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Zwischen Stimmung und Sicherheit: Zwölf neue Stadien für das Fußballland

Martin Curi

/ 10 Minuten zu lesen

Brasilien hat insgesamt über 2,7 Miliarden Euro für seine 12 neuen WM-Stadien ausgegeben. Diese Investition wird vor allem unter drei Gesichtspunkten kritisch diskutiert: Wo sollen die Stadien gebaut werden? Gibt es Pfusch und Verspätungen am Bau? Und schließlich: Wie sollen diese Stadien aussehen?

Die Stadien der Fußball-WM 2014 auf Satellitenaufnahmen: Obere Reihe (von Linkls nach rechts): Arena Castelao in Fortaleza, Arena Pantanal in Cuiaba, Arena Corinthians in Sao Paulo, Arena da Baixada in Curitiba. Mittlere Reihe: Arena das Dunas in Natal, Estadio Nacional de Brasilia, Estadio Governador Pinto in Belo Horizonte, Estadio Beira-Rio in Porto Alegre. Untere Reihe: Arena Pernambuco in Recife, Arena da Amazonia in Manaus, Arena Fonte Nova in Salvador de Bahia, Estadio do Maracana in Rio de Janeiro. (© SpotImage/Astrium/dpa)

Brasilien ist ein Fußballland und so gab es eigentlich nie Zweifel, dass die Stadien auch nach der WM Nutzer finden werden. Zumindest in Zentren wie Rio de Janeiro und São Paulo wurde das nie bezweifelt. Aber den Städten Brasília, Cuiabá, Manaus und Natal wurde immer wieder vorgeworfen, sie hätten keine Fußballklubs und würden somit "Weiße Elefanten", also Stadien, die nach der WM niemand braucht, bauen. Besonders im Fall von Natal ist dieser Vorwurf sicherlich übertrieben, denn die Stadt hat mit América und ABC zwei Klubs in der zweiten nationalen Liga. In Manaus gibt es vier Traditionsvereine – Rio Negro, Nacional, FAST und São Raimundo –, die im Moment in untere Ligen abgestürzt sind. Hier herrscht die Hoffnung, dass die neuen Stadien beim Wiederaufstieg hilfreich sind.

Cuiabá hat tatsächlich keine Fußballtradition, aber die Bauherren haben darauf reagiert und konstruierten zwei temporäre Tribünen, die nach der WM ins nahegelegen Rondonopolis transferiert werden. Außerdem ist die Hauptstadt des Bundesstaates Mato Grosso in den letzten Jahren durch den Sojaanbau reich geworden. So fanden sich Investoren, die traditionslosen Vereinen wie Cuiabá (3. Liga) und Luverdense (2. Liga) zu ungeahnten Höhenflügen verhalfen. Diese werden das WM-Stadion in Zukunft nutzen.

Der einzige wirklich kritische Fall ist die Hauptstadt Brasília, in deren Gemeindegebiet es tatsächlich keinen Profiverein gibt. Der nächstgelegene Klub ist Brasiliense aus Taguatinga. Das Stadion Mané Garrincha ist ein wunderschönes architektonisches Meisterwerk, das sich perfekt in das Gebäude-Ensemble der Hauptstadt einfügt. Aber der 500 Millionen-Euro-Bau, mit einem Fassungsvermögen von 70.000 Zuschauern, wird wohl größtenteils leer stehen. Hier kann man über Sinn und Unsinn des Projekts streiten. Seine Verteidiger sagen, dass die Hauptstadt nicht von der WM ausgeschlossen werden konnte. Ähnlich wird im Übrigen auch argumentiert, um die WM-Standorte Cuiabá und Manaus zu rechtfertigen. Tatsächlich wären die Klagen bei Nichtberücksichtigng dieser Städte groß gewesen.

Etwas weniger kontrovers wurden die Diskussionen über die Lage in den Städten geführt. Das liegt in erster Linie daran, dass in 10 Städten die Arenen exakt am Ort des alten Stadions gebaut wurden. Somit wird in diesen Städten auch nicht übertrieben in die vorherrschende urbane Struktur eingegriffen. Die Ausnahmen sind Recife und São Paulo. In Recife hat man sich dazu entschieden das WM-Stadion etwa 30 km außerhalb des Stadtkerns zu errichten. Der wichtigste Grund dafür ist, dass die WM-Monate in die Regenzeit fallen. Die von Holländern gebaute Altstadt liegt auf Inseln, die sich teilweise unter Normalnull befinden. So leidet die Stadt in der Regenzeit oft unter Überschwemmungen, in denen der Verkehr regelmäßig kollabiert. Der Stadionbau war somit der Versuch diesem Problem zu begegnen und die Stadt zu entzerren.

