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Wir sind die Neuen! Sportarten bei Olympischen Spielen

Jens Hungermann

/ 8 Minuten zu lesen

Skateboarding, Softball, Tontaubenschießen – Die Geschichte der Olympischen Spiele zeigt, dass Sportarten kommen und gehen. Doch wer entscheidet eigentlich, welche neue Disziplin es zum Großevent schafft und welche nicht?

Rückkehr nach über hundert Jahren. In Rio wird Golf 206 wieder olympische Sportart. (© dpa)

Schon durch seinen Beruf verstand Gustav Mahler (7. Juli 1860 – 18. Mai 1911) sich auf raffinierte Arrangements. Als Komponist prägte der Österreicher ein Bonmot, das noch heute an Aktualität nichts eingebüßt hat: "Tradition", meinte Mahler, sei die Bewahrung des Feuers – "und nicht die Anbetung der Asche".

Wie schwierig es allerdings sein kann, im Spannungsfeld zwischen Tradition und notwendiger Innovation zu agieren, illustriert das Internationale Olympische Komitee (IOC) regelmäßig aufs Neue. Gegründet 1894 auf Initiative von Baron Pierre de Coubertin, ist es seit mehr als hundert Jahren nicht nur Hüter der olympischen Bewegung und vergibt seit 1896 das größte Sportfest des Planeten – die Olympischen Spiele – an wechselnde Städte und Kontinente. Den "Herren der Ringe" obliegt es außerdem, das Programm festzulegen, also zu entscheiden, welche Sportarten und Disziplinen am lukrativen zweiwöchigen Hochamt des Weltsports teilnehmen dürfen und welche zusehen müssen.

Lediglich vier Sportarten sind seit den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit nie auch nur ein Mal aus dem Programm gestrichen worden: Leichtathletik, Schwimmen, Turnen und Fechten. Aber es gab im vergangenen Jahrhundert manches experimentelle Kuriosum. 1900 in Paris beispielsweise fand erstmals ein Schießwettbewerb auf lebende Tauben statt, anstelle von Tontauben. Etwa dreihundert Tiere, so zeigen Chroniken, überlebten die zweiten Spiele der Neuzeit nicht. Und 1908 in London gab es olympische Wettbewerbe im Motorboot fahren; anschließend nie wieder.

Alte Bekannte

Zu den Spielen der XXXI. Olympiade in Rio de Janeiro (5. bis 21. August 2016) haben zwei neue Sportarten die Aufnahme geschafft, wiewohl sie eigentlich alte Bekannte sind. Golf ist nach 112 Jahren erstmals wieder olympisch; Rugby (in der Variante 7er-Rugby) kehrt nach 92 Jahren Abwesenheit zurück ins Programm der Sommerspiele. "Offensichtlich eine lange Zeit bei beiden", kommentierte der Sportdirektor des IOC, Kit McConnell, und umschrieb die Erwartung so: "Wir freuen uns darauf, dass beide Sportarten einen riesigen Beitrag zu den Spielen in Rio und darüber hinaus leisten, und ebenso, dass ihre olympische Aufnahme eine echte und langfristige Auswirkung auf die zwei Sportarten auf der ganzen Welt haben wird."

Inwieweit es sich dabei um Wunschdenken handelt, lässt sich erst langfristig nach Ende der Spiele von Rio bewerten. Angesichts der zahlreichen Absagen namhafter Golfprofis für das olympische Turnier – der viermalige Major-Sieger und frühere Weltranglistenerste Rory McIlroy etwa bezeichnet es in ungewöhnlicher Offenheit als belanglos – ist die mittelfristige olympische Zukunft des Sports jedoch bereits vor Beginn der Spiele fraglich. Welches Signal geht davon aus, wenn rund drei Wochen vor Beginn der Spiele sieben der zehn weltbesten Golfprofis ihre Teilnahme absagen (manch einer von ihnen vorgeblich aus Furcht vor den möglichen Folgen des Zika-Virus)?

