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Antisemitismus im linken Spektrum | Antisemitismus | bpb.de

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Antisemitismus im linken Spektrum

Tom David Uhlig

/ 11 Minuten zu lesen

Antisemitismus ist kein integraler Bestandteil linker Weltbilder, aber ständiger Begleiter linkspolitischer Bewegungen. Besonders in drei Feldern schlägt er sich immer wieder durch: Kapitalismuskritik, Antiimperialismus und Vergangenheitspolitik.

New Yorker zeigen ihrer Solidarität mit den Palästinensern im Gaza-Streifen. (© picture-alliance)

Antisemitismus von links bzw. im Spektrum der politischen Linken erscheint vielen wie ein Widerspruch in sich: Wie kann in einer politischen Richtung, die bei aller Heterogenität dem Selbstanspruch nach Emanzipation und Freiheit zum Ziel hat, das Ressentiment gegen Jüdinnen und Juden gedeihen? Zudem sind es insbesondere linke Denker:innen gewesen, die das geeignete begriffliche Instrumentarium entwickelt haben, Antisemitismus in seiner gesellschafts- wie subjekttheoretischen Dimension zu verstehen und dadurch bekämpfbar zu machen. Antisemitismus ist wesentlich mehr als ein Vorurteil, ein falsches Bild, dass man sich im Laufe des Lebens über Jüdinnen und Juden angeeignet hat. Es handelt sich um eine Denkform, eine emotional motivierte Weise, auf die Welt und auch auf sich selbst zu blicken. Der Politikwissenschaftler Interner Link: Samuel Salzborn brachte das auf die Formel, Antisemitismus sei die Unfähigkeit oder der Unwillen, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen. Anstatt dass Gesellschaft auf dem Abstraktionsgrad verstanden wird, auf dem sie sich vollzieht, wird sie verdinglicht, d.h. meist personalisiert, indem man verschiedene Missstände dem bösartigen Wirken einer zwielichtig-unheilvollen Gruppe – vornehmlich den "Juden" –zuschreibt. Und anstatt dass sich Gefühle wie Hass oder Liebe an konkreten anderen festmacht, die einem Unrecht getan haben oder die man sehr gerne hat, richten sich diese Affekte auf abstrakte Konstruktionen wie die Nation oder das Volk, die man lieben will, und das unterstellte Kollektiv der "Juden", die man verabscheut. Vor diesen Denkformen und Ressentiments ist man auch im politisch linken Spektrum nicht gefeit, gleichwohl die theoretischen Mittel zur Verfügung stünden, nicht in die Verdinglichung zu flüchten oder der regressiven Bindung an imaginierten Gemeinschaften anheimzufallen.

Kritiker:innen linken Antisemitismus‘ wird häufig vorgeworfen, damit die radikale Linke schwächen zu wollen, womöglich selbst Teil einer geheimen Agenda zu sein – jedenfalls die eigenen Motive nicht offenzulegen. Dabei ist die Thematisierung von Antisemitismus unerlässlich, um überhaupt linke, dem Selbstverständnis nach emanzipative Politik betreiben zu können. Denn Antisemitismus verstellt den Blick auf Gesellschaft und verunmöglicht damit ihre Kritik: Kapitalismus wird nicht bekämpft, indem man einigen "Bänkern, Bonzen und Banditen" die Schuld in die Schuhe schiebt, und der Kampf für Menschenrechte wird unglaubwürdig, wenn man diese Jüdinnen und Juden vorenthalten will. Es ist keine Schwäche der politischen Linken, sondern kann eine genuine Stärke sein, sich selbst zu hinterfragen und immer wieder darüber nachzudenken, wo man hinter die eigenen Ansprüche zurückfällt. Der Streit um die richtige Politik, das Aushandeln von Widersprüchen ist ein wesentlicher Teil linker Geschichte und so baut auch die nachfolgende Diskussion maßgeblich auf linken Selbstkritiken auf. Antisemitismus – auch wenn sie kein integraler Bestandteil linker Weltbilder ist – begleitet linkspolitische Bewegungen ständig, mal in Form lauter Einzelstimmen, mal als Rauschen im Hintergrund und manchmal im Zentrum der Agitation. Im Weiteren sollen drei Felder besprochen werden, in denen sich Antisemitismus im linken Spektrum immer wieder durchschlägt: Kapitalismuskritik, Antiimperialismus und Vergangenheitspolitik.

