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Ethnische Minderheiten | China | bpb.de

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Ethnische Minderheiten

Prof. Dr. Thomas Heberer Thomas Heberer

/ 11 Minuten zu lesen

Die chinesische Gesellschaft ist auf den ersten Blick ethnisch sehr homogen. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung werden zu den Han-Chinesen gezählt. Die anderen 10 Prozent stellen die 55 anerkannten nationalen Minderheiten. Ihre Regionen stellen aber zwei Drittel der Gesamtfläche des Landes dar.

Tibetische Mönche stehen auf einer Straße oberhalb des Dongzhuling-Klosters, im Südwesten der chinesischen Provinz Yunnan, in den Bergen. (© AP)

Die chinesische Gesellschaft ist auf den ersten Blick ethnisch sehr homogen. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung werden zu den Han-Chinesen gezählt. Darüber hinaus gibt es nach offizieller Zählung 55 nationale Minderheiten. Sie machten laut der Volkszählung des Jahres 2000 mit 106 Millionen Menschen zwar nur 8,4 Prozent der Bevölkerung aus, aber die von ihnen bewohnten "autonomen" Regionen umfassen nahezu zwei Drittel der Gesamtfläche des Landes. Vielfach bilden allerdings die Chinesen, die sich selbst als Han bezeichnen, auch dort die Bevölkerungsmehrheit.

Allerdings muss die Homogenität dieser Han in Frage gestellt werden. Sie sind Ergebnis der Vermischung unterschiedlicher Völker im Laufe der Geschichte; dazu zählen auch Gruppen, die erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Sprache, der Kleidung, der Sitten und Bräuche oder der Lebensweise aufweisen wie beispielsweise die Hakka, die Kantonesen und die Bewohner von Fujian.

Auf Grund einer 2000-jährigen weitgehenden Kontinuität der chinesischen Zentralgewalt und Kultur prägen traditionale Vorstellungen bis heute die Verhaltensweisen gegenüber den nichtchinesischen Völkern. Das kaiserliche China verstand sich als kultureller Mittelpunkt der Welt. Die Ackerbau treibenden Han verachteten bereits in früher Zeit die sie umgebenden Nomaden- und Jägervölker, die ihnen kulturell und technologisch unterlegen waren.
Der Konfuzianismus, die staatstragende Ideologie über die Jahrhunderte hinweg, bildete das ideologische Fundament der Verachtung der "Barbaren". Gleichwohl war der Konfuzianismus nicht auf die Vernichtung dieser Völker aus, sondern verlangte ihre Unterordnung unter den Kaiser sowie die Einordnung in das Gesamtgefüge des chinesischen Reiches. Der Sinologe Wolfgang Franke schrieb: "Auch ein Barbar konnte chinesischer Kaiser werden, aber nur durch das Sicheinfügen in das chinesische System und durch weitgehende Aufgabe seiner Eigenart". Dem Konfuzianismus fehlte der missionarische Aktivismus, der das europäische Christentum auszeichnete. Er bot eine gewisse Akzeptanz anderer Kulturen, auch wenn diese Akzeptanz nicht mit dem Gedanken der Gleichheit oder Gleichberechtigung verbunden war.
In der chinesischen Nationalitätenpolitik werden Eigenarten wie Sprache, Schrift und Brauchtum zum Teil durchaus toleriert oder gefördert. Bei Geburtenplanung und Zugang zu höherer Bildung gibt es Sonderquoten für Angehörige ethnischer Minderheiten. Die Assimilation erfolgt vielmehr auf "konfuzianischem" Weg: über die Massenansiedlung von Han-Chinesen, die Durchdringung mit han-chinesischer Bildung und Kultur, die Einbindung in die von Han dominierten Partei- und Staatsstrukturen, das Verbot von "ungesunden" Sitten und Bräuchen, die nicht der Moral der Han entsprechen, Eingriffe in Religion, "Modernisierung" und Angleichung.

