Demokratie und Digitalisierung. Ein Blick auf das politische System Deutschlands
Lena Ulbricht
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Formale Strukturen und Verfahren des politischen Systems in Deutschland haben sich durch die Digitalisierung nicht radikal verändert, analysiert Politikwissenschaftlerin Lena Ulbricht. Größere Veränderungen gibt es stattdessen bei der unmittelbaren Arbeit der Akteure, die das politische System prägen.
Digitalisierung hat zahlreiche Implikationen für moderne Demokratien. Diese lassen sich mittlerweile nicht mehr eindeutig als Chancen und Risiken klassifizieren. Stattdessen prägen digitale Technologien politische Systeme in zahlreichen Dimensionen und können dabei sowohl positiv als auch negativ wirken – je nachdem, welches Ziel man verfolgt. Der Beitrag zeigt in einem ersten Schritt auf, in welcher Art digitale Technologien formale Strukturen des politischen Systems in Interner Link: Exekutive, Interner Link: Judikative und Legislative beeinflussen. Im zweiten Schritt geht es darum, wie die Digitalisierung wichtige politische Akteure beeinflusst – allen voran Bürger*innen, politische Parteien sowie Interessengruppen. Schließlich und drittens hat die Digitalisierung auch zu einer Neuordnung der digitalpolitischen Zuständigkeiten und Akteurskonstellation geführt. Zugleich ist die Transformation des politischen Systems im Zuge der Digitalisierung ein sehr dynamischer Prozess: Es gibt zahlreiche Kontroversen darüber, wie digitale Technologien besser reguliert werden könnten. Der Fokus wird im Folgenden auf Deutschland liegen, aber man muss wissen, dass es Länder gibt, in denen die Digitalisierung das politische System bereits sehr viel stärker durchdrungen hat, wie etwa Estland und Großbritannien.
Exekutive
Wenn es um die Umstellung von Verfahren auf digitale Technologien geht, hat die Exekutive die größten Veränderungen erfahren. So werden die Daseinsvorsorge und öffentliche Dienstleistungen zunehmend mithilfe digitaler Technologien umgesetzt und optimiert: Das betrifft insbesondere den öffentlichen Nahverkehr und die Stromversorgung, aber auch bürgernahe Dienstleistungen und öffentliche Sicherheit. Dabei kommen digitale Technologien ganz unterschiedlicher Art zum Einsatz: Online-Antragsformulare in Bürgerämtern, die Optimierung von ÖPNV-Fahrplänen durch maschinelles Lernen, anpassungsfähige Stromnetze, die die Auslastung optimieren ("smart grids"), Gesichts- und Bewegungserkennung für die Sicherheit an Bahnhöfen und vorhersagende Polizeiarbeit, um Einbruchsdiebstahl zu verringern, sowie viele weitere mehr.
Auch wenn es hier große Unterschiede sowohl zwischen den konkreten Anwendungsbereichen als auch zwischen Bund, Ländern und Kommunen gibt, zeigen sich übergreifend allgemeine Tendenzen: so sollen staatliche Verwaltungsleistungen effizienter und individualisierter bereitgestellt werden, die Bürger*innen folglich Maßnahmen in Anspruch nehmen können, die eigens auf sie zugeschnitten sind. Allerdings können die entsprechenden Technologien auch zu übermäßigen Rationalisierungen und zu einer Benachteiligung von sozial verletzlichen gesellschaftlichen Gruppen führen, etwa in Form von algorithmischer Diskriminierung. So gab es etwa öffentliche Kontroversen zur Frage, ob Gesichtserkennung an Bahnhöfen oder Analysen von Big Data zur Kriminalprävention rassistische Diskriminierung durch Polizeikräfte und Sicherheitsdienste fördern.