Kapitalismuskritik

Der Begriff Externer Link: Kapitalismus beschreibt einen abstrakten Funktionszusammenhang, welcher verschiedene Phänomene miteinander in Beziehung setzt. Kapitalismus lässt sich nicht anfassen, nirgendwo sitzt ein zentrales Bewusstsein, das den Kapitalismus steuern würde, immer ist es eine Vielzahl von Akteuren und Märkten, die sich gegenseitig beeinflussen und damit ein Marktgeschehen erzeugen. Dabei sind alle Menschen mit den konkreten Erscheinungsformen des Kapitalismus ohne Unterlass, oft auf schmerzhafte Weise konfrontiert. Die Wirkungszusammenhänge und ihre Auswirkungen sind mitunter schwer durchschaubar: Die kapitalistische Gesellschaft ist zwar menschengemacht, aber im Bewusstsein vieler Menschen erscheint sie kaum veränderbar, wie eine Naturgewalt, der man mehr oder minder schutzlos ausgeliefert ist. Wahlweise wird dem Sozialphilosophen Slavoj Žižek und/oder dem Literaturwissenschaftler Fredric Jameson der Satz zugeschrieben: "Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus." Die kapitalistische Gesellschaft ist zu einer Art zweiten Natur geworden, und eben wegen dieser Allgegenwart kaum zu durchschauen. Das Leid, das der Kapitalismus hervorbringt, drängt zur und entzieht sich oftmals einer schlüssigen Erklärung: Warum steigen die Produktivkräfte ständig an, während gleichzeitig die Zahl der Hungernden weltweit in den letzten Jahren angestiegen ist und 2018 rund 820 Millionen Menschen nicht genug zu essen hatten? Warum scheint es nicht möglich die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen? Versierte Kapitalismusanalysen und -kritiken sind aufgrund ihrer hohen Komplexität schwierig allgemeinverständlich zu vermitteln, weshalb häufig auf so einfache wie falsche Erklärungsmuster zurückgegriffen wird. Ein solches Muster ist die personalisierende Kapitalismuskritik, welche ein Bewusstsein des Kapitalismus unterstellt und dieses mit Jüdinnen und Juden identifiziert. Ein beliebtes Bild ihrer Darstellung ist die Krake, die mit ihren vielen Armen die Geschicke der Welt lenkt und auch immer wieder bei linken Demonstrationen zu sehen ist, wie etwa bei den Interner Link: Anti-G20-Protesten in Hamburg 2017.

Historisch vorbereitet durch ihren teilweisen Einschluss in die Zirkulationssphäre wird ihnen nachgesagt, das Finanzwesen zu beherrschen und dadurch die Welt zum Schaden der "einfachen Arbeiter" zu orchestrieren.

Dieses Ressentiment tritt nach 1945 – wie Antisemitismus überhaupt – zumindest in den sogenannten westlichen Ländern kaum noch offen zutage, sondern zumeist kodiert oder strukturell. Kodiert, weil anstatt von den "geldgierigen Juden" dann etwa vom Ostküstenkapital, der Zinsgeldknechtschaft, den Rothschilds, den blutsaugenden Bänkern oder ähnlichem die Rede ist. Strukturell, weil sich die Argumentationsformen kaum verändert haben, sondern lediglich Chiffren eingesetzt wurden für diejenigen, die eigentlich damit gemeint sind beziehungsweise gegen die sich in gesellschaftlichen und ökonomischen Krisen zielsicher der Zorn entlädt. Beispielsweise waren die Occupy-Proteste von 2011 immer wieder von antisemitischen Schuldzuweisungen begleitet, entweder in mehr oder minder explizit antisemitischen Transparenten und Sprechchören oder aber strukturell in der Rede von den 99 Prozent der Bevölkerung die dem