In São Paulo wollte man eigentlich das schon existierende Morumbi-Stadion – Eigentümer São Paulo FC – nutzen. Aber nach einem monatelangen politischen Streit hat man sich dazu durchgerungen ein neues Stadion im Stadtteil Itaquera in São Paulos strukturschwacher Ostzone zu bauen. Die Arena soll von dem Verein Corinthians übernommen werden. Das Projekt ist interessant, da man so in einer vernachlässigten Zone urbane Strukturen errichtet. Zu umwälzenden positiven Veränderungen wird das aber in der anwohnenden Bevölkerung auch nicht führen.

Doch werden die Stadionneubauten überhaupt rechtzeitig vollendet? Da sind zum einen die sechs Stadien, die schon 2013 beim Konföderationen-Pokal zum Einsatz kamen. Diese Arenen wurden inzwischen auch in Ligaspielen ausgiebig getestet. Anders sieht es bei den restlichen sechs Arenen aus. Diese wurden zwar bis einen Monat vor der WM alle eingeweiht und es fand mindestens ein Test statt, aber hier wird bis zur WM noch fieberhaft gebaut. Gerade in São Paulo und Curitiba werden die Anfahrtswege wohl nicht rechtzeitig fertiggestellt werden. Das ist verwunderlich, denn es handelt sich um zwei der reichsten und modernsten Städte Brasiliens.

Zwischen moderner Arena und heißem Hexenkessel

Am intensivsten diskutiert wird aber das gewünschte Stadionmodell, das zwischen moderner All-Seater-Arena und heißem Hexenkessel schwankt. Diese Diskussion ist so polemisch, da Brasilien eine Geschichte von fehlender Instandhaltung, Fangewalt und Fankultur hat, in der sich auch ganz grundsätzliche Prozesse der Gesellschaft widerspiegeln. Der Ursprung dieser Debatte lässt sich lokalisieren:

Der 19. Juli 1992 war ein lauer sonniger Wintertag in Rio de Janeiro. Alles war bereit für ein großes Fußballfest. 122.000 Fans waren gekommen, um das Finale der brasilianischen Meisterschaft zwischen Flamengo und Botafogo im Maracanã-Stadion zu sehen. Doch etwa 30 Minuten vor dem Anpfiff wurde aus dem fröhlichen Fest ein Albtraum. Der Flamengo-Fanblock im Oberrang war völlig überfüllt, weshalb die Anhänger immer stärker gegen das verrostete Geländer drängten, das schließlich nachgab. Zahlreiche Zuschauer stürzten in den Unterrang. Drei von ihnen überlebten es nicht. Schuld an der Katastrophe waren Funktionäre, die es versäumt hatten, einfachste Sicherheitsbestimmungen zu beachten. Dennoch schoben sie die Schuld auf die Fanklubs – Torcidas Organizadas –, deren jugendliche Mitglieder angeblich unerzogen, ungehobelt und gewalttätig seien.

Diese spielten den Funktionären mit ihren Aktionen immer wieder in die Karten. So wie am 20. August 1995, als im Pacaembu-Stadion von São Paulo das Finale der Copa São Paulo, einem wichtigen Wettbewerb für Jugendmannschaften, zwischen Palmeiras und São Paulo FC ausgetragen wurde. Kurz nach Abpfiff stürmten hunderte Mitglieder der Torcidas Organizadas beider Mannschaften den Platz und begannen eine Prügelei, bei der auch herumliegende Stöcke und Steine eingesetzt wurden. Die Massenschlägerei wurde live im Fernsehen übertragen und forderte ein Todesopfer. Fortan hatten die Fanklubs ihren Ruf als gewalttätige Rabauken weg. Anschließend war klar, dass etwas geschehen musste, und landesweit wurde eine Diskussion über Sicherheitsmaßnahmen und notwendige Stadionrenovierungen angestoßen. Jedem wurde allmählich bewusst, wie gefährlich der Zustand brasilianischer Stadien war.

Unterdessen entwickelten sich die Zuschauerzahlen in der brasilianischen Meisterschaft negativ. Konnte man in den 1970er und 1980er Jahren noch mit den europäischen Ligen mithalten, brach der Besucherschnitt in den 1990er Jahren ein. Für diese Situation gibt es mehrere Erklärungsansätze, und Fangewalt sowie marode Stadien sind nur ein Faktor der Entwicklung. Andere Gründe sind der Spielerexodus nach Europa, das niedrige Spielniveau, eine Inflation an Meisterschaften und schließlich das Aufkommen des Satellitenfernsehens, das Übertragungen von Spielen aus Europa möglich machte.