Zentrale Konfliktfelder

Gegenwärtig lassen sich vier zentrale Konfliktfelder unterscheiden:

Politische Konflikte

Sie haben sich vor allem um das Fehlen echter Autonomie gebildet: Autonome Gebiete werden in der VR China nach den Prinzipien Territorium und Nationalität(en) definiert. Sie genießen bestimmte Sonderrechte, werden aber von der Zentrale streng kontrolliert.
Die chinesische Nationalitätenpolitik nach 1949 wies aber durchaus auch destruktive Momente auf. Im Rahmen einer forcierten Assimilationspolitik wurden unter Mao ethnische Minderheiten gezielt verfolgt und diskriminiert: So wurden während der Kulturrevolution die Schriften sowie das Brauchtum vieler Minderheiten verboten, und in den Schulen durfte nur noch Chinesisch gesprochen werden. Moscheen und buddhistische Tempel wurden geschlossen und religiöse Würdenträger ebenso wie Gläubige verfolgt.

Zu Beginn der 1980er Jahre sah sich die chinesische Führung aufgrund der Unzufriedenheit in den Gebieten der Nicht-Han-Völker und im Interesse der wirtschaftlichen Erschließung und "Modernisierung" dieser Regionen zu einer moderateren Politik gezwungen. Die Verfassung von 1982 wertete die Minoritäten entsprechend auf, und ein "Autonomiegesetz" von 1984 gestand ihnen formell die am weitesten reichenden Freiheiten seit Gründung der Volksrepublik zu. Die autonomen Regionen erhielten erweiterte Rechte für die Wirtschaftsentwicklung, für den Schutz und die Verwaltung ihrer Ressourcen, im Außenhandel, Bildungswesen und im kulturellen Bereich. Ferner gibt es schriftlich fixierte sowie prozentual festgelegte Vertretungsrechte für die ethnischen Minoritäten in den Parlamenten (Volkskongressen) aller Ebenen.
Trotz dieser rechtlichen Aufwertung der ethnischen Minderheiten existiert keine echte Autonomie. Erstens ist die Partei (gerade auch mit ihren Organisationen in den Autonomiegebieten) den autonomen Verwaltungsinstitutionen übergeordnet. Zweitens handelt es sich bei der Verfassung und dem Autonomiegesetz um "weiche" Gesetze, weil es aufgrund mangelnder Rechtssicherheit, fehlender Verfassungs- und Verwaltungsgerichte und der Überordnung der Partei über das Recht keine Instrumente zur Durchsetzung dieser Bestimmungen gibt. Drittens sieht das Autonomiegesetz in wichtigen Fragen keine Mitspracherechte vor.

Ökonomische Konflikte

Da ein Großteil der Minderheitengebiete zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Gebieten zählt, sind die Voraussetzungen für eine Selbstverwaltung erschwert. Seit Gründung der Volksrepublik China sind beachtliche Subventionen in diese Gebiete geflossen, aber weitgehend für Projekte, die für die lokalen und regionalen Bedingungen nicht angemessen oder aber ausschließlich im Interesse der Han-Gebiete waren (Erschließung von Rohstoffquellen für die Industrie Ostchinas). 80 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze lebten Ende der 1990er Jahre in Minderheitengebieten. Trotz aller Wachstumsraten auch für die autonomen Gebiete haben sich die Entwicklungsunterschiede zwischen den Siedlungsgebieten ethnischer Minderheiten und den Han-Gebieten im Verlauf der Reformära vergrößert.