Mit Golf und Rugby umfasst das Programm der Spiele von Rio 28 Sportarten. 2012 in London sind es noch 26 gewesen. Beschlossen worden war die Aufnahme von zwei neuen Sportarten zu den Sommerspielen 2016 und 2020 auf der 120. IOC-Session 2009 in Kopenhagen. Beworben hatten sich seinerzeit insgesamt sieben verschiedene, bis dato nicht zum olympischen Programm zugehörige Sportarten. Baseball, Softball, Squash, Karate sowie Rollschuhsport waren in der Vorauswahl gescheitert. Getroffen hatte diese Vorauswahl das Exekutivkomitee im IOC (Executive Board, kurz: EB). Das EB ist gewissermaßen die Regierung des mal mehr, mal weniger honorig, jedoch durchweg exklusiv besetzten Zirkels internationaler Sportfunktionäre im IOC, der nur 91 feste Mitglieder (plus eine Reihe Ehrenmitglieder) umfasst.

Das Prozedere zur Aufnahme neuer Sportarten ins olympische Programm war zwei Jahre zuvor, auf der 119. IOC-Session 2007 in Guatemala, verändert worden. Die Session billigte seinerzeit die Anregung, dass das EB ihr künftig Vorschläge zur Abstimmung vorlegt, anstatt dass die Vollversammlung über sämtliche Bewerber per Akklamation abstimmen muss. Vorgeblich sollte das den Prozess vereinfachen. De facto stärkte es die Macht des Exekutivkomitees, das heute 15 Personen umfasst, inklusive des IOC-Präsidenten und vier Vizepräsidenten.

Erst 2002, im Jahr der von einem aufsehenerregenden Bestechungsskandal begleiteten Winterspiele von Salt Lake City also, hatte das IOC überhaupt erst beschlossen, das Programm seines Premiumprodukts systematisch und regelmäßig nach jeder neuen Ausgabe zu überprüfen – "um sicherzustellen, dass die Spiele spannend und relevant bleiben", wie die Olympier selbst begründen. Auf 39 Kriterien hin wurden etwa sämtliche Sportarten im Anschluss an die Spiele in London abgeklopft, darunter TV-Quoten, weltweite Verbreitung und Attraktivität bei jungen Menschen.

Wer entscheidet?

Die Vorarbeit zu den Daumen-hoch-oder-Daumen-runter-Entscheidungen von Exekutivkomitee und Vollversammlung leistet dabei eine der diversen Kommissionen im IOC: die "Olympic Programme Commission". Sie ist mit zurzeit 21 Mitgliedern (plus Sportdirektor McConnell) nicht eben spärlich besetzt. Unter ihnen nehmen auch Vertreter der internationalen Sportfachverbände Einfluss. Beispielsweise der Vizepräsident des Schwimm-Weltverbands Fina, Sam Ramsamy aus Südafrika, oder der Spanier José Perurena, Mitglied im Exekutivkomitee der Internationalen Vereinigung der olympischen Sommersportverbände ASOIF (Association of Summer Olympic International Federations).

Zur eigenen Aufgabenbeschreibung der "Olympic Programme Commission" zählt unter anderem die Maxime, "ein Programm zu entwickeln, das die Popularität der Olympischen Spiele maximiert, während Kosten und Komplexität in Grenzen gehalten werden". Zudem soll die Arbeit der Programm-Kommission dazu beitragen, dass sich "Innovationen", "moderner Geschmack" und "neue Trends" wiederfinden, ohne dass Geschichte und Tradition der Sportarten außer Acht gelassen werden.

Das Programm Olympischer Spiele mit seinen zuletzt insgesamt 302 Wettbewerben im Sommer gleicht somit der Menükarte eines Restaurants, das vor allem einem Credo folgt: Möglichst viel für den Massengeschmack bieten und die Klassiker dabei nicht vergessen.

Das Gerangel um die Plätze im olympischen Sportartenprogramm ist groß, das Lobbyieren der Fachverbände hinter den Kulissen entsprechend emsig. Denn Olympia garantiert alle vier Jahre wieder ein Maß an Aufmerksamkeit, das viele Sportarten selbst bei Höhepunkten wie Weltmeisterschaften sonst selten bis nie genießen. Und wo im (frei empfangbaren) Fernsehen sind Judo, Rudern oder Badminton heute überhaupt noch zu sehen?

