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Totalitarismus | Linksextremismus | bpb.de

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Totalitarismus

Hans-Gerd Jaschke

/ 6 Minuten zu lesen

Totalitarismus: Das ist politischer Extremismus, der zur Herrschaft gekommen ist. Totalitäre Regime und Bewegungen sind hermetisch abgeschlossene "Weltanschauungen" – und rationaler Kritik nicht zugänglich.

Ikonen-Verehrung: Ein Georgier küsst ein Porträt des sowjetischen Diktators Josef Stalin anlässlich des 128. Geburtstages, 21. Dezember 2007 in Tbilisi. (© AP)

Der politische Extremismus befindet sich in einer Situation der fundamentalen Opposition gegen die Herrschenden. Was aber, wenn dieser Extremismus durch Wahlen oder durch einen Putsch an die Macht gelangt? Es gibt zahlreiche Beispiele für Extremismen, die, einmal an die politische Macht gekommen, durch besonders brutale, menschenverachtende Praktiken ein System der Gewaltherrschaft errichteten. Für diesen Prozess kennt die Politikwissenschaft den Begriff des Totalitarismus, entstanden aus der Selbstdarstellung des italienischen Faschismus unter Mussolini (Hobsbawm 1995: 146). Darunter versteht sie den zur staatlichen Herrschaft gekommenen Extremismus:

"Totalitarismus bezeichnet eine politische Herrschaft, die die uneingeschränkte Verfügung über die Beherrschten und ihre völlige Unterwerfung unter ein (diktatorisch vorgegebenes) politisches Ziel verlangt. Totalitäre Herrschaft, erzwungene Gleichschaltung und unerbittliche Härte werden oft mit existenzbedrohenden (inneren oder äußeren) Gefahren begründet, wie sie zunächst vom Faschismus und vom Nationalsozialismus, nicht zuletzt auch im Sowjetkommunismus Stalins von den Herrschenden behauptet wurden. Insofern stellt der Totalitarismus das krasse Gegenteil des modernen freiheitlichen Verfassungsstaates und des Prinzips einer offenen, pluralen Gesellschaft dar".
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist von zwei gegenläufigen Prozessen gekennzeichnet. Auf der einen Seite ist die Demokratisierung und Liberalisierung insbesondere der westlichen Gesellschaften weiter vorangeschritten. Maßgeblich dafür sind die Erfolge demokratischer Politik, aber auch gesellschaftliche Veränderungen wie etwa der Wertewandel in der westlichen Welt und Prozesse der Individualisierung. Wertewandel nennt die Politikwissenschaft die langfristige Veränderung der Orientierungsmuster insbesondere der gut ausgebildeten Mittelschichten hin zu nicht-materiellen Werten wie etwa gesunde Umwelt, gute soziale Beziehungen, Selbstentfaltungswerte, aber auch ideelle wie Frieden.

Individualisierung wird ein gesellschaftlicher Prozess genannt, der in der modernen Dienstleistungsgesellschaft von immer größerer Bedeutung ist. Demnach ist der Mensch immer mehr herausgelöst aus traditionellen Bindungen wie Familie, Religion, Sozialmilieu und immer stärker auf sich selbst und seine Entscheidungen verwiesen. Beide, Wertewandel und Individualisierung, haben den langfristigen Prozess der Demokratisierung in der westlichen Welt wesentlich vorangetrieben.

Auf der anderen Seite sind jedoch die Gegenbewegungen, zusammengefasst in den theoretischen Begriffen Totalitarismus, Extremismus und Fundamentalismus, eine beharrliche Kraft gegen Freiheit und Demokratie. Sie haben verschiedene gemeinsame Struktureigenschaften, die in sieben Punkten zum Ausdruck kommen. Totalitäre Bewegungen erheben erstens einen Alleinvertretungsanspruch. Sie verstehen sich als alleinige und ausschließliche Besitzer politischer, religiöser oder sonstiger weltanschaulicher "Wahrheiten". Konkurrierende Bewegungen werden als Verirrungen oder Abweichungen aufgefasst, die es zu bekämpfen gilt. Damit einher geht die maßlose Selbstüberschätzung und Selbstüberhöhung als einzige und erste Kraft in der Geschichte, die der Menschheit das Heil bringt. Ihr Messianismus ist absolut und unteilbar.

