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Die Friedenspolizei UPP in Brasilien | Brasilien | bpb.de

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Die Friedenspolizei UPP in Brasilien

Stephanie Gimenez Stahlberg

/ 6 Minuten zu lesen

Mit einem Dreistufenkonzept versuchen die brasilianischen Städte die Favelas zu befrieden. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Polizei. Mit Spezialtruppen übernimmt sie die Kontrolle in den Armenviertel und übergibt diese später an die UPP, die so genannte Friedenspolizei.

Beamte der Befriedungspolizei UPP in von Rio de Janeiro. Sie werden während der Fußball-WM 2014 in den Favelas eingesetzt. (© picture alliance/Demotix )

Seit einem halben Jahrhundert bereiten Gewalt und Kriminalität den Städten Brasiliens ernsthafte Probleme und Rio de Janeiro bildet leider keine Ausnahme. Die meisten Verbrechen geschehen in oder in der Nähe von Armenvierteln, den sogenannten Favelas, in denen heute etwa ein Drittel der Bevölkerung Rio de Janeiros lebt.

Bis zum Jahr 2009 befand sich fast jeder Einwohner einer Favela in der Gewalt von einer der drei größten Verbrecherorganisationen der Stadt oder arbeitete für sie. Diese kriminellen Banden, die in den 1970er-Jahren entstanden, sind sehr gut organisiert und schwer bewaffnet. Das traditionelle Vorgehen der Polizei gegen die Gangs bestand darin, der Gewalt mit noch mehr Gewalt zu begegnen. Mehr als 48.000 Menschen starben in Rio zwischen 1979 und 2000 durch Schusswaffen. Es herrschte ein Klima der allgegenwärtigen Angst vor dem organisierten Verbrechen und einer korrupten, gewalttätigen Polizei. Erst Erfolge anderer Städte – wie zum Beispiel von Medellín in Kolumbien – im Kampf gegen kriminelle Strukturen gaben in Rio den Anstoß, umzudenken und ein neues Programm für die öffentliche Sicherheit zu entwerfen: Die "Unidades de Polícia Pacificadora" ("Einheiten der Befriedungspolizei"), kurz UPP, wurden gegründet und bewährten sich schon im ersten Befriedungsversuch einer Favela, in Santa Marta im Dezember 2008.

Die UPP ist eine Nachbarschaftspolizei. Mit ihr soll die staatliche Kontrolle über Territorien wiedererlangt werden, die unter dem starken Einfluss bewaffneter Krimineller stehen, der lokalen Bevölkerung Frieden und Sicherheit zurückgeben und dazu beitragen, dass die "Logik des Krieges", die in Rio de Janeiro existiert, durchbrochen wird. Das Sicherheitskonzept strebt nicht an, den Drogenhandel oder Verbrechen insgesamt zu unterbinden oder eine Art Allheilmittel gegen die sozioökonomischen Probleme der Armenviertel zu werden. Stattdessen konzentriert man sich darauf, Waffen zu beschlagnahmen und die von kriminellen Strukturen ausgehende Gewalt zu beenden.

Die Regierung verkündet öffentlich, wann und in welcher Favela ein Befriedungsprozess gestartet wird. Dann vollzieht sich das Programm in drei Stufen. Zunächst stürmt die BOPE ("Batalhão de Operações Policiais Especiais", zu Deutsch "Bataillon für spezielle Polizeioperationen"), eine Spezialeinheit der Polizei, die Favela und übernimmt die Kontrolle. In Phase zwei ermittelt die BOPE, manchmal unterstützt durch andere Einheiten oder das Militär, spürt Verstecke und Hotspots im Drogenhandel auf, verhaftet Kriminelle und zieht Waffen ein. Bis ein Viertel als "befriedet" gilt, kann es Tage, aber auch Jahre dauern. Erst dann zieht in Phase drei die neue Polizeieinheit, die UPP, ein und sorgt dauerhaft für Sicherheit. Eine vierte Phase lässt sich gegenwärtig in vielen der bereits befriedeten Favelas beobachten: Soziale Einrichtungen und Investoren entdecken die Viertel für sich. Rios Sicherheitschef José Mariano Beltrame betont immer wieder, wie wichtig diese vierte Phase für einen dauerhaften Frieden sei.

Das neue Befriedungsprogramm braucht einen neuen Polizeitypus. Wie der angesehene Anthropologe und Sicherheitsexperte Luiz Eduardo Soares feststellte, ist die brasilianische Polizei nicht für die Wahrung der öffentlichen Sicherheit konzipiert. Traditionell erhalten Polizisten ein militärisches Training, das Oberst Robson, ehemaliger Kommandant der UPP, als "moralische Erziehung zum Krieger" beschreibt. Im Ergebnis ist Rios Polizei als besonders gewalttätige Kampftruppe bekannt, die Favela-Bewohner nicht als Menschen wahrnimmt, sondern als Komplizen des Verbrechens. Polizisten der neuen Nachbarschaftspolizei dagegen bekommen eine andere Ausbildung. Sie befassen sich mit Soziologie und Menschenrechten und lernen, wie man den Dialog in der Gemeinde stärkt und Partner findet. Viele Beamte beschreiben das UPP-Programm deshalb auch als "Selbstbefriedung der Polizei", die dazu beitrage, das Verhältnis zwischen Polizisten und Favela-Bewohnern entscheidend zu verbessern. Nur mit der Unterstützung der Bewohner kann die Polizeiarbeit dauerhaft erfolgreich sein, denn sie sind es, die Verbrechen oder Verdächtiges melden und Verstecke verraten.

