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"Ein Labor für Experimente" | Brasilien | bpb.de

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"Ein Labor für Experimente" Interview mit Dr. Ronaldo Lemos

Dr. Ronaldo Lemos

/ 8 Minuten zu lesen

Brasilien ist ein Vorreiter für demokratische Bürgerbeteiligung im Internet, meint Dr. Ronaldo Lemos. Im Interview spricht der brasilianische Jurist und Leiter des Institute for Technology & Society in Rio de Janeiro über die Kraft gesellschaftlicher Bewegungen, die Krise des Internets und billige Technik für die Favelas.

Screenshot Open Data Portal Brasilien (© dados.gov.br)

Brasilien ist eine der führenden Nationen wenn es um eGouvernment-Angebote geht. (hier ein Screenshot des brasilianischen Open-Data-Portals)Carmen Eller: In Brasilien können die Bürger Gesetzesentwürfe im Internet diskutieren. Sie waren als Jurist an der Einführung dieses Konzepts beteiligt. Wie kam es dazu?

Dr. Ronaldo Lemos: Im Jahr 2007 entstand die Idee, ein Gesetz für das brasilianische Internet zu entwickeln. Das Justizministerium hat mich dazu als Experten angefragt. Meine Aufgabe bestand darin, für mein Konzept des sogenannten "Marco Civil da Internet" eine Plattform zu entwickeln, über die sich Bürger an einer offenen Konsultation beteiligen können. Normalerweise werden Gesetze hinter verschlossenen Türen diskutiert. Unser Ansatz war: Wir schreiben ein Gesetz zum Internet, warum also nutzen wir das Internet nicht auch, um dieses Gesetz transparent und gemeinschaftlich zu entwickeln?

Wie konnten brasilianische Bürger an diesem Vorgang teilnehmen?

Die Registrierung war sehr einfach. Man gab seine Steuernummer an, um die eigene Identität zu bestätigen. In der Verfassung Brasiliens gibt es eine sehr interessante Regelung: Sie verbietet die anonyme Meinungsäußerung.

Für eine Demokratie ist die geheime Abstimmung aber eine wichtige Grundlage.

Absolut. Und das ist genau der Unterschied zwischen dem Abstimmungssystem und diesen Foren für öffentliche Partizipation. In einer Demokratie gibt es Formen der Teilhabe, die über das Wählen hinausgehen. Dann können Entscheidungsprozesse noch differenzierter ablaufen. Der Punkt ist: Wir suchten für unser Gesetz keine Mehrheiten, um Entscheidungen herbeizuführen. Wir wollten eine sachkundige rationale Debatte, in der sich die besten Argumente durchsetzen. Anonymität ist unter bestimmten Bedingungen ein wichtiger Wert. Aber in unserem Fall war es gut, die Identität der Teilnehmer zu kennen. So versteht man die Position einer bestimmten Person einfach besser. Schließlich macht es einen großen Unterschied, ob jemand als privater Nutzer kommentiert oder eine Firma vertritt.

Wie muss man sich diesen Prozess praktisch vorstellen?

Wir starteten die Plattform im Oktober 2009 (Externer Link: culturadigital.br/marcocivil). Zuerst diskutierten wir online über die Prinzipien und Werte, die das Gesetz verkörpern sollte. Dann erarbeiteten wir einen Gesetzentwurf, der erneut zur Diskussion gestellt wurde. Unter jedem einzelnen Artikel konnten die Bürger ihre Kommentare hinterlassen. Verschiedenste Wählerschichten beteiligten sich an der Diskussion: private User, Programmierer, große Firmen, Medienanstalten, Telekommunikationsgesellschaften oder auch zivilgesellschaftliche Organisationen. Zwei Dinge waren uns besonders wichtig: Jeder sollte über den gleichen Kanal an diesem Prozess teilnehmen und alle Kommentare sollten öffentlich sein. Rund 100 Leute beteiligten sich an der Aktion. Wir haben einen Samen gesäht, der sich zu einer Reihe von Initiativen auswuchs.

Inwiefern?

Diese Plattform wurde kurz darauf auch für andere legislative Prozesse genutzt, die nicht direkt mit dem Internet zu tun haben, etwa für die Reform des Copyrights. Schließlich entwickelte der Kongress in Brasilien sogar eine eigene Webseite namens "Externer Link: e-Demokratie". Dort lief es ganz ähnlich. Auf diesem Portal kann man bis heute Gesetze sehen, die öffentlich zur Diskussion gestellt werden. Das ist ein Beispiel für E-Government, aber auch für E-Governance. Man hat es mit einem Regierungsthema zu tun – nämlich dem legislativen Prozess –, aber auch mit Fragen wie: Wer möchte Entscheidungen fällen? Wer sollte etwas beitragen dürfen? Nur der Kongress oder auch die Öffentlichkeit?

Was verstehen Sie unter E-Government in Abgrenzung zu E-Governance?

