Die Dimensionen des Sicherheitsbegriffs
Sicherheit hat sich zu einem zentralen Wertebegriff demokratischer Gesellschaften entwickelt. Wie genau er zu definieren ist, darüber gehen die Meinungen allerdings auseinander, so die Politologen Christian Endreß und Nils Petersen. Ein Überblick über die verschiedenen Facetten der Diskussion.
Sicherheit ist eine der wesentlichen Voraussetzungen aller Bereiche des öffentlichen Lebens sowie Grundbedarf aller natürlichen und sozialen Systeme. Als konstitutiver Bestandteil des demokratischen Staatsauftrages ist sie Basis für Handeln und Planen und eine enorme Herausforderung nicht nur bei der Abwehr extremer Gefahrenpotentiale wie Terrorismus oder Katastrophen. Obwohl sich viele Forschungsbereiche mit "Sicherheit“ auseinandersetzen und sie Bestandteil verschiedener Diskurse ist, bleibt sie begrifflich eine unklare Größe, die einem permanenten Wandel unterlegen ist.[1]
Bisher ist es der Politikwissenschaft nicht gelungen, eine abschließende bzw. wirklich zufriedenstellende Definition des Terminus Sicherheit zu finden. Das ist umso erstaunlicher, als er schon seit der Prägung des Begriffs der inneren Sicherheit in den 1960er-Jahren von zentraler Bedeutung ist. Die im angelsächsischen und amerikanischen Sprachraum gängige Unterscheidung zwischen Security (am ehesten mit "Angriffssicherheit“ gleichzusetzen) und Safety (am ehesten mit "Betriebssicherheit“ gleichzusetzen) findet im Deutschen keine Entsprechung. Allerdings reicht das simple Ausweichen auf englische Terminologien nicht aus, um die Vielfalt und Vielschichtigkeit des Begriffs der Sicherheit zu erfassen. Denn er war und ist einer spezifischen Prägung im deutschen Sprachraum ausgesetzt.
Die Schwierigkeit bei der Definition besteht darin, dass Sicherheit ein "catch-all-Begriff“ der modernen Welt[2] geworden ist. Das heißt, dass er mittlerweile in jeden lebensweltlichen Bereich Einzug gehalten hat und dadurch allgemein und übergreifend kaum zu fassen ist. Zugleich gehört Sicherheit beispielsweise in der (internationalen) Politik zu einem der umstrittensten Begriffe: Mit ihm wird über die Priorität politischer Ziele entschieden und über die Wahl der Mittel, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen.[3]
Unstillbares Sicherheitsbedürfnis
Der ständige Ruf nach Kompetenzerweiterung des Staates aufgrund ständig neuer "Bedrohungen“ stellt eine maßgebliche Konstante in der Sicherheitsdiskussion dar.[4] Er kommt sowohl von politischen als auch von administrativen Akteuren, die sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollen, auf Gefahren nicht hingewiesen zu haben. Dies führt zu dem Dilemma, dass der Ausbau von Sicherheit immer weitere Unsicherheiten erzeugt.[5] Permanente technische Innovationen, ein hohes Niveau im Bereich der alltäglichen Gefahrenabwehr, die selbstverständliche und jederzeitige Verfügbarkeit von Kommunikationsmitteln und hohe Rechtsstandards suggerieren zwar Sicherheit, sie bringen aber auch eine hohe Abhängigkeit mit sich und können – dem genannten Dilemma folgend – neue Unsicherheiten auslösen.[6]Geradezu paradox erscheint, dass der Staat Opfer der eigenen Erfolge wird. Indem er für grundlegende Sicherheit sorgt und somit seiner hoheitlichen Aufgabe gerecht wird, schafft er weiter reichende Sicherheitsbedürfnisse der Gesellschaft. Der Staat erscheint immer weniger in der Lage, diese komplexen Bedürfnisse zu befriedigen. Er kann sie allerdings auch nicht abweisen, ohne die eigene Legitimationsgrundlage, also explizit die Gewährleistung von Sicherheit, zu untergraben.[7]
Anknüpfend daran kann die zentrale Aufgabe der Sicherheitsakteure nur darin bestehen, Unsicherheiten zu reduzieren. Dies umfasst zwei Dimensionen: zum einen die tatsächliche Unsicherheit, ausgelöst durch Gefahren und Risiken, zum anderen die "gefühlte“ Unsicherheit. Beiden Dimensionen versuchen die Akteure im Bereich der inneren Sicherheit zu begegnen.