Die Massenproteste, die Brasilien seit Juni 2013 erlebt, stellen für die Polizei in Rio de Janeiro und anderswo im Land eine große Herausforderung dar. Dort kann ihr Vorgehen gefilmt werden und Journalisten berichten darüber. In einer jüngsten Umfrage erklärten 64 Prozent der Polizeibeamten, dass sie sich unvorbereitet fühlen, um mit den Protesten umzugehen. Während die WM näher rückt, nehmen auch die Diskussionen über eine Entmilitarisierung der Polizei zu. Damit Vertrauen entstehen kann, arbeiten die Nachbarschaftspolizisten ausschließlich an einem Ort. So werden ihre Gesichter den Bewohnern bekannt. Neben der normalen Polizeiarbeit veranstalten die Beamten Nachbarschaftstreffen oder bieten Kurse an, von Sport über Musik bis zur Vermittlung von Computerkenntnissen. Im Fokus der UPP-Einsatzkräfte steht die Kriminalitätsprävention. Besonders den Jugendlichen sollen neue Orientierungen und Vorbilder geliefert werden. Dass sich durch den engen und positiven Kontakt mit Polizeibeamten tatsächlich Einstellungen verändern, bestätigt UPP-Hauptmann Leonardo Nogueira. Früher hätten die Kinder auf die Frage, was sie später einmal werden wollten, geantwortet: "bandido" oder "traficante" (deutsch: "Krimineller" oder "Drogenhändler"). Heute dagegen sagen viele: "Polizist".

Was passiert nach der WM?

Der Soziologe Ignacio Cano kommt in seinem umfassenden Bericht über das neue Sicherheitskonzept zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Gewaltdelikte sowohl innerhalb der Favelas als auch in den sie umgebenden Gebieten zurückgehe. In manchen Vierteln sind monatelang keine gewaltsamen Todesfälle registriert worden. Auch wenn in kleinem Umfang weiter mit Drogen gehandelt wird, sind die schweren Waffen und die gewaltsame Vorherrschaft der Banden verschwunden. Für Frauen ist es leichter geworden, die Polizei aufzusuchen, um Fälle häuslicher Gewalt zu melden. Und als Folge von mehr Sicherheit und Stabilität gehen auch immer mehr Bewohner legalen Geschäften in den Favelas nach. Die befriedeten Armenviertel sind heute sehr viel besser in die Stadt als Ganzes integriert.

Umfragen aus den letzten Jahren belegen, dass die meisten Bewohner von bereits befriedeten Favelas mit dem Programm sehr zufrieden sind, sich in ihren Vierteln jetzt sicherer fühlen und das Programm auch anderen Favelas empfehlen würden.

Das Vorgehen der Regierung, immer den Beginn und Ort einer neuen Befriedungsaktion öffentlich im Vorfeld bekannt zu geben, ist oft kritisiert worden. Kriminelle haben so Zeit zu fliehen und die Befürchtung liegt nahe, dass die Gewalt sich nur von einem Viertel in andere verlagert. Sicherheitschef Beltrame rechtfertigt diese Strategie mit dem Hinweis, dass Kriminelle, die aus ihrem Wirkungskreis vertrieben wurden, viel leichter bekämpft und überwältigt werden könnten. Jüngste Kriminalitätsstatistiken scheinen ihm recht zu geben: Im ganzen Bundesstaat Rio de Janeiro sinkt die Gewalt. Eine Verschiebung der Verbrechen in andere Regionen stützen die Zahlen nicht.

Die große Herausforderung der Zukunft wird sein, der Favela-Jugend eine Zukunftsperspektive zu geben. Wie überall auf der Welt geraten Jugendliche in die Fänge des organisierten Verbrechens, weil sie keine Alternativen sehen. Ihr Leben wird sich nur dann wirklich ändern, wenn sie Schulbildung und Arbeitsmöglichkeiten bekommen. Dafür müssen Regierung und Zivilgesellschaft Sorge tragen.

Die größte Sorge der Favela-Bewohner ist, dass das Befriedungsprogramm nur der Vorbereitung auf die kommenden Großereignisse, Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und Olympische Spiele 2016, dient. Wenn die Spiele vorbei sind, könnten mit den Touristen und Athleten auch die Nachbarschaftspolizisten wieder verschwinden. Das Programm auf lange Sicht am Leben zu erhalten und sogar noch weiter auszubauen ist tatsächlich kostenintensiv, weil es viele neue Polizeikräfte erfordert. In einer befriedeten Favela ist ein UPP-Beamter für 101 Einwohner zuständig. Im Bundesstaat dagegen kommen auf einen Polizisten 405 Einwohner.

28 UPP-Einheiten sind bis November 2012 installiert worden, jede ist zuständig für ein bis drei Favelas. Insgesamt kümmern sich die Friedenspolizisten um etwa 370.000 Einwohner Rios. Bis zum Jahr 2014 will die Regierung 40 UPP-Stützpunkte geschaffen haben. Solange das Sicherheitskonzept erfolgreich ist, wird es vermutlich weiterverfolgt werden. Vielleicht müssen aufgrund der hohen Kosten in den kommenden Jahren Veränderungen vorgenommen werden, aber der politische Preis einer Beendigung des Programms wäre zu hoch. Deshalb wird man alles daran setzen, die Errungenschaften der Befriedungen nicht zu gefährden.

Aus dem Englischen von Karola Klatt

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wurde 1978 in São Paulo, Brasilien, geboren. Zurzeit promoviert sie an der Johns Hopkins Universität, USA, und interessiert sich besonders für Rio de Janeiros neues Sicherheitskonzept.