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militante gruppe

Ingo Arzt

/ 8 Minuten zu lesen

Die linksextreme "militante gruppe" bekannte sich zwischen 2001 und 2007 zu zahlreichen Anschlägen. Im Oktober 2009 verurteilte das Berliner Kammergericht drei Männer wegen Mitgliedschaft in der Gruppe. Die gab fast gleichzeitig ihre Selbstauflösung bekannt. Einzelne Mitglieder sind wahrscheinlich weiterhin aktiv.

Anschlag der "militanten gruppe" auf ein Fahrzeug der Bundespolizei am 04.09.2006 in Berlin-Lichtenberg. (CC, Bundespolizei)

Die linksextreme "militanten gruppe" (mg) hat in den letzten Jahren zahlreiche Brandanschläge verübt. Welche Bedeutung sie hat, lässt sich im bisher einzigen Gerichtsurteil ablesen, nach dem drei Männer Mitglieder der Gruppe sind. Der vorsitzende Richter Josef Hoch hat es am 16.10.2009 vor dem Berliner Kammergericht verlesen. An diesem Tag endete nach 63 Verhandlungstagen der sogenannte mg-Prozess: Den 48-jährigen Sozialpädagogen Axel H. und den 37-jährigen Antiquariatsangestellten Oliver R. verurteilte das Gericht zu je drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe, den 37-jährigen Altenpfleger Florian L. zu drei Jahren. Sie waren im Juli 2007 in Brandenburg/Havel auf frischer Tat ertappt worden, als sie versuchten, drei Lastwagen der Bundeswehr anzuzünden. Die Polizei hatte sie bereits monatelang observiert und konnte die Brandsätze löschen.

Die Schuld der Angeklagten wiesen die Staatsanwälte anhand von DNA-Spuren auf den Brandsätzen eindeutig nach. Verurteilt wurden sie jedoch auch wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung – der militanten gruppe. Bei der Strafzumessung sei der Gedanke der Abschreckung strafschärfend mit eingeflossen, sagte Richter Hoch. Die mg habe eine Vorreiterrolle im militanten Kampf gegen das demokratische System gespielt.

Das Unikum mg

Hat sie das wirklich? 25 Brandanschläge zwischen den Jahren 2001 und 2007 werden der mg zur Last gelegt, mit einem Sachschaden von 840.000 Euro. Das allein kann kaum zu der Popularität geführt haben, die ihr die Richter beimessen: Von Januar bis Anfang September 2009 gab es nach Angaben der Berliner Polizei 102 politisch motivierte Brandanschläge auf PKW, bei denen über 200 zerstört wurden. Über 100 weitere PKW sind ohne politischen Hintergrund angezündet worden, auch in den Jahren davor gab es Brandanschläge dieser Art in Berlin.

Sie alle weisen jedoch nicht das Muster auf, dass die mg in der jüngsten Geschichte des Linksextremismus in Deutschland zu einem Unikum macht: Stets bekannte sich die Gruppe in Bekennerschreiben zu ihren Anschlägen, in denen sie auch ihre kruden Beweggründe darlegte. Sie definierte sich als "klandestine", also heimliche, im Untergrund operierende Gruppe. Zudem wollte sie tatsächlich stilbildend in der Szene wirken und militante linke Gruppen zu einer "militanten Plattform" in Deutschland vernetzen. Durch eine "Militanzdebatte" sollte die Szene auf einen gemeinsamen ideologischen Nenner gebracht werden. Damit wollte sie ihr Ziel eines kommunistischen Umsturzes in der Bundesrepublik, erreichen. Dazu machte sie in Bekennerschreiben, Presseerklärungen und Veröffentlichungen in den Berliner Szeneblättern "Interim" und "Radikal" auf sich aufmerksam.

Vorgehensweise bei Anschlägen

Schon bei ihrer ersten Aktion am 14. Juni 2001 ließ sich dieses Muster verfolgen: Damals erhielt der FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff einen Drohbrief. Er war Regierungsbeauftragter in der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft zur Entschädigung der Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg. Die Autoren des Briefes forderten eine Zahlung an die Opfer von 180 Milliarden DM, als "Diskussionsanregung", wie es in dem Brief hieß, lag eine scharfe Patrone bei. Noch im selben Monat erhielten zwei weitere Politiker Drohbriefe, in der damaligen DaimlerChrysler-Niederlassung im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg verübte die Gruppe ihren ersten Anschlag, bei dem ein PKW ausbrannte. Man wolle den Konzern für seine "exponierte Rolle im NS-Regime" zur Rechenschaft ziehen, hieß es in einem Bekennerschreiben. Das Bundeskriminalamt (BKA) stufte die Gruppe zunächst als terroristisch ein, der Bundesgerichtshof urteilte später, die Aktivitäten der mg seien als kriminell, nicht als terroristisch zu werten.