Verschiedene Perspektiven
In der Forschung hat sich eine segmentierte Betrachtung der jeweiligen Politikfelder durchgesetzt. So besteht auch weiterhin eine klare Trennung zwischen den Forschungsgebieten der inneren[8] und äußeren[9] Sicherheit [10] (siehe dazu auch den Abschnitt zum "erweiterten Sicherheitsbegriff" weiter unten). Die Kriminologie nimmt sich der veränderten Wahrnehmung von Gefahren und Risikobewusstsein[11] an, die Soziologie untersucht die Auswirkungen dieses Wandels auf unsere Gesellschaften.[12] Die Rechtswissenschaft spricht zumeist von öffentlicher Sicherheit und beschreibt die Entwicklung des Sicherheitsrechts.[13] Innerhalb der Geschichtswissenschaft werden die sicherheitsrelevanten Epochen in innen- wie außenpolitischer Hinsicht untersucht.[14]Auch wenn in der wissenschaftlichen Literatur in den letzten 40 Jahren über 9 000 deutsche Titel[15] allein zur inneren Sicherheit verfasst wurden, fehlt es bislang an einer integrativen Perspektive, die den Wandel von Sicherheit als einen Prozess versteht. Interdisziplinäre Betrachtungen haben sich erst in jüngerer Zeit durchgesetzt.
Zum Wandel des Sicherheitsbegriffs
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts zeigt sich die Tendenz seitens der Sicherheitsakteure, bei der Herstellung von Sicherheit, stärker auf zeitliche Begrifflichkeiten wie präventiv, präemtiv, reaktiv, proaktiv zurückzugreifen. So wurde beispielsweise die Bedrohungsabwehr zunehmend durch die Risikovorsorge abgelöst.[16] Diese Entwicklung ist keineswegs frei von Brüchen: Eher bürger- und präventionsorientierte Sicherheitskonzepte wurden immer wieder von Forderungen nach einem repressiv vorgehenden "starken Staat“ abgelöst, wie dies zuletzt nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zu beobachten war.[17] Die Gefahr oder Bedrohung wird dabei mal als latent, mal als manifest benannt.[18] Unterschiedliche Auffassungen zum Vorgehen des Staates gab es allerdings schon im 17. Jahrhundert, zu Zeiten der Philosophen und Vertragstheoretiker Thomas Hobbes und John Locke. Während Hobbes die Sicherheit des Staates in den Vordergrund stellte, stand für Locke das Individuum, das vom Staat beschützt werden müsse, im Fokus.Sicherheit hat sich zu einem der zentralen, wenn nicht dem zentralen Wertebegriff demokratischer Gesellschaften entwickelt. Konkurrierten noch vor einigen Jahren die Begrifflichkeiten "Frieden“ und "Sicherheit“ um die Vorrangstellung in Parteiprogrammen und Strategiediskussionen, so ist "Sicherheit“ heute Ausgangspunkt jeglichen Handelns nationaler und internationaler Politik – unabhängig von parteipolitischer Couleur und Interessenslage. Dabei hat sich der Begriff längst auch auf andere Politikfelder ausgeweitet.[19] Die daraus resultierende sich wandelnde Wahrnehmung politischer Probleme hat auch maßgeblich zu einem Wandel der "Sicherheitskultur" geführt.[20]
Unbestritten ist Sicherheit ein individuelles und kollektives Grundbedürfnis, das sowohl durch die Gemeinschaft bedient als auch gemeinschaftlich befriedigt wird. Sicherheit bedeutet die Abwesenheit von Gefährdung sowie den Erhalt der psychischen und physischen Unversehrtheit "in einer das Überleben ermöglichenden Umwelt".[21] In Anbetracht der rasanten politischen und sozialen Entwicklungen der heutigen Zeit stellen der Wunsch und das Bedürfnis nach Sicherheit eine grundlegende Komponente moderner Gesellschaften dar.[22]