Die ursprüngliche Definition von E-Government war: Wie nutzt man das Internet und andere Technologien, um Regierungsdienste anzubieten? Es geht darum, die Möglichkeiten der Verbindung zwischen der Regierung und den Bürgern durch Technologie zu erweitern. Die neuere Definition ist: Wie kann man die Regierung verändern, um dort die gleichen Möglichkeiten zu haben wie mit der Technologie? Wie kann man die Regierung den Prinzipien annähern, die sich aufgrund des Internets verbreitet haben, etwa Offenheit, Dezentralisierung, Transparenz oder Flexibilität. E-Governance dagegen geschieht nicht nur auf der Regierungsebene, sondern auch in Firmen, NGOs, Communitys. Wir können die neuen technologischen Möglichkeiten nutzen, um solche Prozesse zu verbessern. 

Woher weiß ich als Bürger, dass mein Feedback etwas verändert hat?

Im Fall des "Marco Civil" veröffentlichten wir einen Gesetzentwurf, der die öffentlichen Kommentare berücksichtigte und stellten diesen dann erneut zur Diskussion. Die Bürger, die dachten, man habe ihre Meinung bislang noch nicht berücksichtigt, konnten diese dann noch einmal äußern. Zu einem späteren Zeitpunkt, als das Gesetz dann vor den Kongress kam, wurde bei jeder vorgenommenen Änderung des Gesetzes in einer eigenen Spalte der Name der Person oder Organisation genannt, die diese Änderung angeregt hatte. Dieser Prozess zeigt, wie Demokratie funktioniert. Es macht die Beziehung zwischen dem Kongress und der Gesellschaft transparenter. Man darf aber nicht vergessen: Die letzte Entscheidung über das Gesetz fällt immer noch der Kongress.

Was waren für Sie die wichtigsten Erkenntnisse, von denen auch andere Länder profitieren könnten?

Wir haben gelernt: Es reicht nicht, eine Webseite oder eine Plattform ins Netz zu stellen und zu erwarten, dass die Leute dort einfach auftauchen. Das tun sie nicht. Menschen haben ihre Gewohnheiten. Sie konsumieren jeden Tag eine bestimmte Auswahl an Medien. Diese Gewohnheiten zu ändern, ist fast unmöglich. Man muss deshalb dort hingehen, wo die Menschen sind. Das war eine wichtige Lektion für uns. Wenn man Projekte in Brasilien oder auch in anderen Ländern starten will, kommt es nicht nur auf technische, sondern auch auf gesellschaftliche Lösungen an. Damit ein Projekt erfolgreich läuft, ist soziale Innovation viel wichtiger als technologische Innovation.

Wie viele Menschen in Brasilien haben heute Zugang zum Internet?

Rund 100 Millionen. Das sind 50 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zum Vergleich: Ende der 1990er-Jahre nutzten nur rund drei Millionen Menschen im Land das Internet. Im letzten Jahrzehnt gab es in Brasilien eine riesige Welle unternehmerischer Initiativen. Kleinunternehmer eröffneten im ganzen Land Internetcafés. Dort gingen viele Brasilianer zum ersten Mal online. Diese Cafés gibt es bis heute – vor allem in den Favelas – aber ihre Zahl nimmt ab. Heutzutage nutzen die Brasilianer vor allem ihre Mobiltelefone, Computer und Tablets. Besonders unter armen Menschen wird diese Technik immer beliebter. Neue Untersuchungen zeigen: Die drei meistbegehrten Objekte für Bürger mit niedrigem Einkommen sind Notebooks, Smartphones und Tablets.

Ist diese Technik nicht unerschwinglich für die armen Schichten Brasiliens?

In China und in anderen Teilen Asiens gibt es Firmen, die extrem billige Smartphones und Tablets herstellen, die dann auch in den Favelas gekauft werden. Wir sprechen hier natürlich nicht vom iPad, sondern von billigen Geräten, die weniger als 100 Dollar kosten. Diese werden von unbekannten Marken produziert und auf ihnen läuft kostenlose Software. Sie erreichen auch die ärmsten Schichten in Brasilien, erlauben es den Menschen zusammenzukommen und ihre Meinung zu äußern.

Wie können E-Governance und E-Government die Demokratie fördern, wenn bislang nur die Hälfte der Brasilianer das Internet nutzt?

Tatsächlich ist das ein großes Problem. Der interessanteste Zeitpunkt für demokratische Experimente ist sicherlich, wenn jeder diesen Zugang hat. Doch wir sollten nicht warten. Man muss gleichzeitig die Reichweite des Internets vergrößern und die bereits bestehenden Internetverbindungen nutzen, um mehr Partizipation und bessere öffentliche Dienste zu ermöglichen. Natürlich ist dies eine große Herausforderung.

Wo steht Brasilien heute im Bereich e-Governance?