Bei weiteren Anschlägen, meist Brandanschläge, gingen Fahrzeuge der Bundeswehr, der Polizei und verschiedener Ordnungsämter oder der Deutschen Telekom in Flammen auf. Ebenso traf es die Garage eines Berliner Neurologen oder einen Lidl-Supermarkt. Menschen sind durch die Anschläge bisher nicht getroffen worden, was sowohl Sicherheitsbehörden als auch die mg selbst als gezielte Taktik beschreiben, um die Akzeptanz in der linken Szene zu gewährleisten. "Dabei ist größter Wert auf die Zielgenauigkeit bei Aktionsvorhaben zu legen. Wenn bspw. eine spezifische 'Nobelkarosse' flambiert werden soll, dann ist darauf zu achten, dass in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft keine Kleinwagen geparkt sind und die weitere Umgebung (Wohnhäuser etc.) nach allem, was einzuschätzen ist, nicht tangiert wird. Ist man dessen nicht sicher, hat eine solche Aktion zu unterbleiben", schreibt die mg in der "Interim". Behörden sprechen von reinem Glück, dass nicht zufällig Personen zu schaden gekommen sind.

Vermeintliche Selbstauflösung

Ende Mai 2007 veröffentlichte die mg für über zwei Jahre ihren letzten Text. Nach der Verhaftung der im Oktober 2009 verurteilten Männer im Juli 2007 gab es zunächst keine Verlautbarungen und keine Anschläge mehr, zu denen sich die mg bekannte. Erst im Juli 2009 meldete sich die Gruppe wieder zu Wort. Die "Radikal", Nummer 161, veröffentlichte ein 28 Seiten langes Interview, dass die Autoren angeblich schriftlich mit der mg geführt haben. Dort hieß es, die Gruppe gebe ihre Auflösung bekannt, was auch prompt in den Medien entsprechend vermittelt wurde. Allerdings trügt der Schein: Im gleichen Interview ruderte die mg zurück. Man wolle das "Projekt" auf eine andere Ebene "transformieren", hieß es. Das könnte bedeuten, dass sich die Mitglieder der Gruppe nicht mehr des gemeinsamen Labels "militante gruppe" bedienen wollen. Sie kündigen jedoch an, weiter aktiv zu sein.

Die grundsätzliche Frage ist, ob der Text ganz oder zum Teil von Personen verfasst wurde, die als "mg" Anschläge verübt haben. Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt nehmen dazu Textanalysen vor. Die angeblichen mg-Autoren behaupten zudem, die drei in Berlin verurteilten würden nicht ihrer Gruppe angehören: In einem Text in der Radikal schreiben sie, die mg sei durch die Festnahmen im Sommer 2007 nicht in ihrer "personellen Gruppenstruktur tangiert worden". Zudem bekannte sich die mg zu drei weiteren Brandanschlägen im Januar und Februar 2009. Für den mg-Prozess blieb die Veröffentlichung ohne Relevanz.

Eine These lautet, dass der Text nicht von mg-Mitgliedern verfasst wurde, sondern zur Entlastung der auf der Anklagebank sitzenden aus Kreisen des "Bündnis für die Einstellung der §129(a)-Verfahren" kam. Ein vermeintliches Schreiben der "echten" mg kurz vor Urteilsverkündigung hätte die Angeklagten entlasten können. Das Bündnis setzt sich für einen fairen mg-Prozess ein, die Freilassung der Angeklagten und die Abschaffung des Paragrafen 129a im Strafgesetzbuch, der die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung unter Strafe stellt.

Dagegen spricht sowohl die Beweisführung im Prozess als auch der Text selbst. Hauptindiz für die Anklage war ein "Handbuch für Militante" der mg, Teile davon fanden Ermittler bei einem der Angeklagten. Da es nirgends sonst in der linken Szene auftauchte, gingen die Richter davon aus, dass der Angeklagte der Urheber und somit Mitglied der mg sei. Allerdings gingen die Behörden während der Verhandlung nicht davon aus, die gesamte Gruppe zerschlagen zu haben.

Die "Militanzdebatte"

Mitglieder der mg immer noch aktiv

Auch ohne eine systematische Textanalyse lässt sich erkennen, dass die jüngsten Texte in der "Radikal" von mg-Autoren stammen müssen. Aufbau, verwendete Formulierungen, der Stil und Sprachgebrauch sind typisch für die militante gruppe. Auffällig sind auch die häufigen Zitate von kommunistischen Politikern oder Intellektuellen und offensichtlich gute Kenntnisse ihrer Schriften. Die mg versuchte stets, mit ideologisch überfrachteten Pseudoanalysen die Deutungshoheit in der "Militanzdebatte" zu bekommen. Der Bogen spannt sich von Marx' kommunistischem Manifest über die Schriften Lenins bis hin zur RAF und den Debatten über das Untergrundblatt Interim. Der Text scheint im Vergleicht mit den sonstigen Veröffentlichungen der mg in der Interim absolut authentisch. Das würde bedeuten, dass Mitglieder der Gruppe auf freiem Fuß sind. Der Berliner Polizeipräsident Dieter Glietsch sagte dem Tagesspiegel, Straftaten von mg-Mitgliedern unter anderem Namen seien keineswegs ausgeschlossen.

