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Vielfalt als Erfolgsmodell

Roberto DaMatta

/ 8 Minuten zu lesen

Bis ins 20. Jahrhundert versuchte Brasilien, Modelle anderer Staaten zu kopieren. Erst im 21. Jahrhundert hat es erkannt, dass seine kulturelle und ethnische Vielfalt ein eigenes Modell ist, von dem die Welt in Zeiten der Globalisierung lernen kann. Ein Versuch, den Aufstieg des Landes zu erklären.

Brasilianerinnen bejubeln den Sieg ihrer Fußball –Nationalmannschaft (© picture-alliance/dpa)

Brasilien hat das 20. Jahrhundert zweifellos mit dem linken Fuß betreten. Um 1900, zwölf Jahre nach der schrittweisen und späten Befreiung der Sklaven, zweifelte Brasilien zutiefst an seiner nationalen Integrität und Identität. Wir waren der Meinung, unser Land kranke an seiner Mischung aus "weißen", gierigen Portugiesen, "primitiven" Indios, die noch in der Steinzeit lebten, und "Schwarzen", die als Sklaven einzig der Arbeit gedient hatten. Unser System war alles andere als stabil, beruhte es doch einzig auf der Ausbeutung von Arbeitskraft; hinzu kam unsere Unfähigkeit, mit dem Reichtum an Bodenschätzen adäquat umzugehen. Unsere Eliten waren klein und aristokratisch und orientierten ihre Bemühungen um politische Veränderungen an Ländern, die sie für weiter fortgeschritten oder in ihrem politischen System für effizienter hielten.

In der politischen Vorstellung der Brasilianer war einzig der Staat als Protagonist von Macht und Machtwechsel denkbar, und nicht etwa die Gesellschaft. Ich vermute, dass diese Fokussierung auf den Staat als Hauptakteur auf der Vorstellung einer allmächtigen Staatsgewalt und der gleichzeitigen Unterschätzung der Macht (und des Widerstandspotenzials) einer Gesellschaft und ihrer Werte beruht. Da die Brasilianer keine Vorstellung von der Macht hatten, die sozialen Beziehungen, Religion und Kultur innewohnt, und sich an "fremden" Modellen orientierten, konnten sie den "brasilianischen Weg" nur als "falsch", ihr Land als rückständig, krank und fehlerhaft beurteilen. Unser größtes Manko war allerdings nicht behebbar, schon gar nicht mit Gesetzen, die man sich anderswo abgeschaut hatte: Brasilien war eine hybride Gesellschaft, in der sich Kulturen und Ethnien mischten, statt wie in anderen Ländern schön säuberlich voneinander getrennt zu koexistieren, sie lebten zusammen, gingen Beziehungen ein und brachten Menschen hervor, die mit den klassischen "Rassen"-Termini nicht zu erfassen waren. Kurz: Nach Meinung der Brasilianer war in Brasilien nichts, wie es sein sollte, alles musste erst noch in die richtigen Bahnen gelenkt werden.

Diese Selbstverachtung wurde durch die frustrierenden Erfahrungen mit der Staatsform der Republik, zur der das Kaiserreich 1889 ohne größeres Blutvergießen geworden war, nur bestätigt, deren Vertreter gesellschaftliche Veränderungen mittels institutioneller Modernisierung durchsetzen wollten. Die Selbstverachtung drückt sich sogar in den Werken der brasilianischen Wissenschaftler aus, die sich mit unserer Geschichte beschäftigten, mit den Einflüssen, die uns zu dem gemacht hatten, was wir waren, und mit unseren Zukunftsperspektiven: Alle stimmten sie darin überein, dass Brasilien aufgrund seiner Multiethnizität, seines Klimas und seiner Geschichte zum Scheitern verurteilt sei. Brasilien wurde gemessen an dem, was es nicht war und nicht hatte, an dem, was es historisch und sozial nicht erreicht hatte. Das ging so weit, dass so mancher Vertreter der Elite es bedauerte, nicht mit Bürgerkriegen oder blutigen Revolutionen aufwarten zu können.

Für die eurozentristische und US-amerikanisierte Welt des 20. Jahrhunderts war Heterogenität gleichbedeutend mit "ungesund" und "rückständig". Mit der Konsolidierung des kapitalistischen Nationalstaates, dem Aufkommen von exzessivem Nationalismus und dem Triumph des Individualismus, des Marktes, der Industrialisierung und Technisierung war der "zivilisierten Welt" in ihrem Fortschrittsstreben nichts wichtiger als die Idee von "Reinheit" und Eindeutigkeit. In diesem Denksystem war die Koexistenz zweier oder mehrerer kultureller Codes in ein und demselben System, die die Welt auf unterschiedliche Weise interpretierten, ein Zeichen von Rückständigkeit. Der Nationalstaat sollte eine Einheit bilden und von einem einzigen Oberhaupt regiert werden, mit anderen Worten, einen "Volkskörper" darstellen und aus einer einzigen "Rasse" bestehen. Diese Ideologie ist kennzeichnend für die tragische Geschichte des 20. Jahrhunderts mit seinen brutalen, rechten wie linken totalitären Regimes, seinen zwei blutigen Weltkriegen und dem Holocaust, der, so sei daran erinnert, in der Ideologie der "Rassenreinheit" seinen Ausgangspunkt nahm.

