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Eine Kurzfassung des Interviews finden Sie auf Externer Link: fluter.de
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Wenn wir ständig alles posten, was wir erleben: Können wir dann noch uns selbst und die Welt richtig erkennen – und sie kritisch hinterfragen? Und wieso füttern wir mit unseren persönlichen Erlebnissen so bereitwillig die großen Tech-Unternehmen? Der Medienphilosoph Roberto Simanowski erklärt es.
Eine Kurzfassung des Interviews finden Sie auf Externer Link: fluter.de
bpb.de: Sind wir insgesamt als Gesellschaft zu sorglos, was die Digitalisierung betrifft?
Roberto Simanowski: Der politische Tenor ist heute überwiegend: erst mal bedenkenlos drauflosdigitalisieren! Dabei ist längst klar, dass es lange Zeit eher zu wenig Bedenken gab. Denn technologischer Fortschritt bedeutet nicht automatisch auch gesellschaftlichen Fortschritt. Andererseits liegt pandemiebedingt durch Homeschooling, Homeoffice und Videokonferenzen natürlich auf der Hand, dass weiter digitalisiert werden muss. Dadurch ist es noch komplizierter geworden, einen skeptischen Standpunkt zu vertreten.
Was hat die Bedenkenlosigkeit erschüttert?
Da wäre vieles zu nennen, unter anderem natürlich historische Ereignisse wie der Aufstieg von Trump, Cambridge Analytica oder das Grassieren von Verschwörungsmythen im Zusammenhang mit Corona. Auf die Pandemie folgte sehr bald auch eine „Infodemie“. Jeder konnte zum Thema Corona alles sagen, denn im Internet gab es keine Gatekeeper oder Diskurs-Polizei mehr. Aber damit fiel natürlich auch die Qualitätskontrolle weg. Digitalisierung ist nicht rundweg positiv. Es gibt immer auch eine dunkle Seite, die man eben auch bedenken muss. Was lange Zeit als Demokratisierung der öffentlichen Diskussionskultur gefeiert wurde, erweist sich inzwischen als eine Gefährdung der Demokratie.
Soziale Medien machen mit unseren persönlichen Erlebnissen Geld und dienen unter anderem der Überwachung. Manche werden sogar psychisch beeinträchtigt dadurch. Warum machen wir trotzdem alle mit?
Weil die Vorteile für uns so offensichtlich sind, während uns die Fantasie für die möglichen Nachteile fehlt. Wir erleben den auf uns abgestimmten Service und sehen auch, dass dafür unsere Daten erfasst werden. Aber diese Daten erscheinen uns banal. Doch mit den richtigen Algorithmen kommen die Anbieter dadurch zu Einsichten in Dinge, die wir eigentlich nicht preisgeben wollen – von religiösen Überzeugungen bis zu sexuellen Vorlieben. Der Fachbegriff dafür lautet „Data finds Data“. Wenn die Plattformen die entsprechenden Profile von uns haben, mit denen sie unsere Daten abgleichen können, dann können sie sich viel mehr über uns erschließen, als viele für möglich halten. Aber das ist eben nicht so sinnfällig wie die Vorteile, die diese Apps haben. Das ist ein Grund, warum alle mitmachen.
Der zweite Grund ist die weit verbreitete Auffassung: Ich habe doch nichts zu verbergen, für mich interessiert sich doch eh keiner. Das stimmt sicherlich auch in vielerlei Hinsicht. Aber wir sollten da ein solidarisches Gewissen entwickeln für diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – sehr wohl etwas zu verbergen haben, z.B. weil die Gesellschaft noch nicht soweit ist, das von der Norm Abweichende zu akzeptieren. Denken Sie an die Homosexuellen, die einmal in Deutschland verfolgt wurden, obwohl sie schon damals keine schlechten Menschen waren. Oder denken Sie an Journalisten, die investigativ arbeiten. Es kann viele gute Gründe geben, warum jemand etwas verbergen muss. Indem wir, die das erstmal nicht so nötig haben, mit unseren Daten sehr großzügig sind und sie zur Profilbildung bereitstellen, erlauben wir es den Plattformen, auch diese anderen immer besser zu analysieren. Dieses Bewusstsein hat aber kaum jemand, denn das ist einfach zu abstrakt.
Nehmen wir die Überwachung als Fürsorge wahr?
Genau und darauf zielt auch der Begriff
Sensationsgier, Bequemlichkeit und Suche nach Selbstbestätigung – ist der Mensch selbst schuld?
Das Internet ist unser Feind, weil es so sehr unser Freund ist. Es bedient, was wir wollen: viel Spektakel und die willkommene Bestätigung unserer Überzeugungen. Filterblasen, in denen wir uns gegen andere Standpunkte abschotteten, existierten früher natürlich auch schon. Wir haben uns die Zeitungen gekauft, die uns politisch näherlagen. Aber da gab es noch eine Redaktion, die dafür sorgte, dass es nicht zu einseitig wird. Es gab ein Berufsethos der Journalisten, auch die andere Seite zu Wort kommen zu lassen – die Algorithmen haben diese Sorge nicht. Die digitale Technik erlaubt die Personalisierung viel stärker, als die Menschen sie früher durchsetzen konnten.
Aber bedienen die Sozialen Medien nicht auch positive Bedürfnisse: Zugehörigkeit zu Gruppen und Austausch mit anderen?
