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Von der Geschichte für die Zukunft lernen

Rainer Lupschina Mia Schepe Theresa Kühnert

/ 5 Minuten zu lesen

Krisen sind historische Momente, in denen Zeitgenossen vor einer Vielzahl von Handlungsoptionen stehen und Entscheidungen treffen müssen. Die Zukunft war für Akteure früher genauso wenig vorherzusehen wie wir sie heute vorhersehen können. Diese Offenheit der Erfahrung gehört auf der Plattform offene-geschichte.de zum didaktischen Konzept.

Auf offene-geschichte.de werden historische Themen wie die Bedrohung der Pest anschaulich dargestellt. (© offene-geschichte.de)

Wie sieht die Praxis von Geschichtsunterricht in Zeiten von Distanzunterricht aus?

Rainer Lupschina: Der Distanzunterricht ist eine Extremform des digitalen Unterrichts. Er zeigt nochmals verschärft das, was wir bereits in Klassen beobachten, die digitale Medien im Unterricht verwenden. Grundsätzlich gilt: Sobald man das Medium verändert, verändert sich die Unterrichtskommunikation. Beim Einsatz digitaler Medien ist diese Veränderung fundamental. Lässt man sich nicht auf die neuen Bedingungen ein, das heißt, werden traditionelle Formate auf digitale Bedingungen übergestülpt, wird ihr Potential erstickt. Unterricht wird dann sogar umständlicher und aufwändiger.

Anders gesagt: In einer digitalen Lernumgebung ändern sich Verfügbarkeit, Bearbeitbarkeit und Visualität von Material und es ändert sich die Art, wie Lernzeit genutzt werden kann. In der Schule selbst läuft etwa sehr viel synchron: Ich gebe die Aufgabe und die Schüler und Schülerinnen erledigen sie im Normalfall sofort. Alle Strukturen der Schule fordern Gleichmäßigkeit und Gleichzeitigkeit. Das machte früher mitunter Sinn. Heute hindert das Lernende am Arbeiten.

Was das Material anbelangt, sind die Veränderungen ebenfalls fundamental. Zugriff auf Debatten und Informationen sowie geschichtskulturellen Phänomene, Zeitzeugeninterviews, Archivmaterial, Museen usw. sind heute äußerst einfach. Das Netz bietet Materialien, die für Schülerinnen und Schüler aktuell und lebensnah sind. Allerdings sind die Angebote selten didaktisiert. Das erfordert einen Sichtwechsel auf die Rollen von Lehrkräften und Lernenden, und es benötigt andere Aufgabenformate.

Über "Offene Geschichte"

Die Online-Plattform Externer Link: offene-geschichte.de wird vom Sonderforschungsbereich "Bedrohte Ordnungen" an der Universität Tübingen entwickelt. Finanziert wird das Projekt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Im Zentrum des didaktischen Konzepts stehen drei Aspekte: Offene historische Situationen, offenes historisches Lernen und offene historische Erzählungen.

Die Plattform steht als OER allen Schulen zur Verfügung. Die Module erstrecken sich über Bildungsplanthemen aus der Sekundarstufe 1 von den Kreuzzügen bis zu Tschernobyl. Bis zum Abschluss der Entwicklung Mitte 2023 werden insgesamt zwölf Module als "ready lessons" umgesetzt werden.

Was ist die Idee hinter der Website offene-geschichte.de?

Rainer Lupschina: Als öffentliche Einrichtung, die mit öffentlichen Geldern bezahlt wird, sehen wir uns in der Verantwortung, die Ergebnisse unsrer Arbeit allen Schulen als Open Educational Resources (OER) zur Verfügung zu stellen. Wir versuchen mit der Plattform eine Lücke zu schließen, die es noch zwischen der schulischen Praxis und der didaktischen Theorie gibt. Hier haben wir von unserer Seite aus noch viel zu tun. Eine Plattform, die pragmatische Ideen streut, ist dafür aber sehr gut geeignet.

Letztlich geht es auch darum, Lehrkräfte und Lernende auf verschiedene Art zu entlasten durch unsere Module, die sich als "ready-lessons" verstehen. Wir beobachten, dass einige Lernende über sich hinauswachsen, weil sie Zeit erhalten, sich länger mit Geschichte zu beschäftigen. Und wir beobachten, dass Lehrkräfte sich anderen Lernenden intensiver widmen können, die sich mit der selbständigen Beschäftigung schwertun.

Lehrer Rainer Lupschina. (© offene-geschichte.de)

Welche historischen Ereignisse werden bei offene-geschichte.de behandelt?

Rainer Lupschina: Wir arbeiten auf offene-Geschichte.de mit dem Erkenntnismodell der Bedrohten Ordnungen. Ziel des Modells ist es, Krisen vergleichend untersuchen zu können. Daher haben wir für den schulischen Unterricht Krisensituationen herausgesucht, die sich auch in den Bildungsplänen wiederfinden (Kreuzzug, Pest, Belagerung von Wien, Kriegsende 1945, Deutscher Herbst und Tschernobyl). Es werden noch vier bis sechs weitere Module bis Mitte 2023 folgen. In Bezug auf Schulformen ist die Plattform eher geeignet für die Sekundarstufe I der Gymnasien.

Wie schaffen Sie es, diese Offenheit von Geschichte in Abgrenzung zum traditionellen Geschichtsunterricht zu vermitteln?

