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Ein Blick auf die öffentliche Sicherheit in Brasilien | Brasilien | bpb.de

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Ein Blick auf die öffentliche Sicherheit in Brasilien Zwischen sportlichen Großereignissen und Alltag

Dennis Pauschinger

/ 8 Minuten zu lesen

Im Jahr 2013, genau ein Jahr vor der WM, gab es während des FIFA Confederations Cup in Brasilien historische Demonstrationen. Bilder von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten gingen um die Welt. Nun fürchtet die Regierung Brasiliens, dass sich derartige Szenen während der Weltmeisterschaft wiederholen könnten.

Während des Confed-Cups 2013 in Brasilien gab es immer wieder Demonstrationen und Proteste. Wie hier in Belo Horizonte vor dem Mineirão-Stadion, wo Demonstranten gegen Korruption und für mehr Sozialausgaben auf die Straße gingen. (© picture-alliance/AP)

Die Polizei in Brasilien ist völlig anders organisiert als in Deutschland. Zum einen gibt es die sogenannte "Militärpolizei". Sie ist die Einheit, die auf den Straßen der brasilianischen Städte für die Sicherheit sowie die Prävention und Bekämpfung von Verbrechen zuständig ist. Die Aufklärung von Straftaten steht in der Verantwortung der "Zivilpolizei", die auch als "juristische Polizei" bezeichnet wird. Diese Zweiteilung ist in der Verfassung von 1988 festgeschrieben. Die organisatorische Verantwortung für die beiden Polizeiorgane liegt bei den Bundesstaaten. Neben Militär- und Zivilpolizei gibt es noch die "Munizipalgarde", der je nach Bundesstaat unterschiedliche Aufgaben zukommen. Zudem gibt es eine Bundespolizei, die für Bundesstaaten übergreifende Investigationen zuständig ist. Sie kümmert sich um Passkontrollen an den Grenzen und ist für die Sicherheit der Autobahnen zuständig.

Mit den Terroranschlägen auf die Olympischen Spiele in München im Jahr 1972 kam die Frage der Sicherheit im Rahmen sportlicher Großereignisse auf. Seitdem wurden Sicherheitsmaßnahmen zur Priorität erhoben und stark standardisiert. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 trugen dazu bei, diese Tendenz zu verstärken. Sicherheitsmaßnahmen beziehen sich seitdem vor allem auf Abwehr von Terroranschlägen – und koppeln sich damit mehr und mehr von realistischen Bedrohungsszenarien ab. Terror ist in Brasilien jedoch kein vordringliches Thema. Das Land hat andere Sicherheitsprobleme, die den lokalen Behörden Sorgen bereiten. Allein im Jahr 2012 hatte Brasilien über 50.000 Mordopfer zu beklagen. Die meisten dieser Toten sind afro-brasilianisch, arm und aus den Favelas oder städtischen Randgebieten. Bewaffnete Überfälle, Lynchjustiz und Schießereien auf Grund von Nichtigkeiten gehören in vielen Metropolregionen schon seit Jahren zum Alltag. Auch auf dem Land sieht es mittlerweile nicht besser aus. Verschiedene Faktoren wie noch immer schlechte Perspektiven für Jugendliche, zu viele Waffen in privater Hand (laut Einschätzungen des Small Arms Survey ist 56 Prozent des Kleinwaffenbesitzes in Brasilien entweder kriminell oder informell) und verloren gegangenes Vertrauen in den Staat, der es nicht schafft für Sicherheit zu sorgen, führen teilweise zu diesen Problemen.

Ein kriminelles Netzwerk übernimmt staatliche Funktionen

In der 20-Millionen-Stadt São Paulo hat sich seit 1993 das kriminelle Netzwerk "Primeiro Comando da Capital" (PCC – Erstes Hauptstadt Kommando) etabliert. Nach dem berüchtigten Massaker im damaligen Gefängnis Carandiru, bei dem 111 Menschen von der Militärpolizei erschossen wurden, gründete sich aus einer Gruppe von Häftlingen das PCC. Ihr Grundsatz: Solche Gewalttaten nie wieder zuzulassen und gegen die Unterdrückung in den Gefängnissen zu kämpfen. Lange vom brasilianischen Staat ignoriert, hat das Netzwerk heute den Drogenhandel in weiten Teilen Brasiliens so gut wie vollständig unter Kontrolle. Es ist in 90 Prozent aller Gefängnisse des Bundesstaates São Paulo und weiteren Bundesstaaten aktiv. Die Machtposition des PCC basiert heute unter anderem auf der Tatsache, dass viele junge Gefängnisinsassen in dem Netzwerk Menschen finden, die sich durch die gleichen schwierigen Lebensbedingungen außerhalb und innerhalb der Haftanstalten verbunden fühlen und so den Weg der Kriminalität einschlagen. Jedoch müssen sich die Mitglieder innerhalb der Gefängnisse dazu verpflichten, auch außerhalb weiterhin für das PCC zu arbeiten und Teile ihres Verdienstes abgeben.

