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AR und VR in der historisch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus und Holocaust - (Interaktives) Lernen oder emotionale Überwältigung? | Vernetztes Erinnern | bpb.de

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AR und VR in der historisch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus und Holocaust - (Interaktives) Lernen oder emotionale Überwältigung?

Verena Lucia Nägel Sanna Stegmaier

/ 9 Minuten zu lesen

Welche Rolle können VR und AR in der Bildungsarbeit zu den Themen Nationalsozialismus und Holocaust spielen? Können diese Technologien eine Antwort auf das Ende der Zeitzeugenschaft sein? Ein Beitrag von Verena Nägel und Sanna Stegmaier.

Mit Hilfe von AR eine bessere Vorstellung von historischen Orten bekommen - das geht in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. (© Gedenkstätte Bergen-Belsen)

Die Technologien Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) finden vermehrt Einsatz im Bildungsbereich. Ihre Möglichkeiten der Immersion und Interaktion und belegte positive Auswirkung auf die Lernerfahrung machen sie auch für die historisch-politische Bildung interessant. So gibt es inzwischen vermehrt VR und AR-Angebote für den Schulunterricht und auch Museen und Gedenkstätten erproben ihren Einsatz. Besonders beim Themenfeld Nationalsozialismus (NS) und Holocaust muss jedoch kritisch hinterfragt werden, welchen fachspezifischen und didaktischen Nutzen die technischen Mittel haben. Das gilt insbesondere für VR und AR-Anwendungen, deren Ziel es ist, virtuelle Darstellungen möglichst immersiv zu gestalten, also künstliche Welten möglichst real zu präsentieren.

Historische Spuren im Raumbild durch AR

Verena Nägel (© privat)

AR bezeichnet die Erweiterung (Augmentation) der physischen Welt durch digitale Elemente wie Animationen, Texte, Daten oder Audio, sowohl in 2D als auch 3D. Zumeist können diese Erweiterungen mithilfe von Geolocation (Positionsbestimmung) in Echtzeit synchronisiert werden, so dass die Nutzerinnen und Nutzer ihre Erfahrung durch Smartphones, spezielle Brillen, Headsets oder andere Displays aktiv mitgestalten können.

Ein Beispiel für die Nutzung von AR in der historisch-politischen Bildung ist eine von der Universität Pompeu Fabra in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen entwickelte AR-Tablet-Anwendung, die Besucherinnen und Besuchern die eigenständige Erkundung der Gedenkstätte ermöglicht.
Im Sinne einer als "realism" bezeichneten Herangehensweise, die auf sehr nüchterne Grafikelemente setzt, wird der topografische Ort mittels Geolocation um historische Elemente, zum Beispiel nicht mehr vorhandene Baracken, ergänzt. Aussagen von Zeitzeuginnen und -zeugen werden in Form von Video- und Audio-Ausschnitten präsentiert und nicht als virtuelle Figuren eingebettet. Auch wenn die technische Umsetzung nicht perfekt ist, erscheint diese Verwendung von Augmented Reality insbesondere für historische Lernorte von Relevanz, deren topografische Geschichte nur noch schwer erkennbar ist. Das didaktische Konzept umfasst eine Vor- und Nachbereitung des Gedenkstättenbesuchs in der Gruppe. Dies verdeutlicht, dass hier nicht eine immersive oder emotive, sondern eine analytische und medienpädagogische Auseinandersetzung mit Geschichte im Vordergrund steht, die sehr darauf achtet, dass es nicht zu einer emotionalen Überwältigung kommt. In der Auswertung wird auch die Benutzung der Tablet-App selbst thematisiert und über mediale Repräsentation von Geschichte diskutiert.

Es ist davon auszugehen, dass solche AR-Apps für Tablets oder Smartphones im Museums- und Gedenkstättenbereich in Zukunft verstärkt für die Wissensvermittlung und die Führung von Besucherinnen und Besuchern eingesetzt werden. Damit diese Anwendungen einen Mehrwert darstellen ist die Umsetzung einer technisch hochwertigen Navigation im Raum und eine inhaltliche und pädagogische Kuratierung von hoher Qualität entscheidend.

