wenige Tausend übrig geblieben sind.

Auch in Bolivien gab es 2014 eine Reihe von Anschlägen auf jüdische Einrichtungen, nachdem der damalige Präsident Evo Morales die diplomatischen Beziehungen zu Israel abbrach, ein Einreiseverbot für Israelis verhing und den jüdischen Staat zum „Terrorstaat“ erklärte. Trotz dieser von ihm mit befeuerten Gewalt war die jüdische Gemeinde gleichzeitig darauf angewiesen, um staatliche Hilfe bzw. Unterstützung zu bitten. Und auch der Angriff auf die israelische Botschaft Mexikos 2024 folgte auf den Anschluss der linken Regierung an die Völkermordklage Südafrikas gegen Israel vor dem internationalen Gerichtshof. Paradigmatisch zeigt sich der Zusammenhang zwischen regierungsoffizieller Agitation gegen Israel und Angriffen gegen jüdische Einrichtungen aktuell in Chile: 2025 gab es mehrere Anschläge auf die Synagoge in der Hauptstadt Santiago seitens propalästinensischer Gruppen. Der Pressesprecher der jüdischen Gemeinde, Gabriel Silber, kritisierte die sich häufende antizionistische Mobilmachung von Gabriel Boric als „Nährboden“ dieser Gewalt und machte ihn für die Taten mitverantwortlich; gleichzeitig war er darauf angewiesen, ihn und das staatliche Gewaltmonopol um Unterstützung zu bitten.

Dieser ‚neopopulistische Antizionismus‘ der progressiven Regierungen wurde also schon einige Zeit vor dem 7. Oktober 2023 offenbar. Wir können diese Vorgeschichte als eindringliche Warnung dafür hinnehmen, dass ‚judenfreie Gegenden‘ überall dort Wirklichkeit werden, wo Antisemitismus sich mit der Herrschaft samt ihren Gefolgsleuten verbindet. Die Bedrohung der aktuellen Situation liegt, wie bereits erwähnt, an der schier uferlosen Umbezeichnung des Antisemitismus von einer Gewaltpraxis zu einer nicht nur legitimen, sondern scheinbar richtigen Meinung. Eine ‚zweite Diaspora‘ der Jüdinnen:Juden Lateinamerikas ist kein falscher Alarmismus. Allerdings besteht kein zwingender Zusammenhang zwischen Antisemitismus und der lateinamerikanischen Parteilinken: Vergangene und aktuelle Vertreter aus ihren Reihen, die Sozialdemokraten Nestor Kirchner (Präsident Argentiniens 2003-2007), Yamandú Orsi (Präsident Uruguays seit 2024) und Bernardo Arévalo (Präsident Guatemalas seit 2024), positionierten sich dezidiert israelfreundlich und entspannten die Situation vor Ort.

Neben der Parteilinken ist der Antisemitismus aktuell großes Problem innerhalb der sozialen Bewegungen Lateinamerikas, die zur Speerspitze antiisraelischer Proteste und Mobilisierung geworden sind. Dass aus diesem Bereich heraus antisemitische Angriffe ausgehen, wie sie exemplarisch zu Beginn des Textes benannt wurden, ist eine relativ neue Entwicklung, die erst mit dem 7. Oktober 2023 begonnen hat. In den Jahrzehnten zuvor war der Antizionismus kein Kriterium der sozialen Bewegungen. Vielmehr entsagten sie den autoritären Traditionen der Guerilla und bildeten eine undogmatische Opposition sowohl zum Linkspopulismus als auch seinem rechten Gegenstück. Lange Zeit waren die sozialen Bewegungen scharfe Kritiker:innen der progressiven Regierungen, sie kreideten deren Exportpolitik, Etatismus und Entdemokratisierung an. Noch 2009 organisierten sie in Brasilien einen Protest gegen Lulas Iranpolitik, hier wurden gleichermaßen Brasilien-, Pride- und Israelfahnen geschwenkt. Dem Nahen Osten begegneten sie mit Desinteresse; im Vordergrund standen konkrete politische Probleme wie Interner Link: Extraktivismus, Interner Link: Femizide und indigene Gleichberechtigung. Diese Distanz scheint sich binnen weniger Monate aufgelöst zu haben, nicht zuletzt weil die sozialen Bewegungen in den letzten Jahren einen zunehmenden Bedeutungsverlust erfuhren. Als Antidot zu den progressiven Regierungen, gerade in Fragen des Antisemitismus, scheiden sie damit aus.