Im Jahre 2006 demonstrierte das PCC seine Macht in Form einer konzertierten Reihe von Anschlägen auf öffentliche Verkehrsmittel sowie die Polizei und versetzte die Wirtschaftsmetropole über Tage hinweg in den Ausnahmezustand. Auch im Jahr 2012 gab es in São Paulo tödliche Auseinandersetzungen zwischen Militärpolizei und dem Kriminellennetzwerk. Und doch gibt es Menschen, die sich hilfesuchend an das PCC wenden, weil ihnen das Vertrauen in die staatlichen Organe abhanden gekommen ist. In einigen Vierteln der Stadt São Paulo hat das Netzwerk eigene informelle Gerichte errichtet, die inzwischen auch von Menschen aufgesucht werden, die mit der Welt des Verbrechens nichts zu tun haben. Sie suchen hier die Rechtsprechung, die der Staat ihnen nicht gewährt. Absurderweise führt die Herrschaft des PCC zu weniger Morden auf den Straßen: Der Rückgang der Mordraten in São Paulo zwischen 2001 und 2011 von 41,8 auf 13,5 pro 100.000 Einwohner ist für die einen der Beweis von gelungener Sozialpolitik, wird von Kennern der Szene aber auf die kontrollierende Macht des PCC zurückgeführt.

Die Rolle der Polizei

Dennoch wird die Polizei als Vertreter des brasilianischen Staates wahrgenommen. Jugendliche aus der Peripherie São Paulos klagen über willkürliche Kontrollen und Misshandlungen körperlicher und verbaler Art von Seiten der Polizei. Dieser wird von vielen brasilianischen Sozialwissenschaftlern eine Mitverantwortung für die eskalierende Gewalt im Land zugesprochen. Im Jahr 2006 erschoss die Militärpolizei in der Woche nach den Angriffen des PCC 144 Menschen – von denen viele mit den Anschlägen nichts zu tun hatten. Das Argument der Polizei: Verteidigung aus Notwehr. Eine Untersuchung der Vorfälle im Auftrag der Menschenrechtsorganisation Connectas konnte allerdings beweisen, dass ein Großteil der Opfer an Stellen getroffen wurden, die nicht auf eine Notwehrreaktion der Polizei schließen lässt. In den ersten drei Monaten des Jahres 2014 hat die Polizei im Bundesstaat Rio de Janeiro laut des Instituts für Innere Sicherheit 153 Menschen aus Notwehr getötet.

Die Polizei hat in Brasilien einen zweifelhaften Ruf. Nicht selten sind Polizisten in kriminelle Geschäfte und Handlungen involviert. In Rio de Janeiro haben Polizisten sogenannte "Milizen" gegründet, die lokale Drogenhändler aus Favelas vertrieben, um das kriminelle Geschäft anschließend selbst zu übernehmen. Der Polizei die Alleinschuld zu geben, greift allerdings zu kurz: Ein grundlegendes Problem ist die schlechte Bezahlung von Polizeiangestellten. Ein brasilianischer Polizist verdient im Schnitt 650 Euro brutto. Daher sind sie anfällig für Korruption, und ihre Bereitschaft, für einen derart geringen Lohn in gefährlichen Einsätzen Leib und Leben zu riskieren ist gering. Bis heute ist es in Brasilien keine Seltenheit, dass die Polizei gegen Schmiergeld Drogengeschäften gegenüber ein Auge zudrückt.

Ein anderes grundlegendes Sicherheitsproblem in Brasilien ist die militärische Tradition. Nach dem Übergang zur Demokratie blieben die militärischen Strukturen der Polizei erhalten. Spezialeinheiten der Militärpolizei haben sich seitdem durch brutales Vorgehen einen Namen gemacht. Die "ROTA Einheit" in São Paulo beispielsweise wurde 1969 zur Verfolgung von Regimegegnern gegründet. Seit der Einführung der Demokratie wird sie bis heute als Spezialeinheit der Militärpolizei genutzt. Gerade die ROTA wurde von populistischen Politikern, die gerne für härteres Durchgreifen durch die Polizei plädieren, zum Stimmenfang genutzt: In den Jahren 1991 und 1992 ist die ROTA maßgeblich an der hohen Anzahl von getöteten Zivilisten durch die Militärpolizei beteiligt und patrouilliert bis heute die Straßen der größten Wirtschaftsmetropole Südamerikas. Auch die Spezialeinheit "BOPE" in Rio de Janeiro hat den Ruf, bei ihren Einsätzen in den Favelas sehr schnell zu schießen wobei auch Unschuldige sterben.

Der brasilianische Kriminalitätskomplex

Das Vorgehen der Polizei spiegelt die drei wesentlichen Elemente des brasilianischen "Kriminalitätskomplexes": Die Kultur der Kriminalität, der Staat der Kriminalität und die Ökonomie der Kriminalität. Wer die Problemlage der inneren Sicherheit in Brasilien verstehen will, muss diese drei Ebenen zusammendenken.