Virtuelle Museums- und Gedenkstättenbesuche mit 360°-Videos

Als VR wird eine computergenerierte, artifizielle Wirklichkeit bezeichnet, die entweder vollständig imaginär oder eine 3D-Reproduktion der physischen Welt ist. VR wird über Großbildleinwände, in speziellen Räumen oder über ein Head-Mounted-Display (Virtual-Reality Headset oder ähnliches) projiziert. Die Nutzerinnen und Nutzer tauchen komplett in die virtuelle Realität ein (Immersion), die physische Welt tritt in den Hintergrund.

Die derzeit verbreitetste Form der VR in der Bildungsarbeit sind 360°-Videos, mittels derer Museen und Gedenkstätten virtuell besucht werden können. Die 360°-Erfahrung erlaubt eine interaktive Erkundung der zuvor gefilmten Orte, die Nutzerinnen und Nutzer bleiben dabei an den Standpunkt der Kamera gebunden und können nicht mit der physischen Welt interagieren. Ein Beispiel ist die 2017 vom WDR produzierte 9-minütige 360°-Dokumentation Inside Auschwitz, die als weltweit erste Dokumentation dieser Art Ausschnitte aus Zeugnissen überlebender Frauen des Konzentrationslagers einbindet. Eine VR-Version der Dokumentation ermöglicht Nutzerinnen und Nutzer mithilfe einer VR-Brille auch eine virtuelle Tour durch das KZ in Echtzeit-Synchronisation. Diese ermöglicht einen besonders flüssigen Abgleich zwischen eigener Bewegung und Übertragung der VR-Daten und damit das Gefühl der Immersion. Die Nutzerinnen und Nutzer sollen bewusst keine distanzierte Position einnehmen, sondern die Gedenkstätte erkunden, als besuchten sie diese zu Fuß.

Ein weiteres Beispiel ist die App Anne Frank House VR, die von der Firma Force Field für das Anne Frank Haus entwickelt wurde. Im Unterschied zu dem Museum im Hinterhaus in Amsterdam, in dem auf Wunsch des Vaters von Anne Frank nur leere Zimmer besichtigt werden können, ist das virtuelle Hinterhaus in der VR-App im Stil der 1940er Jahre eingerichtet. Die Anwendung ist also keine fotorealistische Reproduktion der physischen Welt, sondern integriert fiktive Elemente. Sie wird in der Bildungsarbeit zahlreicher Partnerinstitutionen des Anne Frank House eingesetzt, kann aber auch individuell im Oculus VR Store heruntergeladen werden.

Eine Antwort auf das Ende der Zeitzeugenschaft?

Derzeit findet neben einer radikalen digitalen Transformation der Gesellschaft auch ein erinnerungskultureller Wandel statt. Dabei rückt für die historisch-politische Bildung die Frage in den Vordergrund, wie eine Erziehung über Auschwitz ohne direkte Begegnungen mit Überlebenden aussehen kann und wie der Sorge, dass nachfolgende Generationen das Interesse an dem Thema verlieren, begegnet werden kann. Entsprechend werden große Hoffnungen auf die Attraktivität digitaler Technologien gesetzt.

Ein interaktives, digitales Zeitzeugengespräch mit Anita Lasker-Wallfisch (© USC Shoa Foundation)