Damit schwenkt das Gros fortschrittlicher Kräfte in der Region auf eine Funktionalisierung des Antisemitismus um. Während die progressiven Regierungen so ihre immanenten Krisen kaschieren, scheint der Antisemitismus für die sozialen Bewegungen ein Mittel zu sein, sich erneut Bedeutung zu verschaffen im Angesicht wachsender politischer Ausweglosigkeit. Die selbsternannte, vom Iran ins Leben gerufene Interner Link: ‚Achse des Widerstandes‘ steht gleichermaßen hinter den Taten von 1992, 1994 und 2023. Die zeitgenössische antizionistische Agitation aber, von den progressiven Regierungen wie von den sozialen Bewegungen – und besonders frappant jene, die sich pro-iranisch positioniert –, rechtfertigt die Attentate der 1990er Jahre nun nachträglich. Man stellt sich auf die Seite der Täter; mit den jüdischen Opfern damals und heute wird sich entsolidarisiert. So werden Forderungen nach einem Kriegsende in Gaza nicht bzw. nur selten mit der Freilassung der Geiseln verbunden, ebenso wie der (militante) Islamismus in der Regel nicht als Problem adressiert oder erkannt wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vergleiche dazu Gabriel García Márquez (1998), La soledad de América Latina, in: Revista de la Red Intercátedras de Historia de América Latina Contemporánea 1/1, S. 9-13.

  2. Vergleiche Christoph Joppich (2025a), Israelbezogener Antisemitismus in Lateinamerika: Genese und Gegenwart, in: Stephan Grigat, CARS Working Paper Reihe #29, S. 12f.; siehe ebenda für eine Kontextualisierung der weiteren Beispiele.

  3. Vergleiche Elisa Kriza (2025), The Convergence of Pro-Russian and Antisemitic Narratives in Latin-American Media in Response to the Wars in Ukraine and in the Middle East, Konferenz-Paper in: Mid-Term Conference of the Research Network Ethnic Relations, Racism and Antisemitism of the European Sociological Association.

  4. Vergleiche Declaracíon Feminista (2023), Como feministas decimos No al genocidio en gaza. Una declaración feminista en solidaridad con el pueblo palestino. Externer Link: https://feministresearchonviolence.org/como-feministas-no-podemos-permanecer-en-silencio-como-feministas-decimos-no-al-genocidio-en-palestina-english-below-francais-en-bas-italiano-sotto-portugues-aba/.

  5. Vergleiche La Diaria (2024), Declararon cinco manifestantes del 8M acusadas de antisemitismo. Externer Link: https://www.youtube.com/shorts/RoOEJx_YOC8.

  6. Vergleiche The Jewish Chronicle (2024), Rioters set fire to Israeli embassy in Mexico City. Externer Link: https://www.thejc.com/news/world/rioters-set-fire-to-israeli-embassy-in-mexico-city-tr3313lu.

  7. Vergleiche Joppich (2025a), S. 6.

  8. Vergleiche ebenda, S. 13f.

  9. Für eine Diskussion zu dieser Empirie vergleiche ebenda, S. 4-6. Die Zahlen der Anti-Defamation League (ADL), die Antisemitismus weltweit und über längere Zeiträume mit relativ simplen Items statistisch erfasst, bestätigt für fast alle Länder der Region einen Anstieg antisemitischer Einstellungen in den vergangenen Jahren, vergleiche ADL (2024), Trended Global 100 Index Scores, in: The ADL Global 100:Index of Antisemitism. Externer Link: https://www.adl.org/adl-global-100-index-antisemitism.