Kultur der Kriminalität: In Brasilien hat sich das Phänomen der Gewalt über viele Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte, normalisiert und banalisiert. Das brutale Vorgehen der portugiesischen Kolonialherrschaft und der Sklaverei bereiteten den Weg für ein System der historisch gewachsenen sozialen Ungleichheit. Die Gewalt hat sich in der Kultur des Landes festgesetzt. Politik, Medien und Populärkultur haben traditionell die Tendenz, Gewalt zu verherrlichen. Die Hemmschwelle, Gewalt selbst anzuwenden oder sie für ein probates Mittel zu halten, ist gering. So ist eine Gesellschaft der Angst entstanden, die sich unter der Militärdiktatur verfestigt hat und bis heute fortbesteht. Diese Angst strukturiert den Alltag der Menschen oft augenfällig: Wer durch Städte wie São Paulo spaziert, sieht durch Gitter oder Mauern geschützte Häuser. Die private Sicherheitsindustrie boomt dort seit vielen Jahren.

Staat der Kriminalität: Die Gewalt in Brasilien hat sich institutionalisiert. Seit dem Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie 1985, und dann mit der neuen brasilianischen Verfassung 1988, hat sich die Demokratie in Brasilien weitestgehend konsolidiert. Polizei, Teile des Strafvollzugs und der Justiz haben sich dem demokratischen Wandel jedoch nur teilweise unterworfen. In brasilianischen Gefängnissen herrschen unzumutbare Zustände: Überfüllte Zellen, organisierte Kriminalität und extreme Gewalt sind nur einige der dort grassierenden Probleme. Die Justiz ist überfordert und zu langsam. Nicht selten sitzen Menschen länger in Untersuchungshaft als ihre später verhängte Haftstrafe tatsächlich ausfällt. Eines der größten Probleme ist die Straffreiheit. Viel zu selten werden Morde vollständig aufgeklärt.

Ökonomie der Kriminalität: Der brasilianische Soziologe Michel Misse beschreibt für Rio de Janeiro zwei verschiedene illegale Märkte, die aber auch in anderen Städten existieren. Auf dem ersten Markt werden "normale" illegale Waren gehandelt: Drogen, Diebesgut oder Waffen. Auf dem zweiten Markt spielt sich der Handel mit sogenannten "politischen Waren" ab: Dinge wie Sicherheit, kleine oder größere Gefälligkeiten und Schutzgeld. Politische Waren entstehen immer dann, wenn Angestellte des Staates diese Waren mit vom Staat finanzierten Ressourcen für private Zwecke nutzen. Am Beispiel São Paulo: Hier gibt es Absprachen zwischen Polizisten und kriminellen Netzwerken, die ihre Mitglieder nach Festnahmen wieder freikaufen. Misse beschreibt nichts anderes als eine Ökonomie der Korruption.

Das Resultat dieser Tendenzen: Viele Brasilianer glauben nicht daran, dass der Staat in der Lage ist, sich um ihre Probleme zu kümmern und fühlen sich als Bürger nicht ernst genommen. Fälle von Selbstjustiz, deren Täter aus den verschiedensten Einkommensklassen kommen, werden immer häufiger. Die Lösungsansätze sind aber allzu oft populistischer Natur und zielen auf ein härteres Vorgehen der Sicherheitsbehörden, anstatt die kulturellen Wurzeln der Probleme zu verstehen und anzugehen.

Es gibt jedoch durchaus auch vielversprechende Ansätze. Immer mehr Vorfälle von Polizeigewalt werden öffentlich und selbst Staatsvertreter angeklagt. In Rio de Janeiro konnten die über Jahrzehnte währenden Territorialkämpfe zwischen Mitgliedern des Drogenhandels und der Polizei in ausgewählten Gebieten erstmals entschärft werden. Verantwortlich dafür sind sogenannte Friedenseinheiten der Militärpolizei. Ob diese Art von situativer Kriminalprävention zu nachhaltigen Erfolgen führt, oder es nur ein frieden auf Zeit ist, bleibt abzuwarten. Der anvisierte kulturelle Wandel innerhalb der Militärpolizei – weg von einer Polizei die auf Machtausübung basiert, hin zum "community policing", das soziale Komponenten miteinbezieht – ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber er braucht Zeit.

Auch die neuen Sicherheitszentren die in allen WM-Städten eröffnen, und in denen zum ersten Mal Militär- und Zivilpolizei unter einem Dach zusammen arbeiten, könnten zu einem positiven Sicherheitserbe werden. Um das verloren gegangene Vertrauen zwischen Polizei und Bevölkerung auch längerfristig wieder herzustellen, bedarf es allerdings mehr als nur der militärischen Besetzung von Favelas. Brasilianische Politiker beharren zwar darauf, dass die WM und die Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro nicht der Grund für die neuen Sicherheitsstrategien seien. Es steht aber außer Frage, dass die Events Katalysatoren für die Sicherheitsprogramme und Aufrüstung der Polizei sind. Mutige Politiker werden gebraucht, die sich unabhängig davon an grundlegende Reformen im Polizei- sowie Sicherheitssektor wagen und diese über 2016 hinaus gestalten.

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Dennis Pauschinger (© Dennis Pauschinger)

Dennis Pauschinger ist freier Autor, er studierte Soziologie in Hamburg sowie São Paulo.