Kulturelle Konflikte

Unzufriedenheit mit politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen verstärkt sich durch Eingriffe in Sitten, Brauchtum und religiöse Glaubensvorstellungen. Das Kernproblem der Kulturpolitik Chinas ist die Unterscheidung zwischen einem "gesunden" und "ungesunden" Brauchtum seit den 1950er Jahren. "Ungesundes" soll beseitigt oder reformiert, "Gesundes" bewahrt werden. Da nie eine eindeutige Definition für "gesund" oder "ungesund" gegeben wurde, waren und sind immer wieder willkürliche Eingriffe möglich. So gilt etwa das Opfern von Großvieh für die Ahnen bei Trauerfeiern oder Hochzeiten als Verschwendung, Schamanen galten lange Zeit als Betrüger, Liederfeste wurden abgeschafft, weil sie "die Produktion" störten oder "obszöne Texte" gesungen würden.

Soziale Konflikte

Durch die soziale und räumliche Mobilisierung wandern verstärkt Chinesen in Minderheitengebiete, um ohne Rücksicht auf die lokale Bevölkerung Wälder abzuholzen, nach Edelmetallen zu schürfen oder Kohle abzubauen. Gleichzeitig wandern Fachkräfte (Techniker, Wissenschaftler, Ärzte, Lehrer) in die prosperierenden Küstengebiete ab. Das hohe Maß an Korruption (die vielfach den Han und ihrer Partei, der KPCh, angelastet wird) oder Straftaten von kriminellen Han wie Entführungen einheimischer Mädchen, die als Prostituierte ins Ausland verschleppt oder als Ehefrauen an Han-Bauern verkauft werden, sowie Betrug und Übervorteilung durch Han-Händler verstärken die Unzufriedenheit in den Minderheitengebieten.
Ein wichtiges Moment der Unzufriedenheit ist die steigende Arbeitslosigkeit in den Minoritätengebieten. Han werden in den Staatsbetrieben bevorzugt eingestellt. Dies geschieht mit dem Argument, Minoritätenangehörige besäßen ein niedriges Bildungsniveau, seien faul oder arbeitsunwillig und sprächen wie verstünden nur schlecht Chinesisch. Beschäftigte, die einer ethnischen Minorität angehören, werden oftmals schlechter bezahlt, verrichten minderwertige Tätigkeiten und besitzen geringere Fortbildungschancen als Han. Die Kreditvoraussetzungen für Betriebe in Minderheitengebieten und für private Unternehmer, die einer ethnischen Minderheit angehören, sind erheblich strenger als für andere.

Die Einführung marktwirtschaftlicher Strukturen begünstigt zugleich die Vermarktung und Kommerzialisierung der Minoritäten-Kulturen. Dies gilt etwa für die "Nationalitätendörfer", in denen eine künstliche Exotik für Touristen produziert wird. Bestattungsbräuche wie die tibetische Himmelsbestattung werden ohne Rücksprache mit den Betroffenen zu hohen Preisen Touristen zugänglich gemacht; angebliche "perverse" Sexualpraktiken werden literarisch oder journalistisch vermarktet; Jugendhäuser, in denen sich Jugendliche zu freier Liebe treffen, werden Han-Touristen in Form von Prostitution als "Besuchsprogramm" angeboten; wichtige Kulturstätten werden als "Erschließungszonen" einfach zu Touristenattraktionen ausgebaut.
Modernisierungsprozesse und sozialer Wandel erzeugen ein Gefühl unterschwelliger Bedrohung, weil die damit verbundene Zuwanderung von Han, die Abwanderung von Angehörigen der eigenen Ethnie, die industrielle Erschließung der Minderheitengebiete sowie der Niedergang der eigenen Kultur (Geringschätzung von eigenen Trachten, Bräuchen und Sprachen vor allem unter der Jugend) die Einheit und Befindlichkeit der einzelnen Ethnien schwächt. Auch das im Jahr 2000 in Gang gesetzte Go-West-Programm, mit dem der Westteil Chinas – in dem der Großteil der ethnischen Minoritäten lebt - erschlossen werden soll, hat diese Bedrohungsgefühle noch weiter geschürt.