Seit Jahren wird dem Ende der "Era of Witnesses" (Ära der Zeitzeugenschaft) mit großangelegten Interview-Projekten begegnet und digitale/Online-Bildungsangebote werden für die Nutzung im Schulunterricht entwickelt. Für viel Aufmerksamkeit und Kritik hat dabei das interaktive Dimensions in Testimony-Projekt (DiT) der USC Shoah Foundation (USC SF) gesorgt, das mithilfe aufwendiger Technologie eine Gesprächssituation mit Überlebenden des Holocaust simuliert. Dafür wurden seit 2010 22 Zeitzeuginnen und -zeugen für drei bis fünf Tage beim Beantworten von jeweils zirka 1.000 Fragen gefilmt.
Die Interviews wurden mit einer Technologie gefilmt, die in Zukunft eine holografische Darstellung der Interviews ermöglichen kann. Obwohl aktuell der interaktive Aspekt des Projekts im Vordergrund steht und bislang keine Hologramme existieren, sorgte diese Entscheidung für Bewertungen des Projekts als ‚Erinnerungscyborg‘, der Projektionen als ‚Gespenster’, und ‘Auto-Ikonen’.
Mithilfe einer Spracherkennungssoftware (ASR) ermittelt das System die passenden Antworten auf die Fragen der Nutzerinnen und Nutzer und ermöglicht so eine interaktive Auseinandersetzung mit den Zeugnissen Überlebender. Die DiT-Anwendung ist derzeit in ausgewählten Museen zugänglich, in Zukunft sind laptopbasierte Einsätze im Schulunterricht geplant. Entscheidend für ein erfolgreiches interaktives Lernen im musealen Bereich ist eine quellenkritische und historische Kontextualisierung der Interviews.

Einen Schritt weiter geht die USC SF mit dem 17-minütigen VR-Film The Last Goodbye (2017), der Nutzerinnen und Nutzer als komplett immersive Erfahrung unter Führung des virtuell projizierten Überlebenden Pinchas Gutter durch das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek führt.
Gutter wurde bei einem Rundgang durch das ehemalige KZ vor einem Greenscreen gefilmt und im Nachhinein als 3D-Augmentation mit der unmittelbar im Anschluss an seinen Rundgang als VR gefilmten Gedenkstätte verknüpft. Dies ermöglicht den Nutzerinnen und Nutzern, die Gedenkstätte eigenständig zu erkunden und dabei Gutters Erzählungen zu folgen. The Last Goodbye ist derzeit in mehreren US-amerikanischen Museen zugänglich. Ähnlich wie Inside Auschwitz ist The Last Goodbye nicht ortsgebunden. Als Ziel wird formuliert, geografisch weit entfernten Nutzerinnen und Nutzern einen virtuellen Eindruck von der Gedenkstätte zu bieten.

(Interaktives) Lernen oder emotionale Überwältigung?

Sanna Stegmaier (© privat)

Es ist wichtig, sich die gesellschaftliche Bedeutung von Überlebenden und historischen Orten vor Augen zu führen, will man die vorgestellten Projekte als technologische Antworten auf das Ende der "Era of Witnesses" analysieren. Aufgrund ihres jahrzehntelangen Ringens um Anerkennung und Entschädigung, aber auch durch ihre Rolle als Mahnende gegen die Gefahr des Leugnens, des Vergessens und des Verdrängens sind Überlebende vor allem in Deutschland ein wichtiges politisches Korrektiv. Direkte Begegnungen mit ihnen gelten als besonders eindrückliche Bildungserfahrungen.
KZ-Gedenkstätten erinnern als historische Orte sowohl an die Leiden der Opfer als auch an die NS-Verbrechen und haben eine wichtige Bedeutung für das Lernen über den NS und Holocaust. In vielen Fällen wurden sie von Überlebenden gegründet und sind daher eng mit ihrer Zeugenschaft verbunden. Die Besonderheit des Lernens an diesen Orten des Terrors ist die Verbindung ihrer historischen Topografie mit der Vermittlung historischen Wissens. Diese Besonderheiten sind an die realen Personen und Orte geknüpft und können nicht in einer virtuellen Realität nachgestellt werden.
Gleichzeitig verdeutlichen die vorgestellten AR- und VR-Projekte, dass pauschale Urteile über ihre Verwendbarkeit in der historisch-politischen Bildung wenig sinnvoll sind. Vielmehr sind sie nach ihrem fachspezifischen und didaktischen Nutzen für das jeweils angedachte Zielpublikum zu bewerten.