Der erste Verein, der darauf reagierte, war Atlético Paranaense aus Curitiba. Der Klub, bei dem später Lothar Matthäus trainieren sollte, begann 1997 mit dem Umbau seiner Arena da Baixada in ein reines Sitzplatzstadion nach englischem Vorbild. Weitere Stadien folgten. 1999 wurden zur FIFA-Klub-WM in Rio de Janeiro die Oberränge des Maracanã mit Sitzschalen ausgestattet. Das Fassungsvermögen des ehemals größten Stadions der Welt sank dadurch stark ab. Seitdem wurde im Maracanã quasi ununterbrochen gebaut, und seit 2007 existieren gar keine Stehplätze mehr. Stattdessen gibt es schicke VIP-Logen, werden uniforme Hot-Dogs gereicht, lebt man mit Blocktrennung. Das für die Panamerikanischen Spiele 2007 gebaute Engenhão-Stadion in Rio de Janeiro folgt den gleichen Vorgaben. Eine kühle, stimmungslose Arena, in der sich die Fanclubs nicht sonderlich wohl fühlen.

Der Stadionbesuch ist inzwischen erheblich reglementiert. Schon 2003 verabschiedete das brasilianische Parlament mit dem so genannten Fanstatut ein Gesetz, das den Fan als Konsumenten versteht und ihn als solchen schützen soll. Also eine Mischung aus nationaler Stadionordnung und Verbraucherschutzgesetz. Wettbewerbskonditionen, Ticketverkauf, Nahverkehr und Toilettenhygiene werden in diesem Fanstatut geregelt. Damit wurde der Stadionbesuch in Rio de Janeiro zwar um einiges langweiliger, aber auch sicherer: In den Stadien gibt es heutzutage keine schwerwiegenden Zwischenfälle mehr.

2009 erließ der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Eduardo Paes, zudem den so genannten "Ordnungsschock" für die lokalen Fußballstadien. Damit wurde der Verkauf von alkoholischen Getränken in und um das Stadion genauso verboten wie der Verkauf von Trikots, Getränken und Tickets im gesamten Stadionumfeld. Das Parken im Stadionbereich ist nun untersagt. Die Durchsetzung der neuen Regeln wird von einem Heer von Polizisten knallhart durchgesetzt.

Bei der Vorstellung des Projekts "Ordnungsschock" ließ Rios Sportsekretärin Márcia Lins verkünden: "Unsere Absicht ist es, das Profil und die Kultur der Fans auf lange Sicht zu ändern. Wir möchten garantieren können, dass die Familien zu den Spielen zurückkehren." Es wird also kein Hehl daraus gemacht, dass das bunte und fröhliche Treiben der Torcidas Organizadas mit ihren Perkussionsinstrumenten unerwünscht ist. Die Lösung für die Krise des brasilianischen Fußballs sei die Rückkehr der Familien. Als ob diese jemals ausgeschlossen gewesen wären.

In dieselbe Kerbe schlug ihr Kollege für öffentliche Sicherheit, Rodrigo Bethlem, der befragt wurde, ob den ansässigen Kioskbesitzern durch die neuen Maßnahmen nicht ein unverhältnismäßiger Schaden drohe: "Man kann keine Ausnahmegenehmigungen erteilen, wenn man ein so wichtiges Event wie die WM vor sich hat. Wenn wir ein solches Event ausrichten wollen, dann müssen wir auch für die Unkosten aufkommen. Das wird die Gewinne des lokalen Handels beeinträchtigen, aber auf lange Sicht wird das Vorteile bringen. Die Region wird aufgewertet. Das wurde schon in europäischen Ländern so gemacht und hat dort funktioniert. Wir kopieren das nur."

Spiele ohne Stimmung?

Die WM ist also wichtiger als die Wünsche und Bedürfnisse von Anwohnern und Fans. Geradezu mit der Brechstange sollen neue Regeln und Verhaltensweisen ohne Rücksicht auf lokale Gepflogenheiten durchgesetzt werden. Dadurch wird ein steriles Klima in den Stadien erzeugt. Unterdessen haben sich die Eintrittspreise in wenigen Jahren vervielfacht. Während eine Stehplatzkarte 2004 noch etwa 1 Euro kostete, zahlt der Fan in Rio heute mindestens 20 Euro. Bei einem Mindestlohn von 710 Real für einen normalen Fabrikarbeiter ist der Stadionbesuch für viele unerschwinglich. In den Stadien von Rio de Janeiro machen sich dadurch zunehmend vor allem jene gut situierten Zuschauer breit, die sich auch einen Flug zu einer WM in Deutschland oder Südafrika leisten können. Doch sie kennen das Liedgut der Fans nicht, sie bringen keine Trommeln mit und sie bleiben lieber auf ihrer nummerierten Sitzschale kleben, als einen Samba aufs Parkett zu legen. Der europäische Fußballinteressent, der 2014 zur WM fährt, sollte sich also auf Spiele ohne Stimmung einstellen.