Reaktion der Betroffenen

Die ethnischen Minderheiten reagieren unterschiedlich auf diese Herausforderungen. Bei einigen Gruppen wächst das Selbstbewusstsein eigener ethnischer Identität. Bei Teilen schlägt Ethnizität in Widerstand um, bis hin zum Entstehen separatistischer Bewegungen. Vor allem bei einigen kleineren Nationalitäten hat sich eine Tendenz zur Resignation und Anpassung an die Han entwickelt.
Die kleinen nordostchinesischen Jägervölker (Ewenken, Oroqen, Dahuren, Hezhe) hat der von den Behörden erzwungene Wandel nahezu aufgerieben. Sie sollten ihr Nomadenleben aufgeben und Ackerbau betreiben. Das Verbot schamanistischer und animistischer Rituale und Praktiken zerstörte ihr Brauchtum. Wie die anderen indigenen Völker weltweit werden diese Gruppen durch Alkoholismus, Selbstmorde und Krankheiten dezimiert. Allgemein lassen sich sieben Hauptformen ausmachen, mit denen Nicht-Han-Völker auf die genannten Konfliktpunkte reagieren. Sie sollen an einigen Beispielen vorgestellt werden:

  • Separatistische Strömungen: Bewegungen, die für eine gewaltsame Loslösung von China eintreten, finden wir in Xinjiang, wo rund ein Dutzend Gruppen unter pantürkischen oder panislamischen Vorzeichen für einen eigenen Staat kämpfen, in Tibet und - in geringerem Umfang - in der Inneren Mongolei.

  • Aktiver lokaler Widerstand: Offene Proteste führen immer wieder zu lokalen Unruhen. Sie richten sich gegen die Schließung von Moscheen, Tempeln oder Kirchen oder gegen die Umwandlung von Weide- in Ackerland, das Abholzen von Forstgebieten, Umweltverschmutzung und ökologische Zerstörungen durch Unternehmen von außerhalb des Siedlungsgebietes ("Han-Unternehmen"), Verletzungen von Brauchtum und Tabus lokaler ethnischer Gruppen, Eingriffe in soziale Belange (wie die versuchte Durchsetzung von Geburtenplanung oder das Verbot von "Verschwendung bei lokalen Festen").

  • Passiver lokaler Widerstand: Dazu zählen etwa die Abwanderung von Familien, Sippen oder sozialen Gruppen in die Berge und Wälder, um ungestörter dem eigenen Lebensrhythmus nachgehen zu können, sowie das Wiederaufleben der traditionellen Kultur (Untergrundmoscheen, islamische Untergrundschulen, Schamanen oder Priester).

  • Revitalisierung von Religion: Das Wiedererstarken der Religion lässt sich nicht nur im Islam und im tibetischen und mongolischen Buddhismus ausmachen, sondern gilt auch für animistische und schamanistische Glaubensvorstellungen. Sekten und chiliastische Bewegungen haben ebenfalls Zulauf. Bei verschiedenen Miao-Gruppen etwa findet die traditionelle Heilserwartung, dass nach einer Zeit der Katastrophe der Miao-König zurückkehren, den Miao das ihnen von den Han weggenommene Land zurückgeben, ihr Leben verbessern und ihnen möglicherweise einen eigenen Staat geben werde, wieder wachsende Verbreitung.

  • Anpassung an das han-chinesische Umfeld: Der Gebrauch der eigenen Sprachen und Schriften nimmt unter den meisten Minderheitenangehörigen ebenso ab wie das Tragen von Trachten. Ausschlaggebend hierfür sind einerseits Modernisierungsprozesse, die zu einer gewissen Angleichung im Alltagsleben führen. Andererseits werden die Schriften, Sprachen und Kulturen der Minderheiten im Bildungssystem als zweitrangig oder rückständig deklariert. Minderheitensprachen werden meist nur in der Grundschule oder der ersten Stufe der Mittelschulen gelehrt, danach ist Chinesisch die einzige Sprache. Wer eine Universität besuchen oder beruflich aufsteigen möchte, benötigt in erster Linie gute Chinesischkenntnisse. Viele Eltern wollen daher nicht mehr, dass ihren Kindern im Bildungssystem die eigene Sprache oder Schrift beigebracht wird. Sie bevorzugen eine eher "chinesische" Ausbildung.