Das ist unbestreitbar. Doch inzwischen ist klar, dass fast alle Vorteile auch ihre Kehrseite haben. Für Minderheiten ist es leicht, im Netz ihre Community zu finden. Ob es Transsexuelle sind, Menschen mit Behinderung oder Menschen, die an einer bestimmten Krankheit leiden. Jeder findet leicht Gruppen, denen er sich zugehörig fühlt und mit denen er sich austauschen kann. Auch für Migranten ist es hier sehr gut möglich, Kontakt in ihre Herkunftsländer zu halten und an ihrem neuen Ort eine Gemeinschaft aufzubauen. In autoritären Regimen können sich die Menschen mittels der Sozialen Medien sehr wirkungsvoll gegen die staatliche Unterdrückung organisieren. Andererseits stehen diese Möglichkeiten der Selbstermächtigung aber auch Extremisten offen, die die Demokratie schwächen wollen. Positiv ist grundsätzlich auch, dass jeder frei seine Meinung äußern kann. Aber die fehlende Qualitätskontrolle öffnet eben auch die Tore für Fake News und Verschwörungsmythen.
Und dann ist da noch die große Selbstdarstellung. Warum stellen die Menschen ihr Leben in den Sozialen Medien so bereitwillig zur Schau?
Es heißt oft, der Grund sei Selbstverliebtheit. Die Leute wollten zeigen, was sie für ein tolles Leben führen. Ich glaube, das stimmt nur zum Teil. Meines Erachtens zeugen die digitalen Selbstdarstellungen von einer Unfähigkeit, das Leben wirklich zu erleben. Gerade an Urlaubsorten sieht man oft, dass die Leute ihre Fotos noch vor Ort posten. Sie sind gar nicht richtig anwesend, sondern sind schon halb in der digitalen Parallelwelt. In meinem Buch „Die Facebook-Gesellschaft“ beschreibe ich das als die Konsequenz der Erlebnisgesellschaft: Liebe dein Leben – das war der Imperativ der achtziger Jahre. Mit dem Internet kam der Imperativ: Erzähle dein Leben! Das wurde mit den sozialen Netzwerken sehr leicht möglich. Und da dieses Erzählen dort verstärkt über Bilder stattfindet, lässt sich das an die Diskussion zum Thema Tourismus und Fotografie in der Zeit vor dem Internet anschließen.
Was für eine Diskussion war das?
Im letzten Jahrhundert gab es eine umfangreiche Kritik an der Fotografie als Mittel, die Welt nicht wirklich wahrzunehmen, etwa von Susan Sontag in den siebziger Jahren, aber auch schon Siegfried Kracauer Ende der 1920er Jahre. Vor allem der italienische Philosoph Giorgio Agamben und später der französische Philosoph Jean Baudrillard diskutieren die Fotografie als eine Art der Flucht vor der Auseinandersetzung mit der Realität. Denn sie hält Realität technisch fest und entbindet die Menschen davon, die Dinge selbst zu beschreiben und zu reflektieren. Anstatt die Welt und ihre Wunder selbst zu erleben, so Agamben, delegiert man dieses Erleben an die Kamera.
Das Foto als Beweis, seine Pflicht als Tourist getan zu haben?
Genau. Es gibt einen kleinen Text von Walter Benjamin aus dem Jahr 1922: „Erfahrung und Armut“. Darin meint Benjamin, dass die modernen Menschen innerlich zu arm sind, um noch echte Erlebnisse zu haben. Sie kompensieren diese Armut damit, dass sie ein Andenken nach Hause bringen. Das Andenken ist für Benjamin die »säkularisierte Reliquie«, mit dem man sich »anständig« aus der Affäre zieht. Die später erst massentauglich gewordene Fotografie ist ein Andenken, das ich selber herstellen kann. Und durch die sozialen Netzwerke landet dieses Andenken nicht im privaten Fotoalbum für spätere Urlaubsberichte, sondern wird geteilt mit anderen Personen schon im Moment seiner Entstehung. Noch während die Leute den Eiffelturm oder die Niagarafälle besichtigen, sind sie mit ihrer Aufmerksamkeit schon in der digitalen Parallelwelt – um zu schauen, ob der Nachweis ihres Erlebnisses auch entsprechend durch Likes honoriert wird. Dieses Delegieren des Erlebens und Genießens an die Maschinerie der sozialen Medien halte ich für eine Steigerung dessen, was Benjamin in den zwanziger Jahren über das Andenken und Agamben in den siebziger Jahren über die Fotografie sagte. Es ist eine Flucht aus dem Moment. Seine Delegation an andere.
Warum diese Flucht?
Wir sind von den Dingen, die wir erleben, überfordert. Wir sollten begeistert sein, langweilen uns aber auch irgendwie. Dem modernen Menschen steht die ganze Welt offen, aber er leidet unter einer inneren Leere, sodass er mit all diesen Erlebnissen im Grunde nichts mehr anfangen kann. Im Pariser Louvre eilen die Leute von Gemälde zu Gemälde, machen vor der „Mona Lisa“ von Leonardo da Vinci ein Selfie und dann geht es weiter. Man hat seine Funktion als Tourist erfüllt, und die anderen in den sozialen Netzwerken bestärken einen: Toll, was du da gerade erlebst! Und wir bestätigen dann deren Erlebnisfotos. So delegiert man das eigentliche Erleben jeweils an die anderen, ohne dass man darüber nachdenkt, was man da eigentlich gerade erlebt hat. Es ist paradox: Wir leben in einer Selfie-Zeit mit abnehmendem Bewusstsein über uns selbst.
Das Erlebnis verfängt nicht, weil innere Leere herrscht und es nichts gibt, woran es haften bleiben kann?
Ja, das würde ich so sagen. Dem modernen Menschen steht die ganze Welt offen, aber er hat gar nicht so viel Welt in sich, um dieser Welt zu antworten, um sie angemessen aufnehmen zu können. Schauen Sie sich zum Beispiel an, wie Menschen in Museen von einem Bild zum nächsten eilen. Was erleben sie, was erfahren sie? Erfahrung beginnt für mich da, wo ein Erlebnis innerlich wirklich etwas auslöst. Wenn ich einen Menschen sehe, der lange vor einem Bild steht und es betrachtet, dann glaube ich, dass in dieser Person wirklich etwas passiert. Anders ist es, wenn jemand nur kurz ein Foto macht oder von einem Exponat zum nächsten eilt. Da passiert etwas anderes, da erfüllt man eher die Erwartung der Umwelt. Diese Erwartung besagt, dass man im Louvre gewesen sein und ein Selfie mit der Mona Lisa im Hintergrund gemacht haben muss. Wir setzen uns also nicht mit dem Ort und dem Werk auseinander.