Brasilien spielt in dieser Diskussion eine entscheidende Rolle. Viele der einflussreichsten Ideen für Partizipation in diesem Bereich sind in Brasilien entstanden. Hier gibt es heute eine große Nachfrage nach Prozessen und Technologien, welche die demokratische Teilhabe der Bürger erweitern. Ein Grund dafür ist, dass die Menschen mit dem Vorgehen der Politik nicht immer zufrieden sind. Sie wollen mitreden, aber haben das Gefühl, dass ihre Meinungen nichts gelten. Sie wollen an Entscheidungen beteiligt sein und denken, dass Wahlen allein nicht ausreichen, um am demokratischen Prozess teilzuhaben. Es gibt im Land viele Initiativen und es werden immer mehr. In diesem Sinne ist Brasilien ein Labor für Experimente.

Nennen Sie uns ein Beispiel.

Das beste Beispiel sind die Externer Link: Proteste vom Juni und Juli 2013, als Millionen von Menschen auf die Straße gingen. Als Reaktion auf die Proteste verabschiedeten der Kongress und die Regierung eine Reihe von Regelungen. Diese Proteste wurden vor allem online, über soziale Medien und andere Plattformen, organisiert. Ein populärer Slogan auf Transparenten lautete: "Wir sind aus dem Facebook gekommen". Die brasilianische Gesellschaft artikuliert sich heute auf verschiedensten Wegen – vom Crowdfunding bis hin zu Initiativen von Bürgerjournalisten. Es ist eine energiegeladene Gesellschaft.

Woher kommt diese Energie?

Dadurch, dass Gruppen aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft nun zusammentreffen. Brasilien ist ein riesiges Land mit unterschiedlichsten Lebensweisen. Die Bandbreite reicht von indigenen Gruppen über Vertreter unterschiedlicher sexueller Orientierungen bis hin zu sehr reichen und sehr armen Menschen. Sie alle haben nicht unbedingt die gleichen Wertvorstellungen. Aber es ist fantastisch zu sehen, dass Kommunikationstechnologien diese Gruppen zusammenbringen. Wir werden sehen, wie sich die daraus entstehende Energie in Zukunft auswirkt – ob sie etwa zu weiteren Protesten führt, zu neuen Unternehmensformen oder zur Neuerfindung der demokratischen Beteiligung der Bürger.

Angesichts der NSA-Skandale sorgen sich Menschen um die Sicherheit ihrer Daten. Sinkt da nicht die Bereitschaft, sich online an politischen Prozessen zu beteiligen?

Das ist ein wichtiger Punkt. Ich glaube, vor uns liegt in den nächsten Jahrzehnten eine große Herausforderung. Wir müssen die Institutionen, die wir geschaffen haben, neu erfinden. Der Gebrauch von Technologien zwingt uns, neu über alle Institutionen nachzudenken, die wir in vergangenen 400 Jahren gegründet haben. Was bedeutet es, eine rechtsstaatliche Gesellschaft zu haben? Gewaltenteilung ist die Voraussetzung für demokratische Teilhabe online. Demokratische Gesellschaften wie Brasilien oder Deutschland sind nun aufgerufen, die Kontrolle ihrer demokratischen Institutionen zu verbessern. Sie müssen eine Umgebung schaffen, in der sich Menschen ohne Angst beteiligen können. Ansonsten kann das Internet zum Überwachungsinstrument werden, das Menschen zuerst ermutigt, ihre Meinung zu äußern und sie dann dafür abstraft.

Ist es realistisch, dass wir uns einer solchen Überwachung entziehen können?

Diese Krise ist ein Test: Wie flexibel ist unsere Demokratie? Wie gut kann sie sich an die neuen Gegebenheiten anpassen? Wir müssen diesen technologischen Bedrohungen etwas entgegenhalten. Das geht nur mit Gesetzen. Viele Menschen meinen, Gesetze seien unzureichend und unmöglich durchzusetzen. Die einzige Art, sich zu wehren, sei Technologie, etwa durch bessere Verschlüsselung. All das ist wichtig und sollte berücksichtigt werden, löst aber nicht das Problem. Wir stecken heute in einer Internet-Krise, einer Technologie-Krise, einer Krise der Institutionen. Wir müssen unsere demokratischen Institutionen verbessern. Wir brauchen eine starke Gewaltenteilung und mehr Rechenschaftsplicht für Regierungsmitglieder und Institutionen. Wir können uns nur da nur mit Gesetzen wehren. Das ist unsere einzige Hoffnung.

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wurde 1976 in Araguari geboren. Er ist Leiter des Institute for Technology & Society in Rio de Janeiro, Dozent an der Rio de Janeiro State University, und "non-resident researcher" für das MIT Media Lab in Boston. Er ist Chef von "Creative Commons" in Brasilien, Rechtsanwalt, Buchautor und seit 2012 Mitglied des "Social Communications Council" des brasilianischen Kongresses. Als Vertreter der Zivilgesellschaft berät den Kongress zur Gesetzgebung in den Bereichen Meinungsfreiheit und Medien. Lemos lebt in Rio de Janeiro.