Rainer Lupschina: Im Geschichtsunterricht geht es grundsätzlich darum zu verstehen, dass Geschichte von jemandem erzählt wird; es ist nur dessen Perspektive, dessen Aspektauswahl, dessen Fragestellung und dessen Deutung der Quellen. Es gibt also keine endgültige Geschichte, sondern nur viele gut begründete Geschichten. Das spiegelt sich aber nicht ausreichend im derzeitigen Schulangebot wider. Verfassertexte der Schulbücher sind erstens immer noch hermetisch verschlossene Texte. Sie kommen als Meistererzählung daher, auch wenn sie das nicht sein wollen. Schüler nehmen an, was im Schulbuch steht, sei alleine gültig. Und zum zweiten: Viele Schüler glauben nach wie vor, es ginge im Geschichtsunterricht darum herauszufinden, was tatsächlich geschehen ist. Geschichte ist dann das, was am Ende der Stunde an der Tafel steht. Dabei ist Geschichte offen, aber natürlich nicht willkürlich.

Wir haben daher andere Zugänge gewählt: Die Module wollen das eigene historische Denken und das eigene historische Erzählen der Lernenden anregen und unterstützen.

Dazu nutzen wir unsere Texte fast ausschließlich aus dramaturgischen und heuristischen Gründen. Dramaturgisch dadurch, dass wir in wenigen Wörtern die Katastrophe (Tschernobyl), das Attentat (Deutscher Herbst), den Ausbruch der Seuche (Pest) usw. erzählen. Geschichte soll spannend sein. Fast von alleine entwickeln sich von da aus die historischen Leitfragen: Wie ist das passiert? Wie gehen die Menschen damit um? Welche Mittel stehen zur Verfügung? Was hat sich verändert? Sie treffen vielfach eigene Entscheidungen und formulieren dazu verbindlich ihre Antworten. Und am Ende erzählen sie ihre eigene, plausible Geschichte.

Wir arbeiten also mit offenen historischen Situationen. Wir möchten die Lernenden zu offenem historischen Denken anregen, und wir unterstützen sie in einer offenen historischen Erzählung.

Wie können Lehrende mit der Plattform praktisch im Unterricht arbeiten?

Rainer Lupschina: Schüler lernen auf der Plattform selbständig ihre Geschichte zu schreiben. Schreiben ist ein ganz individueller Prozess. Schüler benötigen dafür Zeit, um eine Schreibroutine aufzubauen. Die Aufgaben sind daher so entwickelt worden, dass Schüler lange selbständig arbeiten bzw. in kleinen Gruppen über längere Zeit kooperieren können. Lehrkräfte unterstützen diesen Arbeits- und Schreibprozess nach Bedarf. Die Module sind so konzipiert, dass erfahrene Lehrkräfte nur eine minimale Vorbereitungszeit haben sollten. Ihre Arbeit ist es dann vor allem, den Schülern unter die Arme zu greifen und am Ende durch die exemplarische Besprechung von Texten zu vermitteln, was historische Texte ausmacht und wie sie zustande kommen.

Für individuelle Rückmeldung gibt es für die Lehrkräfte auch die Möglichkeit über eine sichere Login-Area die Arbeitsergebnisse der Schüler einzusehen und Feedback zu geben.

Können Sie diese andere Rolle der Lehrkraft noch näher erläutern?

Rainer Lupschina: Es klang gerade an, dass bei unseren Modulen der Schreibprozess der Lernenden im Zentrum steht. Schreiben sollte man zulassen und individuell begleiten. Eine engere Steuerung des Unterrichtsverlaufes entfällt daher. Es geht nicht darum, ein bestimmtes inhaltliches Ergebnis zu erzeugen, auf das die Lehrkraft hinleitet. Sondern es geht darum, durch kurze Gespräche, Hinweise und Reflexionen evidente, das heißt begründete Geschichte zu verfassen. Die Rolle der Lehrkraft ändert sich also von einer eher starken Führung zu einer individuellen Begleitung. In unseren Fortbildungen versuchen wir beispielsweise zu zeigen, dass es gar nicht notwendig ist, die Schüler permanent zu kontrollieren. Wenn sie sich in den sozialen Medien bewegen, müssen Schüler heutzutage lernen zu reflektieren, was sie tun, damit sie sich in bestimmten Situationen selber korrigieren können. Das ist die sogenannte Metakognition– also darüber nachzudenken, wie man nachdenkt. Dafür entwickeln wir spezielle Aufgabentypen.

Es geht dabei nicht um die Anzahl der Informationen und deren Wiedergabe, sondern immer um die Glaubwürdigkeit von Informationen. Und diese Glaubwürdigkeit müssen Schüler einschätzen können. Und nicht nur das: Sie müssen bereit sein, die Bewertung der Information zu verändern, wenn sie andere Informationen bekommen. Das ist etwas anderes als das, was momentan in der Schule noch vielerorts gelehrt wird.

Das Interview führten Mia Schepe und Theresa Kühnert.

Weitere Inhalte

Rainer Lupschina ist Lehrer für Deutsch und Geschichte und abgeordnete Lehrkraft an der Universität Tübingen. Hier verantwortet er die Entwicklung der digitalen Plattform Externer Link: offene-geschichte.de.

Mia Schepe unterstützt die Werkstatt-Redaktion seit Januar 2022. Sie studiert Politikwissenschaft im Master und ist in der politischen Bildung aktiv. Darüber hinaus interessieren sie die Themen digitale Bildung, Nachhaltigkeit, Klimapolitik und Zeitgeschichte.

Theresa Kühnert ist seit Juli 2019 als Redakteurin für Externer Link: werkstatt.bpb.de tätig. Davor studierte sie Sozial- und Politikwissenschaften in Leipzig sowie Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts an der FSU Jena. Seit 2020 betreut sie außerdem verschiedene Projekte im Bereich der historisch-politischen Bildungsarbeit.