Man könnte also auch sagen: Wir wissen nicht, wie wir der Welt antworten sollen.
Es gibt ein Gedicht von Rainer Maria Rilkes über die Begegnung mit einem Kunstwerk: „Archaïscher Torso Apollos“. Das Gedicht endet mit den berühmten Zeilen: „Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ Um diese Bereitschaft, noch eine Erfahrung zu machen, die uns aus den Angeln hebt, geht es. Wir aber machen lieber ein Foto, teilen es in den sozialen Netzwerken und alle applaudieren: Toll, super, was du gerade erlebst! So helfen wir uns gegenseitig über unsere Armut hinweg.
Deshalb sprechen Sie auch von Solidarität einer Community, die innerlich verarmt ist?
Ja, denn wir liken dann ja auch im Gegenzug die Fotos der anderen.
Sie knüpfen damit an die kritische Theorie an, in der diagnostiziert wurde, dass die Kulturindustrie die innere Leere der „metaphysisch obdachlosen“ modernen Menschen ausfüllt. In den sozialen Medien werden die Menschen aber selbst aktiv, statt sich nur berieseln zu lassen. Ist das nicht besser?
Ja, das ist es in gewisser Weise vielleicht schon. Aber die sozialen Netzwerke sind letztlich auch eine Kulturindustrie, nur eben getarnt als Partizipationskultur, bei der wir nicht mehr passiv vor der Glotze hängen, sondern selbst aktiv werden, die Inhalte selbst produzieren. Doch Partizipation allein ist es nicht. Da hat sich schon Brecht geirrt in seinem schönen Text „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat“ im Jahr 1932, wo er von Zuhörern träumt, die selbst sprechen. Alle sollten Zugriff aufs Mikrofon haben und von Empfängern zu Sendern werden. Das Internet hat diese Vision im Grunde verwirklicht – mit allen Problemen, die das auch wieder mit sich gebracht hat.
Jetzt wirken wir selbst mit an unserer gegenseitigen Berieselung. Und an dieser Stelle wird der Satz von Adorno zentral, dem wichtigsten Vertreter der kritischen Theorie: »Die Befreiung, die Amüsement verspricht, ist die von Denken als Negation«. Man verkennt die eigentliche Funktionsweise der Kulturindustrie, wenn man sie auf den Gegensatz passiv-aktiv reduziert. Adornos Satz zufolge besteht ihr Wesen vielmehr in der Ablenkung von einer kritischen Auseinandersetzung mit sich und der Welt. Diese Ablenkung kann auch und noch viel besser erfolgen, wenn wir sie selbst betreiben, in all unserem geschäftigen Posten und Liken und Sharen in den sozialen Medien.
Marshall McLuhan sagt: „The medium is the message.“ Was ist die Message der sozialen Medien?
Die Phänomene der sozialen Medien sind zu facettenreich, um sie auf eine einzige Message reduzieren zu können. Aber worüber wir jetzt gerade gesprochen haben: die Fotografie, eingebunden in die sozialen Netzwerke – diesbezüglich lässt sich durchaus eine bestimmte Botschaft der sozialen Medien festhalten – beziehungsweise ein bestimmtes „Dispositiv“, um den entsprechenden Fachbegriff des französischen Philosophen Michel Foucault zu benutzen. Diese Botschaft, dieses Dispositiv ist die Bewegung von der kognitiven Auseinandersetzung mit der Welt hin zu ihrer reinen Archivierung. Denn wenn ich noch beschreiben muss, was ich erlebe, muss ich auch nach den passenden Worten suchen, muss mich also befragen, wie ich das Erlebte wahrnehme und was ich davon halte. Wenn ich aber nur noch fotografiere, überlasse ich es faktisch den Objekten, für sich zu sprechen. Ich stelle nicht mehr so sehr die Welt dar, wie ich sie sehe, sondern die Welt stellt sich selber da. Die Welt stellt sich unabhängig von mir auf dem Foto dar, das ich mache – denn auf dem befinden sich auch Objekte, die ich gar nicht wahrgenommen hatte. Aus diesem Grund wurden Snapchat und Instagram für viele bald interessanter als Facebook, wo die Selbstdarstellung noch mit verhältnismäßig viel Text geschieht.
Interessanterweise prophezeite Mark Zuckerberg schon im Sommer 2015, nachdem er Oculus Rift erworben hatte, dass wir permanent Augmented Reality-Geräte tragen und unsere Erlebnisse und Gedanken direkt mit anderen teilen werden, einfach indem wir sie haben und denken. Das spontane, sofortige Mitteilen, ohne Nachdenken, ohne Bearbeitung sei die Zukunft. „Frictionless Sharing“ ist bei ihm der zentrale Begriff: Ich teile die Dinge dann wirklich nur noch so, wie sie sind, nicht so, wie ich sie sehe.
Wir sind in den sozialen Medien also eher Archivarinnen und Archivare als Erzählerinnen und Erzähler unseres Lebens?
