Die Geldtransporter der Banken nutzen das Verkehrskreuz Central sehr rege, ebenso wie Zeitungstransporter. Man trifft auf alle sozialen Schichten; Zeitungen und Bildschirme überbringen Nachrichten aus aller Welt, das Transportwesen boomt bis nahe an den Kollaps. Langfristig könnten durch die Tramoberleitungen Daten übertragen werden.
Alle Länder, aus denen mir am Central Eindrücke entgegenschwappen, ergeben im Laufe eines Tages zusammengenommen vielleicht sogar ein Abbild des gesam¬ten Globus. Dabei scheint auf dem Central alles auf eine rätselhafte Art zusammenzupassen und zusammenzuarbeiten, obwohl niemand sagen kann wie, wieso und wodurch. Wenn beispielsweise nur eine der Zufahrtsstrassen gesperrt würde, könnte niemand vorhersagen, was passierte, obwohl es vielleicht viele Theorien dazu gibt. Es herrscht Chaos und Funktion zugleich. Menschen kommen vom Central aus überall hin, fast alle Möglichkeiten stehen einem offen – obwohl – ganz bestimmt weiß man es auch nicht. Deshalb gibt es am Central eine Auskunft, allerdings ist die nur für die Tram. Dort weiß man fast alles über das Tramsystem – aber über all die anderen damit verwobenen Systeme kann man dort auch nichts sagen. Daneben gibt es einige mehr oder weniger öffentliche Orientierungspunkte, die Informationen zum Central zur Verfügung stellen. Verkehrspolizisten versuchen Unfälle zu verhindern und gemäß den Verkehrsregeln die individuellen Bedürfnisse so zu koordinieren, dass alle Beteiligten möglichst gerecht behandelt werden und ihre Ziele soweit als möglich verwirklichen können. Und natürlich gelten allgemeine Regeln, Gesetze und Richtlinien. Trotz diesen Vorgaben und Bemühungen kann wohl ohne Übertreibung festgestellt werden, dass ein Zurechtfinden am Central doch recht oft auf Zufall oder Gewohnheit basiert.
Im Sommer nutzte die Stadt die Ferien, um erneut den Straßenverlauf zu ändern. Da dies nicht zum ersten Mal passiert, spotten manche über die "ewige Baustelle" Central. Nicht zu Unrecht: Die Entwicklungen stehen erst am Anfang, langfristig soll das Central mit dem benachbarten Bahnhof und den vier benachbarten Tramhaltestellen zusammenwachsen. Bereits jetzt erleichterte dieser Verkehrsknoten, der u.a. den Durchgang zwischen Zürich und dem billigeren Vorort Bühlach im Wesentlichen öffnete, Zürcher Firmen in Bühlach zu investieren und Arbeitsplätze dorthin auszulagern, während umgekehrt natürlich die schlechter bezahlten Bühlacher nun einfacher im gut bezahlten Zürich arbeiten können. Bühlach und Zürich sind einander etwas näher gerückt: Man kann sich nun sehr einfach nette Besuche abstatten. Durch das Central gibt es mehr Zuwanderer und Auswanderer, Pendler und Grenzgänger, Vorteile und Nachteile, Migration, Verlagerungen von Kaufkraft und Gesellschaft, Transport und Individualverkehr, etc. Es kann Katalysator sein oder Hemmschuh für alle möglichen Arten von Entwicklungen, Situationen und Ereignisse. Manches ist dabei bereits absehbar oder gar kontrollierbar, vieles andere nicht. Wie das Central erschließt sich auch die Globalisierung sicher nicht auf den ersten Blick, obwohl auch diese bei oberflächlicher Betrachtung durchaus völlig normal und geordnet wirken kann. Wie Globalisierung, so ist auch das Central einfach ungefragt existent geworden und hat ein Eigenleben und eine Koexistenz mit dem ganzen Rest entwickelt, die keiner so recht versteht, keiner so recht vorhersagen kann und deren Auswirkungen auf alles andere ebenfalls keiner so genau kennt. Eigentlich erstaunlich, denn, danach gefragt, kennt fast jeder das Central, weiß ob seiner offenen Möglichkeiten und Gefahren. Gut beraten ist, wer jemanden, der sich auskennt, an seiner Seite weiß und helfen kann, sich hier zurechtzufinden. Wie auf dem Central, auch bei der Globalisierung hat nicht alles seinen Sinn. Manchmal wird einem ungerecht die Vorfahrt genommen. Eingesetzte Organe versuchen Teile des Ganzen zu regeln, werden aber nicht immer respektiert oder es fehlt ihnen an Kompetenzen. Oft genug haben sie auch nicht das gesamte System im Auge oder sind sich ihrer eigenen Wirkung und Wechselwirkungen nicht bewusst. Informationstechnologie vernetzt alles und trägt seinen Teil zum Funktionieren und Verstehen bei, steigert aber auch die Komplexität. Jede gezielte Planung der Weiterentwicklung ist ein Versuch, das letztendlich vielleicht unbegreifbare Zusammenspiel von "Allem" (wobei auch dieses "Alles" selbst auch nur teilweise definiert werden kann) im Wesentlichen zu steuern. Aber keiner kann eine Garantie auf das Funktionieren eines Plans geben. Dazu ist das Gesamtsystem zu komplex. Es gibt Gewinner und Verlierer. Eine wichtige Rolle dabei spielt wiederum Information. Wer das System in einem Teilbereich kennt und diese Kenntnisse anzuwenden vermag, gewinnt dort ... meistens jedenfalls. Der zentrale Ausdruck der Globalisierung wie auch des Zürcher Centrals ist für mich die offenkundige Komplexität, in der man sich als Individuum kaum zurechtfinden kann... oder eben die Augen verschließen und "einfach durch" muss. Verschärft wird die Situation weiter durch die große Interdependenz, die fortwährende geplante und ungeplante Weiterentwicklung der Globalisierung und die Tatsache, dass man selbst zum einen Teil, zum anderen auch Grund der Komplexität ist. Dies alles wohnt dem System aber unauflösbar inne und macht so eine Anpassung und Steuerung auf persönlicher, staatlicher und globaler Ebene nur schwer möglich.
Javor, teamGLOBAL, enstanden im Jahr 2004
Story: Das Zürcher Central
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Fast jeden Morgen stehe ich am Tramknotenpunkt "Central" in Zürich, wo sich sieben verschiedene Tramlinien kreuzen, die aus sieben verschiedenen Richtungen kommen und zu sieben verschiedenen Zeiten in die Umgebung entschwinden. Vögel hingegen fliegen frei über alle Grenzen des Centrals hinweg, während die Autos sich in fest vorgegebenen, aber teils frei wählbaren Bahnen bewegen und die Trams im Endeffekt nur vor- und zurück können.
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