  10. Zu dieser Rolle der spanischen Inquisition im modernen Antisemitismus vergleiche Detlev Claussen (1987), Vom Judenhass zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten Geschichte, Darmstadt: Luchterhand. S. 7-47; Für eine gute Einführung in die koloniale Eroberung Amerikas vergleiche Tzvetan Todorov (1985), Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

  11. Zu dieser komplizierten, langwierigen Phase lateinamerikanischer Staatenbildung und zum Prozess der Unabhängigkeit vergleiche Stefan Rinke (2010), Revolutionen in Lateinamerika. Wege in die Unabhängigkeit 1760-1830, München: C.H. Beck; sowie Peter Waldmann (2022), Oligarchie in Lateinamerika. Dominante Familiennetzwerke im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York: Campus für die anschließende liberal-oligarchische Phase.

  12. Zum Begriff des Nationalpopulismus vergleiche Hans-Jürgen Puhle (1994), Unabhängigkeit, Staatenbildung und gesellschaftliche Entwicklung in Nord- und Südamerika, in: Detlef Junker/Dieter Nohlen/Hartmut Sangmeister: Lateinamerika am Ende des 20. Jahrhunderts, München: Beck, S. 27-48.

  13. Vergleiche zu diesen Ausführungen: Daniel Lvovich (2003), Nacionalismo y Antisemitismo en la Argentina, Buenos Aires: Javier Vergara; Federico Finchelstein (2014), The Ideological Origins of the Dirty War. Fascism, Populism, and Dictatorship in Twentieth-Century Argentina, Oxford: University Press, S. 1-64; Amy Kaminsky (2021), The Other/Argentina. Jews, Gender, and Sexuality in the Making of a Modern Nation, New York: State University Press; Christoph Joppich (2025b): Antisemitismus in Lateinamerika. Eine kritische Gesellschaftsgeschichte von der Unabhängigkeit bis in die Gegenwart, Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich, S. 28-41.; zur Semana Trágica vergleiche ebenda S. 34-41 und Marcel Dimentstein (2009), En busca de un pogrom perdido: Diáspora judía, política y políticas de la memoria en torno a la Semana Trágica de 1919 (1919-1999), in: Socihistorica (25), S. 103-122.

  14. Vergleiche dazu erneut Puhle (1994).

  15. Zum Verhältnis von Faschismus, Peronismus und Antisemitismus vergleiche Joppich (2025b), S. 41-52 sowie Daniel Lvovich (2006), El golpe de Estado de 1943, Perón y el problema del antisemitismo, in: García, Marcela (Hrsg.): Fascismo y antifascismo. Peronismo y antiperonismo. Frankfurt am Main/Madrid: Verveurt; zur peronistischen Nazi-Fluchthilfeorganisation vergleiche Uki Goñi (2007), Odessa – die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher, Berlin/Hamburg: Assoziation A.

  16. Vergleiche hierzu Claudio Lomnitz (2010), El antisemitismo y la ideología de la revolución mexicana, Ciudad de México: Centzontle.

  17. Für Brasilien vergleiche Maria Luiza Tucci Carneiro (1989): O Anti-Semitismo na Era Vargas. Fantasmas de Uma Geração (1930–1945), São Paulo: Editora Brasiliense; für die anderen genannten Länder und darüber hinaus Luis Roninger/Leonardo Senkman (2023): Shifting Patterns of Antisemitism in Latin America: Xenophobia, Exclusion, and Inclusion, in: Latin American Research Review, 58/2, S. 405–410.

  18. Vergleiche Eric Hobsbawm (2002), Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München: dtv.

  19. Vergleiche Dan Diner (1988), Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main: Fischer.

  20. Vergleiche zu diesen Gedanken Claussen (2005), S. VII-XVII und 7-83.

  21. Vergleiche zu dieser Entwicklung Joppich (2025b), S. 53-80.

  22. Vergleiche dazu Margarita Lerman (2020), Kubas schwieriges Verhältnis zu Israel. Antizionismus als außenpolitische Agenda? Externer Link: https://geschichtedergegenwart.ch/kubas-schwieriges-verhaeltnis-zu-israel-antizionismus-als-aussenpolitische-agenda/.