Totalitäre Regime und Bewegungen sind, zweitens, hermetisch abgeschlossene "Weltanschauungen". Sie sind, von innen betrachtet, rationaler Kritik nicht zugänglich. Ihre Ideologie entwickelt sich nicht in der permanenten, rationalen, diskussions- und lernbereiten Auseinandersetzung mit der Geistes- und Ideengeschichte, sondern sie beruft sich auf die angeblich "ewige" und unverrückbare Wahrheit bestimmter Lehrsätze. Weltanschauungen werden grundsätzlich nicht reflexiv und für die Diskussion offen fortentwickelt, sondern sie werden als vorgebliche Wahrheiten "geglaubt". Darin zeigt sich der quasi-religiöse Charakter aller totalitärer Glaubenssysteme. Lehrsätze werden nicht diskutiert und selbstkritisch überprüft, Kritik an ihnen gilt als abweichlerisches und sanktionswürdiges Verhalten.

Sie verfügen, drittens, über eine anti-aufklärerische, absolu-tistische Legitimationsbasis. Nicht die Vernunft des aufgeklärten Subjekts, sondern die prophetischen, charismatischen Gaben des die Weltanschauung in idealer und absoluter Weise verkörpernden Führers gelten als einzige Quelle der Legitimation. Schon von daher sind konkurrierende und relativierende Argumente aus der Tradition anderer Ideengeschichten ausgeschlossen. Der Führer wird verehrt und mystifiziert und gilt als der messianische, charismatische und vom Schicksal ausersehene "leader", der jeder Kritik unzugänglich ist. Interne demokratische Willensbildung im Rahmen eines Primats des besseren Arguments läuft dem Führer-Prinzip zuwider und könnte die Allmacht der Führer-Ideologie relativieren und delegitimieren. Aus diesem Grund kann es keine demokratische Willensbildung in totalitären Bewegungen geben. Es ist bezeichnend für totalitäre Organisationen, dass Führer nach ihrem Ableben als Leitfiguren, Aushängeschilder, ideologische Fixpunkte und "geistige Alleinherrscher", versehen mit einem Heiligenschein, fortleben und in ihrer Überhöhung und Glorifizie­rung weiterhin eine zentrale Legitimation für die Organisation liefern. Marx, Lenin und Mao tse Tung haben eine solche Funktion für die extreme Linke in Deutschland eingenommen, Hitler ist für diverse Neonazi-Zirkel weiterhin der entscheidende Fixpunkt.

Sie sind, viertens, geprägt von Feindbild-Rhetorik und der rigiden Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Gut ist die eigene Weltanschauung, mehr oder weniger böse ist alles, was ihr nicht folgen will oder kann. Der moralischen Differenz zwischen Gut und Böse folgt die handlungsorientierte, ebenso radikal vereinfachende Unterscheidung von "richtig" und "falsch". Konsequenterweise entwickelt der Totalitarismus daraus eine beachtliche Aggressivität gegen Abweichler und Feinde, häufig im Rahmen von Verschwörungstheorien. Partielle oder überwiegende Gewaltbereitschaft ist der folgerichtige Schritt, um Gegner und Feinde auszuschalten, die die eigene Weltanschauung bedrohen. Zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch, Freund und Feind, den fundamentalen und konstitutiven Unterscheidungen, werden in der Regel kaum Differenzierungen vorgenommen. So erklärt sich der beträchtliche Realitätsverlust bei den Anhängern totalitärer Gruppierungen, den sie freilich erst in der Ausstiegsphase erkennen. Die autobiographischen Materialien von "Ehemaligen" liefern hierfür vielfache Belege.