Judikative
Auch die Justiz ist zunehmend durch digitale Technologien geprägt: So werden Unterlagen und Verfahren auf digitale Formate und Kommunikationswege umgestellt – ein Projekt, das unter dem Namen "digitale Akte" bekannt ist. Die Umstellung trifft allerdings auf zahlreiche Hürden, da in der Justiz besonders große Anforderungen an Datenschutz und Informationssicherheit bestehen. Digitale Technologien werden darüber hinaus auch für die Rechtsprechung eingesetzt – so gibt es zunehmend Software, die zur Klärung von Rechtsstreitigkeiten eingesetzt wird ("legal tech") – insbesondere im Bereich der Rechte von Reisenden, etwa bei Flugausfällen. Auch im Fall des VW-Dieselskandals konnten Verbraucher*innen ihre Schadenersatzforderungen digital geltend machen. In anderen Ländern, etwa den USA, nutzen Richter*innen bereits Software, um die Rückfallwahrscheinlichkeit von Angeklagten einzuschätzen – in Deutschland ist dies bislang nicht üblich. Wie auch in der Verwaltung ist das zentrale Motiv für den Einsatz digitaler Technologien in der Justiz eine Effizienzsteigerung; hinzu kommt die Hoffnung, die Hürden zu senken für Individuen, die ihre Rechte einfordern wollen. Kritiker*innen befürchten jedoch eine "Amerikanisierung" der Justiz, wenn Gerichtsprozesse zunehmend zu einem Geschäft für Kanzleien werden, die sich auf digital gestützte Massenklagen spezialisieren und sehen eine solche Tendenz bereits in Deutschland.
Legislative
Digitales kann nicht mehr eindeutig als Chance oder Risiko klassifiziert werden. (Illustration: Johanna Benz und Tiziana Beck/graphicrecording.cool) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de
Die Arbeit des Bundestags und des Bundesrats sowie der Länder- und Kommunalparlamente in Deutschland hat sich bislang nicht grundlegend durch digitale Technologien verändert. Zwar werden auch hier zunehmend digitale Dokumentationen und Kommunikationswege genutzt, doch ein Großteil der Willensbildung und Entscheidungsfindung ist unverändert geblieben. Online-Wahlen gibt es in Deutschland nur im Bereich der Kirchen und Sozialverbände, aber nicht für Parlamentswahlen, da zahlreiche Probleme mit Blick auf Datenschutz und IT-Sicherheit bestehen. Vorschläge aus den frühen 2000er Jahren, parlamentarische Entscheidungsfindung stärker zu dezentralisieren und dynamischer zu gestalten (im Sinne einer Interner Link: "liquid democracy") haben sich nicht durchgesetzt. Allerdings sind durch digitale Technologien neue Formate der Bürgerbeteiligung wie E-Petitionen entstanden, die die parlamentarische Arbeit durchaus prägen.
Politische Akteure
Zusammenfassend kann man feststellen, dass sich die formalen Strukturen und Verfahren des politischen Systems in Deutschland nicht radikal durch die Digitalisierung verändert haben. Größere Veränderungen gibt es stattdessen mit Blick auf die Konstellation und die Arbeit der Akteure, die das politische System prägen. Denkt man etwa an die Bevölkerung, kann man deren stetig zunehmende digitale Vernetzung beobachten, aber auch beständige soziale Ungleichheiten im Zugang zu digitalen Technologien und ein großes Machtungleichgewicht zwischen Nutzer*innen und Technologiekonzernen bzw. staatlichen Behörden, die Daten verarbeiten. Durch die zunehmende Konnektivität der Bevölkerung und Anstrengungen, staatliche Aktivitäten transparenter zu machen, durch "Open Government" und Interner Link: "Open Data", können Bürger*innen sich in ganz neuem Ausmaß politisch informieren und einbringen.