  23. Vergleiche Joppich (2025b), S. 53-80; und (2025a), S. 6-8; zum Begriff der „Zauberformel“ (S. 11) sowie einer guten allgemeinen Einführung zur Entstehung des linken Antisemitismus im Kalten Krieg vergleiche Detlev Claussen (2018), Versuch über den Antizionismus. Ein Rückblick, in: Léon Poliakov, Vom Antizionismus zum Antisemitismus, Freiburg im Breisgau: ça ira, S. 7-22.

  24. Zur – sehr kargen – Quellenlage über das Verhältnis von Guerilla und Antisemitismus vergleiche Joppich (2025a), S. 6-10 sowie ausführlicher Joppich (2025b), S. 64-80.

  25. Vergleiche hierzu ebenda, S. 57-64 und 104-111.

  26. Finchelstein (2014), S. 143

  27. Für eine gute und drastische Analyse des Antisemitismus in der rechten Militärdiktatur Argentiniens vergleiche ebenda, S. 137-168.

  28. Vergleiche hierzu außerdem Joppich (2025a), S. 81-97.

  29. Eine hervorragende Analyse zur Triade progressive Regierungen, soziale Bewegungen und ökonomische Entwicklung in Lateinamerika seit den 1990er Jahren hat Maristella Svampa (2020) mit: Epochenwechsel in Lateinamerika. Progressive Regierungen, Extraktivismus und soziale Bewegungen, Münster: Unrast vorgelegt.

  30. Für einen guten Überblick zur Entwicklung des Antisemitismus in Venezuela, insbesondere im Hinblick auf die Beziehungen zum Iran, vergleiche Isaac Caro/Isabel Rodríguez (2009) und Margarita Sépulveda (2018). Frühe ideologiekritische Analysen zur Charakteristik des chavistischen Regimes finden sich bei Philipp Lenhard (2007; 2008). Beides, die Realität Venezuelas und die Rolle des Antisemitismus, werden in der Zeitschrift sans phrase in einem Interview mit Sascha Kählß (vergleiche Radonic/Scheit 2014) und in einem Bericht von Michaela Sivich (2019) geschildert.

  31. Vergleiche The Jerusalem Post (2025), Maduro: Zionists trying to hand Venezuela to 'devils' amid US tensions. Externer Link: https://www.jpost.com/international/article-874215.

  32. Vergleiche zu diesen Entwicklungen Joppich (2025b), S. 10-12.

  33. Vergleiche BBC (2009), Synagogue desecrated in Venezuela. Externer Link: http://news.bbc.co.uk/2/hi/americas/7863356.stm.

  34. Vergleiche dazu insbesondere Sépulveda (2018), S. 243-245.

  35. Vergleiche Iton Gadol (2014), Un grupo judío americano pide al presidente de Bolivia que actúe contra el antisemitismo. Externer Link: https://itongadol.com/noticias/81569-un-grupo-judio-americano-pide-al-presidente-de-bolivia-que-actue-contra-el-antisemitismo.

  36. Vergleiche Iton Gadol (2014).

  37. Vergleiche DNews (2025), El gobierno chileno anunció medidas contra los ataques antisemitas. Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=ybJ5cnmdgks.

  38. Vergleiche für diese Ausführungen Joppich (2025b), S. 10-14.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Christoph Joppich für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Weitere Inhalte

Christoph Joppich hat Soziologie, Lateinamerikanistik und Politikwissenschaften studiert. Er forscht zu Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus in Lateinamerika und untersucht, wie gesellschaftliche Transformationsprozesse in der Region die Gestalt des Antisemitismus verändert haben und beeinflussen. Aktuell verfolgt er ein Promotionsprojekt zu diesem Thema am Passauer Lehrstuhl für Soziologie bei Professorin Karin Stögner.