Demonstrierende der Bewegung "Occupy Wall Street" (© picture-alliance)

reichsten 1 Prozent gegenüberstünden. Der eigene Anteil, den die imaginierte Gemeinschaft der Nicht-Besitzenden an der Reproduktion des Kapitalismus hat, kann damit nicht reflektiert werden. Nicht der Kapitalismus wird hier kritisiert, sondern die Kapitalisten – was schließlich anschlussfähig an antisemitische Personalisierungen ist. Die Aufspaltung des Kapitalismus folgt meist dem Schema, auf der eigenen Seite der Dichotomie das Erdverbundene, Konkrete, Natürliche und Handfeste zu verorten. Auf der anderen Seite steht das Wurzellose, Abstrakte, Künstliche und Ungreifbare, das den Jüdinnen und Juden zugeschrieben wird. In ihren vermeintlichen Eigenschaften spiegeln sich die Eigenschaften des Kapitals.

Antiimperialismus

Eine ähnliches Muster der Komplexitätsreduktion findet sich in der Deutung internationaler Konflikte, die innerhalb des politischen linken Spektrums häufig innerhalb eines antiimperialistischen Interpretationsrasters stattfindet. Interner Link: Antiimperialismus beruht maßgeblich auf dem Paradigma nationaler Selbstbestimmung, wonach die gegen ihre (kolonialistische) Ausbeutung und um ihre nationale Befreiung kämpfenden Völker über ihr je eigenes Geschick verfügen mögen. Kritisiert werden hier vor allem globale Interventionen mächtiger Staaten, denen dann häufig die vermeintliche Ursprünglichkeit autochthoner Gemeinschaften entgegengestellt wird. Für die bundesdeutsche Linke haben diese Konflikte vielmals die Funktion von Stellvertreterkämpfen gehabt. Während die revolutionäre Umwälzung im eigenen Land in weite Ferne gerückt war, das revolutionäre Subjekt auf sich warten ließ, hat sich die Hoffnung auf "Befreiungsbewegungen" im Trikont wie auch auf die Kurden oder Palästinenser verschoben. So wichtig die Erlangung nationaler Souveränität beim Kampf gegen Unterdrückung auch gewesen ist und immer noch sein kann, so einseitig ist doch vielmals die antiimperialistische Interpretation der Konfliktursachen. Zumeist wird hier ein Manichäismus bedient, nachdem allein die USA und Israel für kriegerische Auseinandersetzungen verantwortlich gemacht werden. Israel gilt dabei häufig als "Brückenkopf" eines US-amerikanischen Imperialismus im Nahen Osten oder umgekehrt, die USA als von israelischen, sprich jüdischen Interessen gelenkt. Die USA und Israel werden als "künstliche" Gesellschaften den "natürlichen" Gemeinschaften gegenübergestellt, wobei letztere damit einerseits unkritisch affirmiert und andererseits als vorpolitische Einheiten ohne innere Widersprüche bevormundet wird.