Zugleich werden sie jedoch auch Zielscheibe von politischer Desinformation und Manipulation, etwa durch Interner Link: "Fake News" oder die sogenannten Interner Link: "Filterblasen" bzw. "Echokammern". Politische Parteien nutzen digitale Technologien etwa, um sich anhand von sozialen Medien ein Bild über aktuelle Meinungstrends zu machen und um präzise Wähler*innenprofile zu erstellen. Die Wähler*innen werden dann im Wahlkampf mit gezielten Botschaften angesprochen – das sogenannte Interner Link: "Microtargeting". Im Idealfall können die Parteien auf diese Weise schnell auf die Belange der Bevölkerung reagieren, also Responsivität zeigen. Im schlimmsten Fall zersplittert die politische Öffentlichkeit jedoch in lauter Einzelbotschaften und fragmentierte Diskurse und Wähler*innen werden gezielt manipuliert. Wie in vielen anderen Ländern gehört Microtargeting in Deutschland mittlerweile zum Repertoire fast aller im Bundestag vertretenen Parteien, doch nimmt es im Vergleich zu anderen Strategien der Wähleranalyse und -gewinnung noch eine nachgeordnete Rolle ein. Auch Interessengruppen analysieren die sozialen Medien, um Kampagnen zielgerichtet zu entwerfen und Abgeordnete zu beeinflussen. Darüber hinaus wenden sie, wie auch manche politische Parteien, digital gestützte Befragungen und Abstimmungen an, um die Partizipation ihrer Mitglieder zu verbessern.
Die Landschaft der politischen Akteure in Deutschland hat sich schließlich auch dadurch verändert, dass dezidiert digitalisierungsspezifische Posten geschaffen worden sind: Allen voran sind hier die digital- oder netzpolitischen Sprecher*innen der Parteien zu nennen, die es etwa seit den 2000er Jahren sowohl auf Bundes- wie auch Landesebene gibt. Diese sind innerhalb der Parlamente in Ausschüssen organisiert, etwa im Bundestagsausschuss Digitale Agenda oder in vergleichbaren Gremien der Länder. Auf Bundesebene gibt es kein Ministerium, das allein für alle digitalpolitischen Themen zuständig wäre. Die Kompetenzen sind zwischen zahlreichen Ministerien aufgeteilt. Allerdings gibt es eine Externer Link: Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung und zahlreiche Koordinationskreise. So traf sich im September 2019 erstmalig die Konferenz aller für Digitalisierung zuständigen Minister*innen, Staatssekretär*innen und Beauftragten der Länder und des Bundes (D17).
Diese Vielfalt an Gremien und Akteuren ist Ausdruck dessen, dass die politische Gestaltung der Digitalisierung in Deutschland (und auch international) sehr dynamisch ist. Lange Zeit war der politische Umgang eher von geringen staatlichen Eingriffen in die Regulierung digitaler Technologien geprägt, doch mittlerweile werden digitalpolitische Fragen in ganz verschiedenen Bereichen diskutiert: Im Datenschutz, im Verbraucherschutz, in der Wettbewerbsaufsicht, in der Cybersicherheit, in der Antidiskriminierungspolitik etc. Die grundlegende Spannung besteht stets darin, die Möglichkeiten digitaler Technologien für Effizienz, Effektivität, Vielfalt und Partizipation zu nutzen, ohne wichtige demokratische Prinzipien wie Gewaltenteilung, Transparenz, sozialen Zusammenhalt und Grundrechte wie etwa Privatheit, Meinungsfreiheit und Bewegungsfreiheit zu gefährden. In welchem Ausmaß sich das politische System Deutschlands in Zukunft weiter verändern wird, hängt stark damit zusammen, in welcher Form und in welchem Ausmaß eine digitalpolitische Regulierung entwickelt wird.
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Dr. Lena Ulbricht ist Politikwissenschaftlerin und Leiterin der Forschungsgruppe "Quantifizierung und gesellschaftliche Regulierung" am Weizenbaum Institut für die vernetzte Gesellschaft. Sie forscht zum Einsatz künstlicher Intelligenz für staatliche Regulierung und ihren demokratischen Implikationen im Kontext von Sicherheitsbehörden, Sozialbehörden und politischen Parteien.
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