Die soziale und politische Basis totalitärer Systeme sind Bewegungen, von denen sie im Vorfeld und auch in der Systemphase getragen werden. Das fünfte und sechste Merkmal bezieht sich besonders auf diese Bewegungen. Totalitäre Bewegungen entwickeln, fünftens, um die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit ihrer Ideologie zu zementieren, eigene Begriffssysteme mit Umdeutungen alltagssprachlicher Begriffe oder originären Bedeutungen. Von den Fachsprachen der Wissenschaften, der Justiz, der Medizin, des Militärs, des Sports oder der Technik unterscheiden sie sich durch ihren suggestiven Charakter. Totalitäre Begriffe beanspruchen das Absolute und Nicht-Hintergehbare, sie sind der kritischen Reflexion und Infragestellung entzogen. Die Rhetorik des Marxismus-Leninismus und des Stalinismus kennt hierfür ebenso viele Beispiele wie die NS-Bewegung vor 1933 und der Nationalsozialismus an der Macht.

Totalitäre Bewegungen richten sich, sechstens, gegen die Idee der Demokratie als solche, sie wollen den Stand der Demokratisierung und der Liberalität zurückschrauben. Demokratie und Totalitarismus sind gänzlich unvereinbar, weil die liberale Demokratie an den unveräußerlichen Rechten des Staatsbürgers ansetzt, der Totalitarismus hingegen unter Missachtung der bürgerlichen Freiheitsrechte an den Rechten des Kollektivs. Deshalb reicht die prinzipielle und von innen gesehen auch notwendige Zurückweisung der Demokratie von taktisch geprägter Scheinakzeptanz über zurückhaltende Kritik bis hin zu militanten Versuchen, die Demokratie – etwa durch militante Provokationen – zu zerstören.

Ein besonderes und für die zivile Demokratie gefährliches Problem ist das Gewaltpotential totalitärer Gruppierungen. Die klassischen Beispiele des Totalitarismus – Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus – haben Gewalt nach innen und nach außen defensiv legitimiert: Man sei bedroht und umzingelt von aggressiven Feinden, deshalb sei Gewaltanwendung ein legitimer Akt der Notwehr. Totalitäre Organisationen, die sich selbst unter öffentlichen Druck gesetzt sehen, tendieren, so scheint es, dazu, Gewalt zu akzeptieren unter der Voraussetzung einer (scheinbar notwendigen) Selbstverteidigung. Nach innen hingegen, als Sanktionsmittel gegenüber Mitgliedern, Anhängern und – besonders – Abtrünnigen, scheint Gewalt in vielfältigen Formen ein selbstverständliches Mittel der Auseinandersetzung, ebenso gegenüber Personen und Organisationen, die als feindlich wahrgenommen werden. Totalitäre Bewegungen vereinigen nicht nur das eine oder andere der genannten Strukturmerkmale, sondern, mehr oder weniger, alle sieben zugleich. Eben dies macht sie zu "totalitären" Gruppierun­gen.

Literatur

Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme, München/Wien 1995, S. 146.

Aus: Hans-Gerd Jaschke: Politischer Extremismus, Wiesbaden 2006, VS Verlag für Sozialwissenschaften. Der Band aus der Reihe "Elemente der Politik", hrsg. v. Hans-Georg Ehrhart, Bernhard Frevel, Klaus Schubert und Suzanne S. Schüttemeyer ist außerdem als Lizenzausgabe bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen und kann hier bestellt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Schubert, Klaus / Klein, Martina: Das Politiklexikon, Bonn 2006, S. 289. Zu den ideengeschichtlichen Wurzeln des Totalitarismuskonzepts vgl. Pfahl-TraughberArmin: Klassiche Totalitarismuskonzepte auf dem Prüfstand - Darstellung und Kritik der Ansätze von Arendt, Friedrich, Popper und Voegelin. In: Jahrbuch Extremismus & Demokratie, hrsg. von Uwe Backes und Eckhard Jesse, 16. Jg. 2004, S. 31-58.

geb. 1952; Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin.

Anschrift: Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin, Alt-Friedrichsfelde 60, 10315 Berlin.

Veröffentlichungen u. a.: Fundamentalismus in Deutschland. Gottesstreiter und politische Extremisten bedrohen die Gesellschaft, Hamburg 1998.