Olympisch zu sein bedeutet, bildlich gesprochen, Zugang zu den prall gefüllten Fleischtöpfen zu erlangen. 3,35 Milliarden Euro nahm das IOC beispielsweise allein durch den Verkauf der TV-Rechte für den olympischen Zyklus (die vier Jahre zwischen und während der Spiele, im Falle Rios also 2013-2016) inklusive der Winterspiele 2014 und der Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro ein. Das entspricht einem Wachstum von 6,3 Prozent gegenüber dem vorhergehenden Vierjahreszyklus. Den Großteil dieses Geldes verteilt das IOC an die Nationalen Olympischen Komitees – und eben an die Sportfachverbände. Dass diese vertretenen Verbände dank des Mitwirkens am Ringe-Spektakel Sponsoren leichter locken können, liegt auf der Hand. "Für die kleineren internationalen Verbände stellen die olympischen Einnahmen alles dar, was sie vor finanzieller Vergessenheit bewahrt", weiß der langjährige kanadische IOC-Vizepräsident Richard Pound.

The Show must go on

Im IOC hat sich nun unter dem seit September 2013 regierenden Präsidenten Thomas Bach – seit 1991 IOC-Mitglied und mehr als zehn Jahre lang Vizepräsident – die Erkenntnis durchgesetzt, dass noch mehr Staubwischen im Programmheft angeraten ist. Sonst nämlich droht dem zweiwöchigen, größten Sportspektakel der Erde irgendwann das (junge) Publikum wegzulaufen. Und das wäre fatal – schon aus langfristiger ökonomischer Sicht.

Formal gesetzt ist bei Olympischen Spielen laut der olympischen Charta, Regel 45, streng genommen keine Sportart und Disziplin. Es muss also nicht heißen, dass beim Fechten auch die Disziplin Florett ausgetragen wird. Doch natürlich gehören zu ihrer DNA Arrivierte wie Schwimmen und Leichtathletik, sogenannte "Kernsportarten". Seit allerdings das IOC auf einer – im Wortsinne – außerordentlichen Session Ende 2014 Bachs mit viel Bohei initiierte "Agenda 2020" durchwinkte, ist etwas neu in der über Jahrzehnte ziemlich konservativen Welt der Olympiafunktionäre.

Zum einen betont Empfehlung 10 der Agenda: "Das Programm wird regelmäßig dahingehend überprüft, dass eher die Anzahl der Wettbewerbe als die der Sportarten im Mittelpunkt steht, wobei die internationalen Verbände einbezogen werden" und die maximale Zahl der Teilnehmer (Sommer: 10.500/Winter: 2900), Trainer (5000/2000) und Medaillenentscheidungen (310/100) nicht erheblich überschritten werden soll. "Events statt zu viele Sportarten" lautet das Credo. Zum anderen, und das ist die interessanteste Neuerung, dürfen die Organisationskomitees der auserkorenen ausrichtenden Städte künftig von sich aus Vorschläge unterbreiten, welche Sportarten und Disziplinen sie zusätzlich zum bestehenden Programm gern als Bestandteil "ihrer" Spiele sähen. Tokio 2020 ist der erste Ausrichter, der von dieser Regelung profitiert.

Gleich fünf Sportarten schlugen die Japaner dem IOC zur Aufnahme in ihr Sommerprogramm vor: Die Neulinge Karate, Skateboarden, Sportklettern und Surfen (Wellenreiten) sowie die zuletzt 2008 olympischen, in Asien enorm populären Sportarten Baseball/Softball. Mitte 2017 soll die endgültige Zusammensetzung des Wettkampfprogramms in Tokio feststehen.

Schon bevor die fünf Sportarten sich auf den Weg machten, Anfang August 2016 auf der Session in Rio de Janeiro durchgewunken zu werden, feierte sich das IOC-Exekutivkomitee für seinen Mut zur Reform: "Die Veränderung wäre die umfassendste Evolution des olympischen Programms in der jüngeren Geschichte." Karate, Skateboarden, Sportklettern, Surfen und Baseball/Softball ständen für eine Mischung aus etablierten und aufstrebenden Sportarten in Japan und außerhalb. Sie seien obendrein eine Mischung aus Mannschafts- und Individual-, Indoor-, Outdoor- und urbanen Sportarten mit hoher Anziehungskraft auf Jugendliche.