Wie aber sollte das kulturell heterogene Brasilien der Tatsache begegnen, dass der so bewunderte Okzident Rassenreinheit und ethnische Trennung predigte? Wie ein Land klassifizieren, das aus ehemaligen Sklaven und Sklavenhaltern zusammengesetzt war? Und wie es regieren, angesichts seiner riesigen Masse an Analphabeten – meist Schwarze oder Mestizen –, die einer kosmopolitischen, gebildeten "weißen" Elite gegenüberstand? Einer Elite, die in Brasilien letztlich ein Fremdkörper geblieben war und sich durch eine weiße, königliche Familie repräsentiert fühlte, die mit merkwürdigem Akzent sprach und sich über Recht und Gesetz hinwegsetzte?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand Brasilien also vor dem unlösbaren Problem, seiner historisch gewachsenen Heterogenität mit einem zivilisatorischen Modell begegnen zu wollen, das Hybridität als gesellschaftliches Konzept schlicht ablehnte. Ein Modell, das obendrein von der Prämisse ausging, die kolonisierten und rückständigen Völker müssten einfach nur die Geschichte der "entwickelten" Länder wiederholen. Aber wie hätte Brasilien wie Frankreich, England, Deutschland oder (vor allem) die Vereinigten Staaten werden können, wenn es doch in seiner Geschichte sowohl Amerika als auch Afrika und Europa auf widersprüchliche Weise vereinte: Es hatte ein riesiges "Heer" an Sklaven gehabt und hatte 1807 unerwartet den Sitz
der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs
von Portugal, Brasilien und den Algarven mit seinen Königen und Kaisern inne, von denen einer schließlich die Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal erklärte. Und wie sollte man darüber hinaus mit der Ideologie umgehen, "Weiß-Sein" sei der zivilisatorische Höhepunkt und somit erstrebenswert, wenn doch Brasilien zutiefst "gemischt" war? Und seine Unterschiede nicht auf dem Weg des Konflikts glattzubügeln versuchte, sondern sie in einer Ethik der Uneindeutigkeit bestehen ließ?

Es ist hinlänglich bekannt, dass im Namen der "Weißwerdung" und der absoluten nationalen Integrität die Indios ausgelöscht wurden und dass dies einherging mit einer rassistischen Gesetzgebung. In Brasilien jedoch war der Grad der "Durchmischung" so, dass man die ethnische Vielfalt nicht einfach ignorieren konnte. Wie sollte man mittels Gesetzgebung und Politik fein säuberlich trennen, was in der gesellschaftlichen Realität über die Jahrhunderte zusammengebracht worden war? Wie sollte man die "Vermittler" aus der Gesellschaft verstoßen, wenn sie doch eine polarisierte Gesellschaft entpolarisierten und gewissermaßen das "Herz" des Systems darstellten?

Wenn, wie Tocqueville schreibt, die "Gewohnheiten des Herzens" in den USA Gleichheit und Individualismus waren, so wurden diese Werte in Brasilien auf Kirchhöfen, Plätzen, Karnevalsumzügen, Prozessionen und innerhalb synkretistischer Glaubensformen (die aus der Vermischung verschiedener Religionen hervorgegangen waren) gelebt. Dies machte vor allem eins deutlich: Alles war gleichzeitig gut und schlecht, brachte Erlösung oder bedeutete Verdammung. Der kosmische Raum des calvinistischen Amerika lässt entweder Erlösung oder Verdammung zu; wir Brasilianer haben einen dritten Weg eingeschlagen: das Fegefeuer, den Strand, die Mischung und den Karneval.

Da "Rassenreinheit" in Brasilien nicht umsetzbar war, berief man sich auf eine Reihe antihegemonialer Werte, die die politische Erfahrung Brasiliens widerspiegelten und auf Hybridität basierten. Nachahmung war nun mal nicht möglich, und so entwickelte man eine ganz eigene brasilianische Art des Seins, Lebens, Regierens. Was schließlich in dem Selbstbild mündete, dass kulturelle Vielfalt letztendlich eine positive Erfahrung darstellt – im höchst originellen Werk des brasilianischen Soziologen Gilberto Freyres erstmals formuliert.

Wir waren nun mal keine weiße, homogene Gesellschaft, die durch weltweit gültige Gesetze repräsentierbar war. Wir waren Mulatten und konnten unsere Uneindeutigkeit und Heterogenität zu unserem Vorteil nutzen. Und auf dieser – bewussten oder unbewussten – Grundlage wurde aus dem Kaiserreich Brasilien eine Republik, wurde aus Sklavenarbeit freie Arbeit. Und auf dieser Grundlange widerstanden wir auch der rassistischen und totalitären Welle des 20. Jahrhunderts: Wir hatten autoritäre, technokratische Regimes, aber keinen Nazismus oder Stalinismus; wir waren Rassisten, aber keine Segregationisten.