Insbesondere im Verhältnis zu Israel brechen sich in Teilen der politischen Linken immer wieder antisemitische Ressentiments Bahn. Gab es vor 1967 noch einige Sympathien mit dem Staat der Shoah-Überlebenden, der zudem in den Kibbuzim sozialistische Formen des Zusammenlebens erprobten, änderte sich das mit dem Interner Link: Sechstagekrieg. Israel dabei zuzusehen, seiner eigenen Vernichtung zu trotzen, hat offenbar etwas in der Wahrnehmung verschoben: Im antiimperialistischen Interpretationsraster wurde der Staat nun aufseiten des Imperialismus verortet und Partei für die Palästinenser:innen ergriffen. Dabei wird in der sogenannten Palästinasolidarität zumeist über die Verfehlungen und Verbrechen der palästinensischen Führung hinweggesehen, wenn diese nicht sogar gutgeheißen werden, und sämtliche Schuld für den Konflikt Israel angelastet. Der derzeit wohl wirkmächtigste Ausdruck dieser Tendenz in Bewegungen der politischen Linken ist Externer Link: die antiisraelische BDS-Kampagne. Mittels Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen vor allem der israelischen Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, soll Israel zu Konzessionen gegenüber den Palästinenser:innen gezwungen werden, wobei der Forderungskatalog von BDS auf eine Abschaffung des jüdischen Staates hinausläuft. Es wird dort beispielsweise gefordert, sämtliche Sicherheitsvorkehrungen an den Grenzen zwischen Israel und Palästina abzumontieren und dabei ignoriert, dass diese Maßnahmen im Zuge der Interner Link: zweiten Intifada ergriffen wurden, als die Interner Link: Hamas dazu aufrief, israelische Zivilist:innen zu ermorden. Ohne die Sicherheitschecks und Zäune könnte man sich in Israel in kein Café und keinen Bus setzen, ohne Angst haben zu müssen, dort ermordet zu werden. Auch fordert BDS das sogenannte Rückkehrrecht Interner Link: der 1948 vertriebenen oder geflohenen Palästinenser:innen. Weltweit einmalig wird den Nachkommen männlicher palästinensischer Flüchtlinge der Flüchtlingsstatus zugesprochen, sodass die Anzahl der "Geflüchteten" auf nunmehr etwa fünf Millionen angestiegen ist. Die Forderung all diese Menschen aufzunehmen, denen in ihren arabischen Aufnahmeländern zumeist die Bürgerrechte verwehrt bleiben, damit sie als politischer Faustpfand gegenüber Israel dienen können, wird ein kleines Land wie Israel niemals nachkommen können. Da der wirtschaftliche Druck bisher keinerlei Erfolg gezeitigt hat, verschob sich der Fokus von BDS auf den kulturellen und politischen Boykott, bei dem viel aufsehenerregendere Ergebnisse erzielt werden konnten. Externer Link: Eine Reihe prominenter Künstler:innen unterstützt BDS und versucht jeden Austausch mit Israel mithilfe ihrer öffentlichen Autorität zu unterbinden. An der Lage der Palästinenser:innen hat sich dadurch bisher nichts verändert, ganz im Gegenteil, werden dadurch Dialogprojekte zwischen Palästinenser:innen und Israelis sabotiert.

Besonders beliebt ist BDS in akademischen Kreisen der Geistes- und Humanwissenschaften. Viele einflussreiche Theoretiker:innen insbesondere der postkolonialen und quer-feministischen Wissenschaften unterstützen BDS: So sensibel hier auch gegen die unterschiedlichen Formen von Diskriminierungen und deren Überschneidungen gearbeitet wird, Antisemitismus scheint

(© picture-alliance/AP)

dabei selten berücksichtigt zu werden. Die Problemkonstellation von Antisemitismus in queerfeministischen und postkolonialen Szenen wird besonders augenfällig in den Bündnispolitiken: So war etwa die palästinensische Terroristin Rasmeah Odeh, die 1969 mit einem Sprengstoffanschlag zwei junge Israelis tötete und neun weitere verletzte, Mitorganisatorin des US-weiten Streiks zum Weltfrauenkampftag 2017. Auch beim women‘s march on Washington war mit Linda Sarsour eine Organisatorin beteiligt, die – wenn sie schon niemanden selbst umgebracht hat – zumindest Sympathien für Muhammad Allan, einem Mitglied des Islamic Interner Link: Jihad hegt. Den leichtfertigen Schulterschluss mit Apologeten der Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden findet sich in ähnlichen aktivistischen Zusammenhängen zuhauf, von den queers for palestine über den rabiaten Antizionismus der queertheoretischen Ikone Judith Butlers, welche einst die Hamas als Teil der globalen Linken bezeichnete. Einerseits scheint es als sei das begriffliche Instrumentarium, dessen man sich in diesen Wissenschaftstraditionen bedient, schlecht geeignet, Antisemitismus zu verstehen, andererseits erhält sich im Aktivismus ein antiimperialistisches Erbe, das Israel zum rassistischen Kolonialstaat dämonisieren will.