Ausdrücklich weist das IOC jedoch darauf hin, dass die Ergänzung nicht bindend für kommende Ausgaben der Spiele ist. Gleichwohl liegt auf der Hand, dass die "Herren der Ringe" ein genaues Auge darauf haben werden, welcher der Neulinge beim Publikum ankommt, ergo Zukunftspotenzial verspricht. Die Aufnahme von Disziplinen wie BMX oder Beachvolleyball im Sommer oder Ski Cross und Snowboardcross im Winter hat gezeigt, wie es erfolgreich gehen kann. Anleihen bei den X-Games, einem Mitte der 1990er-Jahre erstmals ausgetragenen Multi-Extremsport-Event, sind dabei unübersehbar.

Ausgemustert

Bei dem Versuch, einen Erfolg versprechenden Mix aus Tradition und Moderne zu finden, muss es naturgemäß Verlierer geben. Welche Beben dabei von der IOC-Zentrale in Lausanne ausgehen können, illustriert das Beispiel der Ringer. Anfang 2013 schien die Jahrhunderte alte Sportart nach einer Sitzung des Exekutivkomitees plötzlich aus dem Programm der Spiele 2020 gestrichen. Begründung zwischen den Zeilen: zu langweilig, zu altbacken, zu irrelevant.

Was daraufhin folgte, waren Entrüstung allenthalben, eine beispiellose internationale Pro-Ringer-Allianz und vehemente Kritik an den IOClern, die offenbar den Text ihrer eigenen, vom Griechen Kostis Palamas betexteten Olympiahymne nicht kannten. Fachleute aus aller Welt brandmarkten die Empfehlung an die Vollversammlung des IOC, die Traditionssportart Ringen aus dem Programm zu streichen, als so kurzsichtig wie typisch. "Die Olympischen Spiele sind eben ein kommerzielles Medien-Event erster Güte. Mit Geschichte und Tradition haben sie nichts mehr oder nur noch dann etwas zu tun, wenn sich historisch-kulturelle Versatzstücke in das Vermarktungskonzept einpassen lassen, wie die Olympischen Ringe, der Fackellauf, die Siegerehrungen und andere rituelle und zeremonielle Elemente der Spiele", notierte etwa der Münsteraner Sportgeschichtler und -pädagoge Michael Krüger in der Fachzeitschrift "Olympisches Feuer".

Stephan Abel, Präsident des Deutschen Hockey-Bunds, kommentierte die Überlegungen im IOC seinerzeit so: "Heute geht es bei den Beurteilungen mehr um das Kommerzielle als um sportliche Dinge. Dass Wakeboarding und Wushu überhaupt in die Diskussion für Olympia gekommen sind, ist für mich unbegreiflich." "Markt oder Tempel?" fragte sich schon Pierre de Coubertin vor 90 Jahren. Die Antwort heute ist uneindeutig.

Für die Ringer nahm die Debatte über ihre olympische Zukunft ein gutes Ende. Sie versprachen Reformen und setzten sie um – alles vornehmlich, um für das geneigte Sportpublikum unterhaltsamer zu werden. Offenkundig erschrocken von der Vehemenz der Gegenrede knickten die IOCler letztlich ein. Ringen bleibt olympisch. Vorerst jedenfalls.

Zu sicher jedoch sollte sich keine althergebrachte Sportart und schon gar keine darin enthaltene Disziplin sein, was ihren dauerhaften Verbleib im Programm der Spiele betrifft. Wie hat der österreichische Autor Peter Horton einmal so schön geunkt? "Manche Traditionen verschlafen ihr Verfallsdatum." Das Internationale Olympische Komitee wird die Etiketten aufmerksam prüfen.

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arbeitete mehr als elf Jahre als Sportredakteur für die Welt und Welt am Sonntag. Sein Fachgebiet ist Olympischer Sport.