In der heutigen Zeit der Globalisierung, in der die Welt geschrumpft ist; in der beschleunigte Kommunikation und Austausch mit dem Süden, aber auch die Krise des eigenen Wirtschaftsmodells die westliche Gesellschaft zwingen, sich mit anderen Werten und Vorstellungen auseinanderzusetzen; in der Individualismus und Produktion im Zeichen des Konsums stehen und oft zweifelhafte Formen annehmen; in der Konflikte um Prinzipien und Werte zunehmen, fällt ein neues, positives Licht auf die brasilianische Erfahrung. Und dieser Prozess ist ausgerechnet unter einer "linken" Regierung zu beobachten, die ihren Werten zum Trotz sich vom Liberalismus nie distanziert hat und dem Personenkult und der Vetternwirtschaft weiterhin frönt.

Brasilien hat es geschafft, ein schwieriges Vermächtnis konstruktiv zu nutzen. Dies zeigt deutlich die Macht, die sozialen Beziehungen in Zeiten des Wandels innewohnt. Sicherlich ist unsere Gesellschaft alles andere als friedlich, aber es existiert in Brasilien keine staatliche Gewalt, die sich explizit gegen Ethnien und Religionen richtet. Und wir unterwerfen uns nicht einem wirtschaftlichen Dogma, das einzig den Markt oder den Finanzmarkt im Blick hat, sondern die Politik steht im Zentrum.

Im 21. Jahrhundert, das bisher im Zeichen der Zuwanderung, der Ethnisierung und der Krise nationaler Identität steht, ist Brasilien eindeutig im Vorteil. Zum einen, weil die Gesellschaft sich nicht an den Staat und an die von ihm repräsentierten Werte zu klammern braucht – sie hat schließlich die zügellose, meist straffrei davongekommene Korruption und die katastrophale Inflation am Ende des 20. Jahrhunderts überlebt, ohne dass sie deswegen aufgehört hätte, den Karneval zu feiern oder sonntags am Strand die ernsten Dinge des Lebens zu "vergessen". Zum anderen, weil Brasilien einen riesigen Erfahrungsschatz besitzt, wenn es darum geht, unterschiedliche soziale Realitäten unter einen Hut zu bringen. Sicher war diese Gesellschaft in der Vergangenheit durch eine extreme Ungerechtigkeit gekennzeichnet, doch war sie nie segregationistisch. Unser Kapitalismus war zwar nie bürgerlich, sondern staatlich oder von Großgrundbesitzern bestimmt, doch hat er die soziale Komponente nie ganz aus den Augen verloren.

Es kann nicht darum gehen, die Gesellschaft nach einem bestimmten Bild einer Nation zu formen, sondern darum, dass die Probleme der Gesellschaft vom Nationalstaat wahrgenommen werden.

Die Welt des 21. Jahrhunderts wird mit Sicherheit globalisiert, bürgerlich und universalistisch sein, in ihr werden aber auch ethnische und religiöse Werte eine große Rolle spielen. Es wird eine Welt sein, die zugleich homogen und heterogen ist. Ein Universum, in dem der Fähigkeit zum Verhandeln eine große Rolle zukommt, aber auch der Fähigkeit, Uneindeutigkeit und Unterschiede auszuhalten, mit anderen Worten: Diese Welt wird viel brasilianischer sein, als unsere Theoretiker es sich im Traum hätten vorstellen können. Auf diesem Planeten, der von einem gefräßigen Wirtschaftssystem und einen unbarmherzigem Markt regiert wird, werden universelle Dimensionen an Bedeutung gewinnen, es wird immer mehr "Vermittler" geben: "kulturelle Mulatten", die zwischen Nationen und Ethnien leben, Unterschiede erklären, Streit schlichten und hybride Gesellschaften aufbauen, deren Systeme durch ein "Weder noch" oder ein "Sowohl als auch" gekennzeichnet sind. Diese Welt wird viel mehr den "Mulatten" als den "Reinen" gehören und in ihr werden diejenigen unverzichtbar sein, welche die Unterschiede, Hybridität und Vielfalt der "anderen" begrüßen, mit denen sie zusammenleben.

Unsere Erfahrung mit kultureller Vielfalt, unser Glaube daran, dass der Mittelweg der richtige ist – ganz nach dem Vorbild von Jorge Amados berühmter Romanfigur Dona Flor, die zwei Männer heiratet und von jedem profitiert –, könnten sich am Ende rechnen. Denn eines der größten Probleme "unterentwickelter" Staaten ist, dass ihre Ethnien sich gegen die nationalstaatlichen Normen und Gesetze erheben. In Brasilien wird keine Norm, keine Gesetzgebung existieren können, die so tut, als gäbe es die Vermittler nicht. Hier den richtigen Mittelweg zu finden, wird unsere Herausforderung sein, aber auch unser Potenzial.

Aus dem Portugiesischen von Odile Kennel.

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wurde 1936 in Niterói im brasilianischen Bundesstaat Rio de Janeiro geboren. Er ist Anthropologe und emeritierter Professor an der Universität von Notre Dame im US-Bundesstaat Indiana. Er arbeitet zudem als Autor und Journalist. DaMatta lebt in Niterói.