Genau. Wenn ich ein Video oder Foto mache, dann kann ich daran kognitiv längst nicht so viel verändern, als wenn ich einen Text schreibe. Natürlich kann ich Filter anwenden, aber auch das ändert sich, wenn ich das Video im gleichen Moment mitteile, da ich es aufnehme. Geht alles nach Zuckerbergs Plänen, dann liegt die Zukunft in der Selbstmitteilung meines Lebens jenseits jeder bewussten Repräsentation: Das, was es zu berichten gibt, berichtet sich ohne die „Verzerrung“ durch den Berichterstatter. Diese Zukunft wird im Metaversum Realität sein und hat im Grunde schon begonnen, wenn nicht ich den Freunden sage, was ich auf Spotify und Netflix höre oder sehe, sondern das System selbst es ihnen berichtet. Wir archivieren unser Leben ohne eigenes Zutun, einfach indem wir es leben.
Wie wirkt sich das aus?
Wir werden uns unseres Lebens und seines Zusammenhangs weniger bewusst. Dazu gibt es eine ganze Theoriebildung, die narrative Psychologie: Heidegger, Freud, Ricœur, alles Leute von der alten Schule, die sagen, dass wir unsere Identität durch Selbsterzählung ausbilden – indem wir die verschiedenen Erlebnisse und Episoden unseres Lebens in eine narrative Ordnung bringen, die einen Sinn ergibt.
Heute hat man ein neues Phänomen, das man als „pointilistischen“ Lebensbezug bezeichnen könnte: Es wird infrage gestellt, ob es wirklich wichtig ist für die Identitätsbildung, dass wir uns unser Leben in Zusammenhängen und als Ganzes erzählen und ob das in der heutigen Zeit überhaupt noch möglich ist, da unser Leben viel flexibler geworden ist und viel weniger vorherbestimmt ist als früher, als nach der Ausbildung der Beruf kam, dann Heirat, Kinder und so weiter. Zugleich präsentieren wir uns in den sozialen Medien nur noch im Jetzt und vor allem per Foto, ohne die erlebten Momente narrativ zusammenzuführen. Es gibt nicht einmal die Möglichkeit, die eigenen Posts in der Timeline miteinander zu verlinken. Der Effekt ist, dass ich weniger gezwungen bin, über mich und mein Leben nachzudenken, wenn ich die Elemente meines Lebens pointilistisch präsentiere, statt sie in eine sinnvolle Ordnung zu bringen.
Die großen Plattformen wiederum, die aus all den banalen Daten meines Daseins durch Algorithmen auch die verdeckten Daten und Zusammenhänge ermitteln können, die wissen immer mehr über mich. Das ist das Erkenntnis-Paradox des digitalen Zeitalters: Wir wissen immer weniger über uns, weil wir immer weniger reflexiv aus unserem Leben erzählen, die Plattformen hingegen wissen immer mehr über uns, weil sie all die Daten haben und die Technologien, aus diesen Daten einen Wissens-Mehrwert zu erzeugen.
Wenn es weniger Narrationen gibt, ist dann andererseits nicht auch die Gefahr gebannt, in die Irre zu gehen mit diesen Erzählungen? Steckt darin auch eine Chance?
Da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Gerade die kollektiven und kulturellen Narrative haben unsere Freiheiten immer auch eingeengt – indem sie alle unsere Taten und unser individuelles Leben aus den normativen Vorstellungen dieser kollektiven Narrative her bewerten. Wenn man diese Narrative verliert und die Dinge einfach für sich nimmt, ist das fraglos auch eine Befreiung. Es wird einem nichts mehr aufgedrängt. Dass mein Leben einen narrativen Sinn ergeben muss, ist ja auch ein traditionelles, konservatives Bild, das heute selbst in der Psychologie und Philosophie keineswegs mehr jeder so unterschreiben würde. Ein extremes, warnendes Beispiel dieser alles bestimmenden kollektiven Rahmenerzählung war das nationalsozialistische Narrativ des deutschen Volkes, wonach das Individuum sich zuallererst als „Volksgenosse“ zu verstehen hatte.
Wenn ich mich als Individuum aus solchen Zwangsnarrativen befreie, ist das gut. Aber auf der individuellen Ebene stellt sich trotzdem die Frage: Wie kann ich mir selbst noch auf den Grund kommen, wenn ich mich immer weniger bewusst auseinandersetze mit dem, was mir geschieht. Deswegen: Einerseits ist das „episodische Selbst“ gegenüber dem „narrativen Selbst“ eine Befreiung, andererseits geht so aber auch viel Selbstreflexion verloren – was ich nicht Befreiung nennen würde. Im Gegenteil, darin liegt auch die Gefahr, Objekt der Fremdbestimmung zu werden.
Gleichzeitig werden die ideologischen Narrative in den Filterblasen gestärkt.
Richtig. Das muss man einmal in den großen Entwicklungslinien betrachten. Es gab im vergangenen Jahrhundert eine Bewegung, die stark wegführte von den traditionellen – z.B. nationalen, kulturellen und religiösen – Narrativen. Die haben sich in der „fluiden Moderne“, wie der Philosoph Zygmund Baumann das nannte, immer mehr aufgelöst. Vielmehr war im Kontext der Postmoderne von hybrider Identität oder einem Patchwork der Identitäten die Rede. Aber die digitalen Technologien der sozialen Netzwerke haben im Gegenzug die Filterblase gestärkt, die zwar nicht mit dem Narrativ identisch ist, aber informationsmethodisch ähnlich operiert: Alles, was nicht ins Konzept passt, wird ausgesondert, abgestoßen, ignoriert. Die Filterblase besetzt das Vakuum, das die fluide Moderne und die relativistische Postmoderne hinterlassen haben. Denn offenbar kommt der Mensch ganz ohne jegliche Form der Identitätsstabilisierung dann doch nicht aus. Die Filterblase ist das Narrativ des digitalen Zeitalters.
Was bedeutet all das für die politische Meinungsbildung?