Dafür spricht auch, dass sich die mg in ihrer vermeintlichen Selbstauflösung quasi bei anderen linksextremen Gruppen bewarb: Mit ihrem "umfangreichen inhaltlich-ideologischem Rüstzeug, einer langen Kette von militanten Aktionserfahrungen und verschiedenen organisatorischen Versuchen des Strukturaufbaus" wolle sie weitermachen. Es ist also davon auszugehen, dass sich Mitglieder der "militanten gruppe" anderen linksextremen, militanten Gruppen anschließen oder bereits angeschlossen haben. Auch das Ziel dürfte klar sein: Eine Vernetzung dieser Gruppen, wie es immer erklärtes Vorhaben der mg war.

Trotzdem haben Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft auch ohne weitere Festnahmen gewisse Fahndungserfolge erzielt. Zwar sei die mg nicht direkt von den Fahndungen und Festnahmen betroffen gewesen, behauptet die Gruppe. Allerdings sei man von der "Bugwelle" getroffen worden. Offensichtlich war der Fahndungsdruck so groß, dass sich die Gruppe nicht mehr an Verlautbarungen traute. Auch war es ihr laut ihres Textes nicht mehr möglich, Sympathisanten zu werben. Zudem habe es Konflikte in der Gruppe über den künftige Kurs gegeben. "Das, was mit der Bugwelle unaufhaltsam auf dich als Kollektiv zukommt, ist in seiner Mittelbarkeit kaum weniger für den Gruppenzusammenhang gefährdend als ein direkter Repressionsschlag selbst", heißt es im typischen mg-Duktus. Auch von anderer Seite stand die mg unter Druck: In der linken Szene erwartete man, so ist ebenfalls der "Radikal" zu entnehmen, über klare Äußerungen der Gruppe die Angeklagten zu entlasten.

Einfluss der mg auf die linke Szene

Zweifellos hat die mg durch die Prozesse, Anschläge und Razzien im Jahr 2007 große öffentliche Aufmerksamkeit erzielt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die theoretische Diskussion der mg in der "Militanzdebatte" nur geringen Einfluss auf die Szene hat. Sicherheitskreise und Personen aus der antifaschistischen Linken teilen diese Einschätzung. Zum einen, weil autonome und anarchistische linke Gruppen sich schon von ihrem Selbstverständis her kaum in der Form vernetzen lassen, wie es der mg vorschwebte. Zudem muss die militante gruppe als arrogant wahrgenommen werden. Sie schreibt von "autonomen Schlacken", von denen es sich zu befreien gilt, wahlloses Anzünden von Autos sei "narzisstische Brandsatzlegerei". Seit dem G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm hat sich eine Gruppe noch junger, militanter Linker herausgebildet, die weniger politisch und weniger ideologiefixiert sind. Mit den seitenlangen Abhandlungen der mg können sie nichts anfangen. Dieter Rucht, Professor für Soziologie am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin, sieht langfristig ein Abklingen des Linksradikalismus in Deutschland seit dem Ende der RAF und anderer Gruppen Anfang der 90er Jahre. Daran würde weder die mg noch die große Zahl angezündeter Autos in Berlin etwas ändern. "Es gibt den Aspekt, dass solche Aktionen den Tätern einen Kick verleihen. Das ist wie ein verlängertes Räuber-und-Gendarm-Spiel, relativ losgelöst von einem politischen Kontext", sagt Rucht.

Unter Federführung der Bundesanwaltschaft (BAW) ermittelt das BKA seit September 2006 gegen den im Juli 2007 verhafteten Berliner Soziologen Andrej Holm. Der Bundesgerichtshof hob den Haftbefehl am 18. Oktober 2007 wieder auf, weil er keinen dringenden Tatverdacht der Mitgliedschaft Holms in der damals noch als terroristisch geltenden mg sah. Bereits im August 2007 hatte der Ermittlungsrichter am BGH den Haftbefehl außer Vollzug gesetzt. Holm wird vorgeworfen, der intellektuelle Kopf der mg zu sein. Die BAW machte im November 2009 auf Nachfrage des Autoren keine Angaben darüber, ob es noch zu einer Anklage kommt oder das Verfahren eingestellt wird. Außerdem gegen eine Frau, die im mg-Prozess als Zeugin geladen war und wegen widersprüchlicher Aussagen selbst ins Visier der Behörden geriet. Zur Anklage kam es in beiden Fällen bisher nicht. Die Anwälte der drei in Berlin Verurteilten haben angekündigt, gegen das Urteil der Berliner Kammergerichts vor dem Bundesgerichtshof in Revision gehen zu wollen. Seit 2001 gab es nach Angaben des Bündnisses gegen 129a-Verfahren elf weitere Ermittlungsverfahren gegen konkrete Personen, die aber alle eingestellt wurden, weil sich die Verdachtsfälle nicht erhärteten. Da die Bundesanwaltschaft zu laufenden Verfahren keine Auskunft gibt, lässt sich nicht sagen, in welchem Umfang derzeit noch ermittelt wird.

Ingo Arzt ist freier Journalist und lebt in Berlin. Er schreibt u.a. für SPIEGEL online.