Der brasilianischen Sportminister Orlanda da Silva stellte 2009 die einzelnen Sicherheitsmaßnahmen der brasilianischen Regierung für Fußballstadien vor und kündigte ein nationales Fanregister an, in dem sich jeder eintragen müsse, um Tickets für Spiele der nationalen Liga zu kaufen. Jeder Zuschauer solle eine Fankarte haben und dadurch eindeutig identifizierbar sein. Auf die Frage, ob die aktuelle Regulierungswut nicht zur Folge habe, dass jegliche brasilianische Lebensfreude aus den Stadien verbannt würde, antwortete er: "Ein Fußballstadion ist ein Ort der Freude und der Verbrüderung. Gewalt hat hier keinen Platz. Deshalb ist es unsere Aufgabe, für Sicherheit und Komfort zu sorgen. In den neuen Stadien setzen wir diese mit Hilfe des Fanstatuts und der Fankarte durch. Der WM-Besucher kann davon nur profitieren, denn er wird die Spiele in Ruhe und in Sicherheit verfolgen können, und ich bin mir sicher, dass das brasilianische Volk in- und außerhalb der Stadien seine bekannten Partys feiert. Es wird ja nicht verboten, sich von seinem Sitz zu erheben. Im Gegenteil, es ist doch normal, dass man beim Torjubel steht. Das ist in jedem Land der Welt so. Den Caipirinha muss der Fan dann später im Hotel oder am Strand trinken. Wir haben auch gute Säfte aus tropischen Früchten. Die kann man im Stadion probieren".

Ganz anders sehen das aber Vertreter der Fanklubs: "Aktuell scheint es so, dass die WM ewig währt. Dem ist aber nicht so. Nach vier Wochen ist die WM zu Ende, und dann? Wer geht dann in die Stadien? Wer wird die Party machen? Der brasilianische Fan ist nicht wie ein europäischer WM-Tourist, der 100 Euro Eintritt zahlen kann. Europäer jubeln auf sehr förmliche Art und Weise, da braucht man nicht einmal einen Graben zwischen Platz und Tribüne. Wir sind anders." Das Zitat stammt von einem Fluminense-Fan in Rio de Janeiro, der sich über die Veränderungen in den brasilianischen Stadien Sorgen macht. Der Bau der neuen Hochglanz-Arenen für die WM bedeutet eine komplette Veränderung der Stadieninnenräume, des Publikums und seines Fanverhaltens.

Brasilien, besonders das Maracanã in Rio de Janeiro, hält alle Zuschauerrekorde des Weltfußballs. Im 20. Jahrhundert wurden in Brasilien insgesamt 278 Spiele von über 100.000 Fans im Stadion verfolgt; im 21. Jahrhundert kein einziges. Die großen berauschenden Fanmassen gehören sicherlich der Vergangenheit an.

Denn in den großen Zentren Brasiliens ist der Zuschauerschnitt rapide gesunken: Etwa 13.000 Fans wollten die Erstligaspiele in den letzten Jahren sehen. Kein Wunder also, dass sich die traditionellen Fans über die Veränderungen beklagen. Sie fühlen sich ausgeschlossen zu Gunsten der reichen WM-Touristen aus Europa. Deshalb werden sie nicht müde zu betonen, dass Brasilianer anders seien und das diese nationale Charakteristik als Kulturgut schützenswert ist. Wasser auf ihren Mühlen ist, dass der höchste Zuschauerschnitt nicht in etwa in den Zentren Rio und São Paulo, sondern bei Vereinen wie Santa Cruz (24.000, 2. Liga) und Sport (18.000, 1. Liga) in Recife oder Sampaio Corrêa (20.000, 2. Liga) in São Luis erzielt wird. Diese Klubs spielen in Stadien mit Stehplätzen zu erschwinglichen Preisen. Die neuen WM-Arenen repräsentieren nun eher das Modell des modernen All-Seater-Stadions, das mehr auf Sicherheit als auf Stimmung achtet. Die Stimmung in der brasilianischen Bevölkerung tendiert aber weiter in die Richtung des emotionsgeladenen Spektakels. Deshalb kann man die Prognose wagen, dass nach der WM günstigere Stehplätze wieder in den Stadien einziehen werden. So könnte am Ende ein Kompromiss aus Sicherheit und Stimmung erreicht werden.

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Der Autor Martin Curi in einem Fußballstadion. (© Martin Curi)

Martin Curi ist Anthropologe und Autor des Buches "Brasilien – Land des Fußballs" (Göttingen, 2013). Er hat an der Universidade Federal Fluminense zum Thema "Fußballfans und neue Stadien in Brasilien promoviert. Zur Zeit ist er Gastdozent an der Universidade do Estado do Rio de Janeiro.