Wenn man sich immer weniger als bewusstes und auch widersprüchliches Individuum wahrnimmt, spürt man auch weniger inneren Widerstand gegen die Identifikationsangebote im Netz. Man ist eine leichte Beute für die Filterblasen, in denen dann eine Unfähigkeit entsteht, andere Sichtweisen wahrzunehmen und gegenteiligen Argumenten überhaupt noch zuzuhören. Diese Zerstörung einer dialogischen Meinungsbildung ist natürlich gefährlich für das Selbstverständnis einer Demokratie. Es ist ein Vorteil des Netzes, dass man darin so leicht Gleichgesinnte findet – aber dann ist es auch ein Nachteil, wenn man dieser gleichen Gesinnung völlig verfällt und sich gegen alternative Perspektiven immunisiert.
Shitstorms kommen nicht nur aus rückwärtsgewandten Milieus. Müssen sich auch die progressiven Milieus mehr hinterfragen, wie sie im Internet auftreten?
Ich würde sagen: Wir haben diesen Backlash nach der Erfahrung der Postmoderne im gesamten politischen Spektrum. Also den Versuch, zurück zu festen und klaren Wahrheiten zu kommen und auch zu unbezweifelten moralischen Gewissheiten – was aus der Perspektive der Postmoderne ja eine Kardinalsünde ist. Die postmoderne Philosophie betonte immer wieder, dass man nur aus seinem eigenen Denk- und Diskursrahmen heraus bestimmte Dinge für richtig oder wahr ansieht und dass man sich bewusst machen muss, dass dieser Rahmen auch ganz anders sein konnte – und dass man dann mit der gleichen Überzeugung zu ganz anderen Ansichten käme. Die Sichtweise ist heute wieder gefährdet und die progressiven Kräfte unterliegen diesem Backlash genauso wie andere: dem Glauben, dass etwas so und so sein muss und nicht anders. Gianni Vattimo, der italienische Vertreter der postmodernen Philosophie, hatte Ende der 1980er Jahre den Begriff des „schwachen Denkens“ geprägt: dass man immer auch sich selber gegenüber skeptisch bleiben soll.
Schwaches Denken bedeutet also nicht ein weniger engagiertes Denken, sondern ein sich selbst stärker infrage stellendes, demütigeres Denken?
Demütigeres Denken ist ein guter Begriff. Und damit kann man auch spielen: Bist Du stark genug, eine Position zwischen den Stühlen einzunehmen? Denn es ist immer einfacher, einen klaren Standpunkt zu haben, als sich einzugestehen, dass die Dinge so klar nicht liegen. Das schwache Denken ist paradoxerweise das stärkere Denken. Dazu fehlt aber den meisten heute die Kraft. Heute bestehen alle darauf, die Wahrheit auf ihrer Seite zu haben, und das ist für sie dann nicht ihre Wahrheit, sondern die Wahrheit. Die meisten Menschen knicken heute ein vor der Herausforderung, die eigenen Antworten in Frage zu stellen.
Sie behaupten, kein Kulturpessimist zu sein. Was ist der Zweck Ihrer Kritik?
Zu verhindern, dass uns das als Gesellschaft noch öfter passiert – dass wir den Verlockungen neuer Technologien vorschnell auf den Leim gehen und dann merken: Oh, da ist ja was schiefgegangen! Lange hat man die Möglichkeiten der Teilhabe im Netz gelobt. In der Tat waren es zuerst überwiegend die fortschrittlichen Kräfte, die sich hier verbunden haben, wie man an der Demokratiebewegung des Arabischen Frühlings eindrucksvoll sehen konnte. Als dann aber demokratiefeindliche Kräfte verstärkt in die Sozialen Medien drangen, war es zu spät.
Wir sollten vorher misstrauisch sein und genau nach den möglichen Folgen neuer Medien fragen. Das gilt auch für alle künftigen neuen Medien: Web3, Metaverse, künstliche Intelligenz. Meine Funktion als Kulturtheoretiker ist, auf solche Ambivalenzen frühzeitig hinzuweisen, dafür zu sorgen, dass wir tiefer schauen, statt auf Schlagwörter hereinzufallen (wie "Partizipationskultur" oder "Überwindung der Gatekeeper"). Eine kritische Perspektive muss auf diese nicht so offensichtlichen Dinge hinweisen und sie theoretisch abarbeiten, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Und wenn das dann nicht so optimistisch klingt, okay, dann ist das eben so. Wer vor zehn Jahren vor der unkontrollierbaren Macht der Meinungsmache auf Facebook warnte, hatte leicht das Label Kulturpessimist am Hals angesichts der zentralen Rolle, die Facebook für die Formierung der progressiven Kräfte zu spielen schien. Heute warnen alle vor Facebook. Es ist nicht die Aufgabe der Kultur- und Medientheoretiker, einer unreflektierten Euphorie zu verfallen.
Wie tragen die Daten- und Geschäftsmodelle der großen Plattformen zu ihrer demokratiegefährdenden Wirkung bei?
Das Ziel der Sozialen Medien ist es, Werbekunden möglichst viel Kontaktzeit mit ihrer Zielgruppe zu verkaufen. Dazu müssen sie die Nutzer so lange wie möglich auf der Plattform halten – auch um immer noch mehr Daten für eine noch perfektere Personalisierung der Werbung zu sammeln, wodurch sich die Werbeplätze noch teurer verkaufen lassen. Dies gelingt am besten, wenn man die Erwartungen der Leute bedient oder sie mit Spektakulärem fesselt.
Warum hat die Politik dem lange recht tatenlos zugesehen?