Vergangenheitspolitik

Das dritte Feld – die Externer Link: Erinnerungspolitik – scheint vielleicht zunächst wenig naheliegend für die Diskussion über Antisemitismus innerhalb der politischen Linken: Ist es doch in vielerlei Hinsicht maßgeblich der Kritik der Linken zu verdanken, dass der Mantel des Schweigens über die Shoah in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit zumindest teilweise gelüftet und der breite Konsens, von alldem nichts gewusst zu haben, Risse bekam. Empirisch lässt sich eine gesamtgesellschaftliche Konfrontation der 68er mit der Elterngeneration allerdings kaum belegen: Auch hier herrschte oftmals Schweigen, die Dethematisierung, in den Familien vor. Der Historiker Götz Aly geht in seiner einflussreichen Schrift mit dem unglücklich gewählten polemischen Titel Unser Kampf sogar davon aus, dass eine größere Auseinandersetzung mit dem Externer Link: Nationalsozialismus eigentlich Anfang bis Mitte der 1960er Jahre einsetzte, etwa durch den Interner Link: Frankfurter Auschwitz-Prozess, die dann von der Externer Link: 68er-Bewegung weniger aufgegriffen als unterbrochen wurde. Als Interner Link: Rudi Dutschke einmal gefragt wurde, ob es nicht an der Zeit sei, sich nicht immer nur über imperialistische Gewalt in Afrika und Vietnam zu ereifern, antwortete der Vertreter des Interner Link: Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS): "Wenn wir das anfangen, verlieren wir unsere ganze Kraft. Eine solche Kampagne ist von unserer Generation nicht zu verkraften, aus dieser Geschichte kommen wir nicht wieder raus. Man kann nicht gleichzeitig den Judenmord aufarbeiten und die Revolution machen. Wir müssen erst einmal was Positives gegen diese Vergangenheit setzen.“ Auch sein Wegbegleiter Bernd Rabehl, der später seine Wendung zur Interner Link: völkischen Rechten offen vollzog, sprach sich gegen eine Thematisierung des Nationalsozialismus im SDS aus und sprach davon, die marxistische Linke müsse den Nationalismus besetzen. Das Buch Alys verursachte eine nachhaltige Verunsicherung der These einer umgreifenden Konfrontation mit den Eltern ab. Phänomene wie etwa der Hass auf Israel, welcher in der politischen Linken nach dem Sechstagekrieg allmählich hervorbrach, sind tatsächlich erklärungsbedürftig. Aus der Perspektive psychodynamischer Gefühlserbschaften lässt sich dieser Hass verstehen als die versuchte Konservierung eines unbeschädigten Elternobjektes, etwa indem dem jüdischen Staat eben jene Verbrechen zugeschrieben werden, welche die eigene Familie begangen hatte. In den ständigen Vergleichen Israels mit dem Nationalsozialismus drückt sich offenbar das Bedürfnis nach Schuldabwehr durch eine Täter-Opfer-Umkehr aus. Gleichzeitig war die Opposition der Protestbewegung zur Generation der Täter:innen essentiell für ihr Selbstverständnis, wodurch man sich nicht selten von Rassismus und Antisemitismus gefeit wähnte. Die Behauptung, sich aus dem generationalen Zusammenhang gelöst, das Band zu den Eltern gekappt zu haben, verstellte den Blick auf eigene Verstrickungen in die antisemitische Ideologie, was eine kritischen Reflexion erschwerte. Vermeintlich unbelastet von deutscher Schuld blieb die Reproduktion von Antisemitismus vielmals unbemerkt: Man glaubte objektiver beispielsweise über die Politik Israels oder jüdische Immobilienhändler urteilen zu können als die schuldbelastete Elterngeneration und reproduzierte dabei doch nur deren transgenerational weitergegebene Ressentiments.