Die hier genannten Beispiele zeigen, dass Einsatzszenarien von AR/VR-Technologie den Nutzerinnen und Nutzern die Chance für eine selbstbestimmte und dennoch kuratierte Geschichtsvermittlung eröffnen. Voraussetzung hierfür ist eine enge Zusammenarbeit von Historikerinnen und Historikern, Kuratorinnen und Kuratoren, Pädagoginnen und Pädagogen sowie App-Entwicklerinnen und -Entwicklern bei der Konzeption und Umsetzung von digitalen Angeboten, die die Erkundung der historischen Orte unterstützen, diese aber nicht auf das Digitale reduzieren.
Alle hier vorgestellten Angebote – besonders jene, die auf komplett immersive Lernerfahrungen setzen, bedürfen didaktischer Kontextualisierung. Besonders im musealen Bereich, wo sie hauptsächlich von Einzelbesucherinnen und -besuchern genutzt werden, ist unklar, wie diese praktisch gewährleistet werden soll.

Besonders herausfordernd ist der Zusammenhang von Immersion und Empathie in Bezug auf die Darstellung von Überlebenden des Holocaust. Angebote der historisch-politischen Bildung sollten nicht allein eine emotionale Identifikation mit den Opfern zum Ziel haben. Entsprechend sind Distanz und Klärung der eigenen physischen und auch emotionalen Verortung zentral für eine kritische Reflexion des Erfahrenen. Bei VR-Anwendungen wird dies dadurch erschwert, dass der eigene physische Körper selten reproduziert wird. So zeigt der Blick nach unten z.B. nicht den eigenen Körper, sondern den künstlichen VR-Boden. Die Erfahrung der eigenen physischen Verortung im Raum, die insbesondere bei dem Besuch von historischen Orten, wie einer Gedenkstätte entscheidend sind, wird damit zumeist ausgeschlossen.

Insgesamt wird deutlich, dass AR/VR-Angebote in verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen unterschiedlich verhandelt werden und daher lokal adaptiert bzw. ergänzt werden müssen. In den USA, wo Empathie als identifikationsstiftendes Element ein zentraler Bestandteil der "Holocaust Education" ist, gibt es weniger Vorbehalte gegenüber dem Einsatz immersiver und affektiver Anwendungen. In Deutschland hingegen müssen sich die Anwendungen am so genannten Interner Link: "Überwältigungsverbot" des Beutelsbacher Konsens messen.

Festzuhalten bleibt, dass vor allem die Vor- und Nachbereitung entscheidend sind, um kognitive und affektive Elemente zu verknüpfen. Gerade der Einsatz von immersiven Technologien bietet ein großes medienpädagogisches Potenzial, solange auch hier die Erfahrung der Nutzerinnen und Nutzer entsprechend aufbereitet wird.

arbeitet am Externer Link: Center für Digitale Systeme an der Freien Universität Berlin und ist dort unter anderem für das Externer Link: Visual History Archive der USC Shoah Foundation und das Externer Link: Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies zuständig. Außerdem wirkt sie an der Konzeption und Entwicklung von digitalen Lern- und Lehranwendungen und Archivumgebungen mit. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Oral History, Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust, Erziehung nach und über Auschwitz in Deutschland, Geschichtspolitik, Digital Humanities.

Mehr Informationen:
Externer Link: https://www.cedis.fu-berlin.de/cedis/mitarbeiter/beschaeftigte/vnaegel.html

promoviert am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin und am German Department des King’s College London. Ihre Forschungsschwerpunkte beinhalten transnationale ‘Erinnerungskulturen’ und Zeitzeugenschaft, Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust sowie Digital Humanities. In ihrer Dissertation entwickelt sie anhand europäischer und US-amerikanischer Interviewprojekte zur Shoah eine theoretische Rekonzeptualisierung von Zeitzeugenschaft im digitalen Zeitalter und am Ende der sogenannten ‚Era of Witnesses‘.