Das Problem war auch eine Überalterung der Parteienelite. Die jüngeren Generationen, denen die neuen Medien schon vertrauter waren, saßen noch nicht in den Positionen, wo die Politik bestimmt wird. Grundsätzlich ist es auch nicht die Aufgabe des Staates, technologische Entwicklung zu behindern, man will ja der Wirtschaft keine Steine in den Weg legen. Wenn irgendwo eingegriffen werden soll, muss das sehr gut begründet werden. Dafür fehlten aber die Kompetenzen. Es war leichter, sich als innovationsfreudig zu zeigen und die Dinge laufen zu lassen. Anders ausgedrückt: Weil das Internet „für uns alle Neuland“ ist, wie die Kanzlerin 2013 sagte, hat man die machen lassen, die sich damit auskennen – oder zumindest vorgaben, sich auszukennen, bis sie dann, wie Zuckerberg, den Politikern gegenüber eingestehen mussten, dass dies nicht der Falle war.
Es geht darum, einen kritischen Standpunkt zu beziehen, der einerseits die Potenziale nicht abwürgt, aber andererseits die unheilvollen Entwicklungen trotzdem antizipiert?
Richtig, und diese Antizipation hilft, die nötige gesellschaftliche Debatte zu führen, Expertengruppen zu bilden und zu einem fundierten Ergebnis zu kommen, um rechtzeitig Weichen stellen zu können. Aber das wurde kaum verfolgt. Weil man sich nicht dafür interessiert hat. Eine Partei, die FDP, war ja sogar dagegen, überhaupt irgendwelche Bedenken zu haben: Sie ging 2017 mit dem Slogan in den Bundestagswahlkampf „Digital first. Bedenken second.“
Muss die Zivilgesellschaft einspringen?
Ja, kritische Bürgerinnen und Bürger sind für die wachsame Begleitung der technischen Entwicklung extrem wichtig. Es wäre eigentlich die Aufgabe der Medienbildung, junge Menschen dazu noch mehr in die Lage zu versetzen. Doch bisher wird die Medienbildung in Deutschland kurzfristig am Arbeitsmarkt ausgerichtet. Man will den Leuten vor allem vermitteln, wie sie die digitalen Medien erfolgreich nutzen. Es müsste aber viel mehr gefördert werden, kritisch über die neuen Technologien nachzudenken. Angesichts der millionenschweren Lobbyarbeit der IT-Giganten und der Entwicklungen auf dem Feld der künstlichen Intelligenz ist es gefährlich, diese tiefergehende, nachhaltige Medienkompetenz zu vernachlässigen.
Die
Welche Rolle spielt, als Voraussetzung dafür, die Medienbildung?
Man hat die Medienbildung bisher stark auf Mediennutzungskompetenz fokussiert, statt eine Medienreflexionskompetenz zu entwickeln. Sprich: Man will den Leuten nur beibringen, wie die Technologien zu benutzen sind, statt ihnen auch beizubringen, kritisch darüber nachzudenken. Wenn aber Bildungspolitik immer mehr am Arbeitsmarkt orientiert ist, statt etwa an Fragen nach den gesellschaftlichen Folgen technischer Entwicklungen, dann stärkt man gerade nicht die Zivilgesellschaft, sondern produziert ein Problem, das irgendwann einen gesellschaftlichen Kipppunkt erreicht. Dann bestimmen die neuen Technologien – etwa auch die künstliche Intelligenz – immer mehr den gesellschaftlichen Alltag und wir schaffen es nicht mehr, Fehlentwicklungen zu verhindern. Es darf also nicht darauf verzichtet werden, weiterhin kritische Generationen zu entwickeln. Das ist umso nötiger, als die IT-Giganten in dem Vakuum mangelnder Kritik mit einer millionenschweren Lobbyarbeit dafür sorgen, dass die Politik sich nicht querstellt.
Gab es zu lange die naive Grundannahme, dass technischer Fortschritt automatisch zu gesellschaftlichem Fortschritt führt?
Vielleicht. Ich erinnere mich an die Warnung von Justizminister Heiko Maas, der auf einer Tagung mit dem fast düsteren Titel Digitales Leben – Vernetzt. Vermessen. Verkauft? – #Werte #Algorithmen #IoT im Sommer 2017 sagte, technischer Fortschritt dürfe nicht zu gesellschaftlichem Rückschritt führen. Das war sehr interessant, da wurde plötzlich diese Diskrepanz thematisiert, die die Politik schon früher in den Blick hätte nehmen sollen. Denn sichtbar war diese Diskrepanz im Grunde schon seit dem Bericht des Club of Rome in den siebziger Jahren, der die Probleme des Ressourcenverbrauchs durch technischen Fortschritt aufgezeigt hatte. Der Philosoph Hans Jonas warnte in seinem Buch „Das Prinzip der Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“ damals vor dem „Homo Faber“, der alles erfindet, was man erfinden kann, ohne nach den gesellschaftlichen Folgen zu fragen. Für Jonas lag das Verhängnis des Menschen im »Triumph des homo faber«, der diesen zum »willenlosen Vollstrecker seines Könnens« macht: »Wenn nichts so gelingt wie das Gelingen, so nimmt auch nichts so gefangen, wie das Gelingen«. Anders gesagt: Der Mensch ist ein Opfer seiner Erfolge.
Zu Beginn des Internets gab es große Erwartungen, es würde zu einer umfassenden Demokratisierung der Welt führen. Wie könnte sich dieses Potenzial wieder mobilisieren lassen?
Viele setzen heute auf die Blockchain-Technologien. Es gibt die Hoffnung, dass die Menschen in einem dezentralisierten Web3 wieder an den großen Plattformen vorbei direkt miteinander kommunizieren können und sich die Interaktionen der Menschen im Netz wieder viel stärker individualisieren könnten. Diese Hoffnung auf Demokratisierung durch Technik ist so blauäugig wie vor zehn Jahren die Hoffnung auf Facebook als ein Demokratisierungswerkzeug. So leicht wird es nicht gelingen, an die Utopie der Neunzigerjahre anzuknüpfen, die ja im Grunde die Utopie einer direkten digitalen Demokratie war.
Sie haben das mal verglichen mit dem Ideal des bürgerlichen Salons aus dem 19. Jahrhundert, wo man wieder konfrontiert wird mit fremden Positionen und den ganz anderen, um dadurch seine Denkmöglichkeiten auszuweiten.
Als ich vor nunmehr 25 Jahren die Online-Foren des Internet als „digitalen Salon“ beschrieb, unterschätzte ich die Bedeutung der Salonnière, die Gastgeberin, die im klassischen Salon über die Habitués, die Salongäste, herrscht. Sie ist die wichtigste Person des Salons, sie ist die Gatekeeperin des Salons. Eine solche moderierende, die verschiedenen Positionen der Beteiligten ausgleichende Instanz kennt das Internet nicht. Aber vielleicht lässt sich etwas Ähnliches entwickeln, wo dann unter der Obhut einer technischen Instanz verschiedene Kräfte zu einem kultivierten Streitgespräch zusammenkommen.
Voraussetzung wäre freilich, dass die Individuen an einem solchen Gespräch überhaupt interessiert sind, also auch bereit sind, den anderen zuzuhören und auf das Gesagte wirklich einzugehen. Dieses Interesse, diese Bereitschaft kann nicht technisch erzeugt werden. Das führt zurück zur Frage der Bildung, zur Vermittlung der Lust am Dialog mit anderen und der Bereitschaft, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen – denn das Erfolgsrezept der Salons war nicht, dass man Recht behalten wollte, sondern dass man die anderen angenehm unterhalten wollte.
Halten Sie Forderungen, Facebook und die anderen großen Plattformen zu zerschlagen beziehungsweise zu verstaatlichen, für sinnvoll?
Eine Zerschlagung wird nichts bringen. Die Sozialen Netzwerke funktionieren gerade wegen ihrer Größe und Monopolstellung. Es ergibt keinen Sinn, die eine große Plattform durch 5.000 kleine zu ersetzen, wo man dann seine Freunde nicht mehr antrifft. Der Netzwerkeffekt, der das Unternehmen Facebook bzw. Meta so mächtig macht, macht zugleich auch das Produkt stark – das ist kaum zu bestreiten.
Auch bezüglich einer Verstaatlichung stellen sich viele Fragen: Wie soll das mit diesen globalen Gebilden funktionieren? Wer ist danach der Eigentümer, die USA? Was passiert dann mit den Daten der deutschen Nutzer? Will man die Unmengen bereits generierter Daten wirklich in den Händen des Staates sehen? Ich meine: nein. Als man im 19. Jahrhundert die Eisenbahnunternehmen in den USA verstaatlicht hat, da war das vergleichsweise einfach. Zugleich muss man sehen, dass die digitalen Plattformen heute sensible Infrastrukturen darstellen, die von der Politik deswegen stärker reguliert werden sollte.
In welcher Form sollte die Politik regulieren?
Zum Beispiel: Instagram sollte von WhatsApp und von Facebook getrennt werden, so wie Google Alpha ausgliedern musste. Man sollte es Facebook viel konsequenter untersagen, seine Monopolstellung auszunutzen, und es zwingen, Algorithmen transparent zu machen. Wir reden hier von Netzwerken, die zunehmend die Art und Weise unserer Kommunikation prägen und die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen. Da hat der Staat eine Fürsorgepflicht.
Oder nehmen wir Uber, ein perfektes Beispiel für eine Kolonialisierung der gesamten Welt durch ein Unternehmen aus dem Silicon Valley. Es macht die Taxi-Unternehmen vor Ort kaputt und zieht alle Steuern ab, die aus dem Taxi-Betrieb bisher für den Ort generiert wurden. Wenn überhaupt Steuern gezahlt werden, landen die nun in Kalifornien. Ebenso die lokalen Arbeitsverhältnisse, beispielsweise die Sozialverträge als Errungenschaft einstiger Klassenkämpfe. Uber fährt über die Spezifik eines jeden Ortes in allen Teilen der Welt hinweg wie ein Schwertransporter über eine Plastikflasche. Ebenso Amazon und andere Plattformkapitalisten.
Lassen sich diese Schwertransporter aufhalten? Vielleicht, wenn wir selbst nicht länger mit ihnen unterwegs sind. Aber das ist unrealistisch. Versuchen Sie mal, Ihre Bekannten davon zu überzeugen, die Uber-App zu löschen und nicht mehr bei Amazon zu bestellen. Auf jeden Fall wird man sie nicht aufhalten können ohne entsprechende Regulierungen durch die Politik. So müsste Uber zum Beispiel gezwungen werden, seine Fahrer als Angestellte statt als Selbstständige zu betrachten, was zumindest in Deutschland arbeitsrechtliche Konsequenzen im Interesse der Fahrer mit sich bringt. Und Amazon müsste gezwungen werden, in Deutschland die Bildung von Betriebsräten zuzulassen, die sich für die Rechte der Angestellten einsetzen. Andernfalls entstehen nur immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse in hochentwickelten Staaten wie Deutschland, die dort den sozialen Frieden gefährden. Dann wäre, zugespitzt gesagt, jede Uber-Fahrt ein Beitrag zum sozialen Unfrieden im eigenen Land.
Im Kontrast zu den von Ihnen ausgiebig kritisierten Verhältnissen: Was ist ihr Weltbild eines gelingenden Lebens und einer gelingenden Gesellschaft?
Als Fan der Kritischen Theorie und als jemand, der in Ostdeutschland weitgehend ohne Werbung aufwuchs, ist meine spontane Antwort: Alles, was zu einer Entkommerzialisierung der Kommunikation führt, ist schon mal gut. Es ist ein massives Problem, wenn Kommunikation immer mehr im kommerziellen Sinne operiert. Diese digitalen Plattformen sind ja nur deshalb frei zugänglich, damit wir uns Werbung anschauen. Selbst wenn ich mir zum Beispiel auf YouTube eine Dokumentation ansehen möchte, drängt sich Werbung hinein. Das untergräbt die Ernsthaftigkeit meines Unterwegsseins als politisch interessierter Mensch.
Und was wäre eine Lösung dafür?
Einige Internet-Kritiker wie Jaron Lanier schlagen vor, dass wir mit unseren Daten, die wir den sozialen Netzwerken heute kostenlos zur Verfügung stellen und an denen die IT-Unternehmen reich werden, selber Gewinn machen. Das mag erstmal ganz gut klingen. Aber es wäre eine weitere Spirale der Kommerzialisierung all unserer Verhältnisse, wenn jede und jeder nun die eigenen Daten selbst an den Meistbietenden verkaufe würde. Ein alternatives Verfahren wäre, dass die Kommune oder der Staat eine Datensteuer von den IT-Unternehmen erhebt, die dann wie alle Steuern im Interesse des Gemeinwohls eingesetzt wird. Es wäre ein Modell weniger der freien als der sozialen Marktwirtschaft, das die Wertschöpfung aus den Daten der Bürger gesellschaftlich organisiert und in den Umverteilungsprozess einbezieht, statt dass die Bürgerinnen nun alle Aktionäre ihres Datenkapitals werden würden.
Und in den heutigen Verhältnissen der sozialen Medien: Raten Sie den Menschen, lieber komplett den Stecker zu ziehen? Wie machen Sie es selber?
Also ich bin heute kaum noch auf Facebook. Ich habe mich dort natürlich mehr getummelt, als ich das Buch über die Facebook-Gesellschaft schrieb und ich habe offenbar nie wirklich Gefallen daran gefunden, ständig aus meinem Leben zu berichten. Wenn ich heute doch nochmal etwas poste, erhalte ich freilich kaum noch Likes, weil ich ja selbst nicht ordentlich mit eigenen Likes meinen Anteil zu den Posts der anderen leiste. Ich müsste meine Like-Schulden erst einmal tilgen, um wieder kreditwürdig zu werden. Ich bin heute eher auf Twitter unterwegs, aber auch da in Maßen. Ich organisiere mir meine Informationen lieber über moderierte Presseschau-Dienste wie den Externer Link: Perlentaucher. Das erspart mir den Aufwand, in so genannten Gatekeeper-freien Inhalten hinter all der Spreu erst den Weizen finden zu müssen.
Außerdem lädt mein Handy nachts nicht im Schlafzimmer neben dem Bett, sondern im Wohnzimmer. Und ich lese nicht jede E-Mail oder Nachricht sofort, wenn sie eintrifft. Ich erlaube der Welt nicht, mich jederzeit in dem, was ich gerade mache, zu unterbrechen, denn ich gehöre nicht zu den 2 Prozent, die wirklich effizient im Multitasking sind. Lieber beende ich erst das, was ich mir vorgenommen habe, und dann besuche ich die sozialen Medien (Twitter, YouTube, Medium, Substack) und verbringe dann durchaus auch mal ein, zwei Stunden dort, was ich dann auch selten bereue.
Wir sind beide über 40 und keine Digital Natives. Viele würden bezweifeln, ob es überhaupt sinnvoll ist, dass wir beide über dieses Thema diskutieren. Wie sehen Sie das?
Es ist richtig, wir beiden sind so genannte Digital Immigrants, weil wir ohne digitale Medien aufgewachsen sind und erst später mit ihnen vertraut wurden. Und es stimmt gewiss, dass wir nicht auf allen Ebenen up to date sind und sicher nicht beim neuesten Trend ganz vorne dabei sind. Das disqualifiziert uns aber nicht davon, über digitale Medien zu reden. Im Gegenteil, ich würde sogar sagen, dass die Immigrants die einzigen sind, die wirklich kompetent über das berichten können, was diese Technologien mit uns machen. Als Digital Native ist man für diese Perspektive zu nah dran. Wir beide hingegen haben noch die Erfahrung der anderen Medienkulturen gemacht und können vergleichen. Deswegen sehen wir die Dinge, die jetzt passieren, bewusster. Je mehr wir schon vor der stattfindenden digitalen Transformation bewusst die Gesellschaft wahrgenommen haben, umso kritischer können wir das kommentieren, was heute geschieht.
Auf der letzten Seite Ihres Buches „Die Facebook-Gesellschaft“ beschreiben Sie einen Abend, an dem Digital Natives essen gehen und den ganzen Abend in den sozialen Medien spiegeln. Sie beschreiben das rein aus der Sichtweise der Digital Natives heraus und halten sich mit Kritik völlig zurück. Ist das ein Beispiel für Interner Link: „schwaches Denken“ im Sinne von Gianni Vattimo?
Das ist schön gesagt. Genau das habe ich damit beabsichtigt. Ich wollte nicht nur diesen kritischen Rundumschlag machen, sondern auch bestimmte Aspekte der neuen digitalen Kultur nachvollziehen – und am Ende des Buches nochmal einer positiven Sichtweise auf diese Phänomene Raum lassen. Ich habe dieses Buch geschrieben, während ich an der City University of Hong Kong tätig war, in einer Stadt also, wo die digitale Kultur besonders ausgeprägt ist. Ich aber betrachtete diese neue Medienkultur als Westeuropäer mit dem Denkrahmen der Aufklärung und der Kritischen Theorie. Dieser „Voreingenommenheit“ wollte ich am Ende des Buches zumindest einen ironischen Schwenker entgegenstellen.
Interview: Oliver Geyer, Redaktion: Lea Schrenk
Eine gekürzte Fassung des Interviews finden Sie auf Externer Link: fluter.de.
Prof. Dr. Roberto Simanowski ist Literatur- und Medienwissenschaftler. Im Fokus seiner Arbeit stehen digitale Kultur und Politik.
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