Hinzu kommt, was Interner Link: Ulrike Jureit und Christian Schneider "opferidentifiziertes Gedenken" genannt haben. Verkürzt gesagt, setzen sich dabei nicht-jüdische Deutsche selbst anstelle der Opfer der Shoah. Nicht die solidarische Haltung gegenüber den Verfolgten und ihren Nachkommen steht im Vordergrund, sondern ein positives Selbstbild zu erlangen. Ein gravierendes Beispiel jüngerer Geschichte lieferte dafür das Zentrum für politische Schönheit, die vergangenes Jahr in einer plakativen Aktion angeblich die Asche ermordeter Jüdinnen und Juden in einer Gedenksäule vor dem Reichstagsgebäude präsentierten. Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München, nannte die Aktion "geschmacklos, taktlos und pietätlos". Solche rücksichtslosen Formen der Erinnerungskultur, die sich wenig um Wünsche der Jüdinnen und Juden kümmern, sind ein alltägliches Phänomen.

Antisemitismus als Bindeglied ins rechtsextreme Milieu

Antisemitismus bringt unterschiedliche politische Lager zusammen: Als 2014 der Konflikt zwischen Israel und der islamistischen Hamas sich zuspitzte waren auf deutschen Straßen "propalästinensische" Demonstrationen zu sehen, bei denen Neonazis, Islamisten und gelegentlich auch linke Gruppen mitliefen – auf den Hass gegen Israel konnte man sich offenbar einigen. Auch in den "Montagsmahnwachen für den Frieden", die im selben Jahr in bis zu 80 Städten gleichzeitig stattfanden, fungierte das antisemitische Ressentiment als Brücke. Als offene Foren boten sie allerlei antisemitischen Verschwörungstheorien eine Bühne, wonach eine geheime Clique die Welt regiere, und versuchten damit, die Grenzen zwischen linker und rechter Politik zu verwischen. Die Kritik von Antisemitismus im linken politischen Spektrum ist notwendig, um sich derlei Vereinnahmungstendenzen erwehren zu können. Wo man dieser Ideologie nachgibt, etwa indem man personalisierende Kapitalismuskritik mit einem Wohlfahrtschauvinismus vermengt und Solidarität wie bei Externer Link: Sarah Wagenknechts #aufstehen-Bewegung 2018 im nationalen Rahmen verbleiben soll, wird die Abgrenzung zur völkischen Rechten unglaubwürdig. Es scheint jedoch wenig zielführend, die Kritik an linkem Antisemitismus entlang des Interner Link: extremismustheoretischen Paradigmas zu denken, mit dem die Unterschiede zwischen linken und rechten Bewegungen eingeebnet werden. Im Unterschied zur völkischen Rechten oder auch Nationalkonservativen wird innerhalb der radikalen Linken über Antisemitismus gestritten. Auf diese Auseinandersetzungen kann aufbauen, wer dem Phänomen mit politischer Bildung begegnen will.

Weitere Inhalte

Tom David Uhlig (M.Sc. Psychologie) ist Mitarbeiter der Bildungsstätte Anne Frank und Mitherausgeber der Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie "Freie Assoziation“ wie der "Psychologie & Gesellschaftskritik“. Gemeinsam mit Eva Berendsen und Katharina Rhein veröffentlichte er 2019 "Extrem unbrauchbar. Über Gleichsetzungen von links und rechts“ (Verbrecher Verlag, Edition Bildungsstätte Anne Frank).