Solange die politische Lage in China relativ stabil bleibt, wird es keine Loslösung von Nationalitäten geben. Zu groß ist die quantitative Überlegenheit der Han-Chinesen. Eine grundlegende Änderung der Nationalitätenpolitik wiederum ist ohne grundlegende Demokratisierung Chinas kaum denkbar.

Sonderfall Tibet

Tibet hatte unter der Qing-Dynastie (bis 1911) die Stellung eines mit China assoziierten Gebietes eingenommen. Peking war für Außenpolitik und Militär zuständig, ansonsten verwaltete sich Tibet selbstständig. Nach dem Sturz der letzten chinesischen Kaiserdynastie 1912 erklärte der damalige Dalai Lama, das religiöse und politische Oberhaupt Tibets, sein Gebiet für unabhängig. Die chinesische Seite erkannte diesen Schritt ebenso wenig an wie die internationale Staatengemeinschaft. Zugleich versäumte es die tibetische Regierung, sich in den folgenden Jahrzehnten durch Teilnahme am internationalen Leben der Staatenwelt und durch Schutzgarantien anderer Mächte politisch abzusichern. Als Peking 1950 Tibet gewaltsam in seinen Staatsverband eingliederte, hatte kein einziger Staat Tibets Unabhängigkeit anerkannt.
Im Mai 1951 zwang die neue kommunistische Führung Chinas Tibet ein Abkommen über "Maßnahmen zur friedlichen Befreiung Tibets" auf. Darin verpflichtete sich Peking, am bestehenden politischen System Tibets nichts zu ändern, zur Einhaltung der Religionsfreiheit, zur Respektierung der Sitten und Gebräuche der Tibeter, zum Schutz der Klöster und Klostereinnahmen sowie zur Pflege der tibetischen Sprache und Schrift. Als mit der Radikalisierung der chinesischen Innenpolitik in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in tibetischen Gebieten die Religionsausübung eingeschränkt, Klosterland enteignet, Klöster geschlossen, Tempel in Lagerhallen umfunktioniert und Mönche zu "körperlicher Arbeit" gezwungen wurden, zudem der Boden der Bauern zwangsweise kollektiviert und die Bevölkerung in "Volkskommunen" zu Zwangsarbeit und politischen Utopievorstellungen verpflichtet wurde, kam es unter der tibetischen Bevölkerung zu Unruhen, die sich 1959 schließlich zu einem Aufstand ausweiteten. Im Gefolge dieses Aufstands, der von chinesischen Truppen blutig niedergeschlagen wurde und allein in Lhasa rund 87 000 Tibeter das Leben gekostet haben soll, floh der Dalai Lama mit mehr als 100 000 Tibetern nach Indien ins Exil.
Nach der Niederschlagung dieses Aufstands verstärkte sich der Zugriff der Chinesen auf Tibet. Zwar wurde 1964 formal ein "Autonomes Gebiet Tibet" gegründet, es blieb allerdings weitgehend rechtlos. Die zwei Jahre später einsetzende Kulturrevolution versuchte, die kulturelle Identität der Tibeter auszulöschen. Zigtausende von Tibetern wanderten in Arbeitslager, nahezu jedwede kulturelle Selbstständigkeit war untersagt. Das Ausmaß an Zerstörung und Unterdrückung in Tibet lässt sich bereits an der Tatsache ablesen, dass 2690 der ursprünglich 2700 Klöster Tibets zerstört wurden. Delegationen, die der Dalai Lama Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre nach Tibet schicken durfte, fanden eine deprimierende Lage vor, die von wirtschaftlicher Armut, kultureller und ökologischer Zerstörung gekennzeichnet war. Die Wiedereingliederung Tibets in den chinesischen Staatsverband lässt sich unter drei Gesichtspunkten interpretieren:

  • Unterschiedlicher Nationsbegriff: China ging und geht von einem anderen Nations- und Staatsbegriff aus als moderne westliche Nationalstaaten. Nach chinesischer Auffassung sind alle Völker, die bis 1911 auf chinesischem Territorium gelebt haben, Teil des gesamten chinesischen Volkes. Damit bezieht sich der in China verwendete Begriff für "Chinesen" (Zhongguoren) auf alle Bewohner auf chinesischem Territorium, unabhängig von der Nationalität. Anders als in Westeuropa, wo im 18. und 19. Jahrhundert relativ einheitliche Nationen Nationalstaaten bildeten (Nationalprinzip als Nationsprinzip), gilt in China das Territorialprinzip als Nationsprinzip. Sun Yatsen, der Gründer der Republik China, schrieb nach der Unabhängigkeitserklärung der Mongolen (die zur Gründung der späteren Mongolischen Volksrepublik führte), die Mongolen seien und blieben Chinesen, auch wenn sie es eine Zeit lang vergessen hätten.
    Von dieser Lesart her scheinen sich hier zwei unterschiedliche Rechtsstandpunkte gegenüberzustehen: Nach den Normen des heute gültigen Völkerrechts handelt es sich um eine Okkupation Tibets, nach chinesischem Rechtsverständnis um die Wiederherstellung legitimer Rechte, die China aufgrund zeitweiliger Schwäche und Zerrissenheit nicht auszuüben vermochte. Von dieser Sichtweise her versuchte die chinesische Führung, diesem Rechtsprinzip wieder Geltung zu verschaffen.

  • Militärstrategische Lage: Zweifellos dürfte auch Tibets militärstrategische Lage eine wichtige Rolle gespielt haben. Mit Tibet verfügte China über eine natürliche Grenze nach Süden hin, ohne die der Südteil Chinas relativ ungeschützt wäre. Diese strategische Bedeutung war für China vor allem unter den Bedingungen des Kalten Krieges entscheidend. Zugleich bildet Tibet eine natürliche Grenze gegenüber dem Rivalen Indien, mit dem China nach wie vor in Grenzstreitigkeiten verwickelt ist und das chinesischer Sichtweise zufolge Hegemonialabsichten in Südasien verfolgt.

  • Ressourcenpotenzial: Als große, menschenleere Region mit einem hohen Ressourcenpotenzial war (und ist) Tibet sowohl rohstoffmäßig, militärtechnisch wie auch als künftiger potenzieller Siedlungsraum interessant. Tibets Loslösung wäre nur im Falle eines extremen Umbruchs in China und mit externer Unterstützung vorstellbar. Von daher erscheinen eher die Forderungen des Dalai Lama realistisch zu sein, der keinen eigenen Staat fordert, sondern eine Ausweitung der Autonomie, die Umwandlung Tibets in eine Friedenszone, den sofortigen Stopp der chinesischen Einwanderung nach Tibet, die Respektierung der grundlegenden Menschenrechte der Tibeter sowie die Wiederherstellung oder den Schutz von Natur und Umwelt vorgeschlagen hat. Ausgehend von der gegenwärtig bestehenden Lage wäre gemäß den Vorstellungen des Dalai Lama eine Entwicklung zu einem mit China assoziierten Staat denkbar, der sich, abgesehen von der Außen- und Militärpolitik, selbst verwalten würde, wie dies bis 1911 der Fall gewesen ist.

Dieser Artikel erschien zuerst in den Informationen zur politischen Bildung (Heft 289).

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Thomas Heberer, geb. 1947, Professor für Politik Ostasiens am Institut für Ostasienwissenschaften und am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte: Politischer und sozialer Wandel in China, die politischen Kulturen Chinas, Fragen der Nationalitätenpolitik sowie verschiedene Aspekte der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung.