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Instrumentalisierte Erinnerung in China | China | bpb.de

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Instrumentalisierte Erinnerung in China

Nicola Spakowski

/ 5 Minuten zu lesen

Wer die Vergangenheit kontrolliert, beherrscht auch die Zukunft. Gemäß diesem Leitsatz interpretiert die KPCh Chinas jüngere Historie. Tabus lenken die Erinnerung.

Geschichte ist in China allgegenwärtig, aber ihre Interpretation unterliegt strenger Kontrolle. Beispielhaft deutlich wurde das 2019, als Regisseur Zhang Yimou seinen Film "Eine Sekunde" (yi miao zhong), der auf der 69. Berlinale gezeigt werden sollte, kurzfristig zurückziehen musste. (© picture-alliance, Kyodo)

In China existiert ein ausgeprägtes Interesse an der Geschichte des Landes, und Geschichte ist allgegenwärtig: in Büchern, Fernsehserien, Kinofilmen, Museen und in der staatlichen Propaganda. Was über Geschichte bekannt ist und wie darüber gedacht wird, liegt dabei in der Hand vieler Akteure: Historikerinnen und Historiker forschen zur Geschichte und lehren sie an den Universitäten, Amateure betreiben unabhängige Recherchen, die sie in privaten Museen, unabhängigen Dokumentarfilmen oder nichtoffiziellen Veröffentlichungen präsentieren, und Kulturschaffende bereiten Geschichte auf spezifische Weise auf, in Autobiographien, Romanen, Filmen usw. Wichtigste Akteurin ist allerdings die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), für die Geschichte eine zentrale Quelle der Herrschaftslegitimation darstellt – welche von nichtstaatlichen Akteuren potenziell unterminiert wird. Wieviel Freiräume jenseits der staatlich propagierten Geschichte bestehen, wie bestimmte Ereignisse zu einem Gesamtnarrativ verflochten werden, das die Herrschaft der KPCh stützt, und welche Kapitel der Geschichte tabuisiert sind, ist zentral für das Verhältnis von Politik und Geschichte.

Insgesamt sind die Freiräume für eine unabhängige Geschichtsforschung und einen historischen Aktivismus "von unten" seit den 1980er Jahren zunächst gewachsen und seit dem Amtsantritt Xi Jinpings 2012/13 wieder deutlich zurückgegangen. Xi warnte seither wiederholt vor "Geschichtsnihilismus", womit er konkret die Verleugnung des Marxismus-Leninismus als Leitideologie sowie der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution und der kommunistischen Herrschaft meint. Diese Warnung spricht er auch mit Blick auf die Geschichte der Sowjetunion aus, deren Untergang, so die Deutung durch die KPCh, unter anderem ein Ergebnis der Leugnung der sozialistischen Geschichte war. Medien, Schulen und Hochschulen werden zunehmend auf das staatlich verordnete Geschichtsnarrativ verpflichtet und vor ausländischer Einflussnahme gewarnt.

Die Geschichte dient der Legitimierung der Partei

Das heute propagierte Geschichtsnarrativ hat seine Wurzeln in der sozialistischen Phase vor 1978, als der Marxismus-Leninismus die ideologische Leitlinie darstellte und das staatlich verordnete Geschichtsbild den Prämissen des Historischen Materialismus folgte: Geschichte als Ergebnis von Klassenwidersprüchen und Klassenkampf. Die Kommunistische Partei, so das unter Mao Zedong propagierte Narrativ, habe den Sieg über Feudalismus und Imperialismus errungen und das chinesische Volk von jeglicher Form der Unterdrückung befreit. Bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Arbeiter, Bauern, Frauen und nationale Minderheiten kommen in diesem linear angelegten und auf die Politikgeschichte zugeschnittenen Narrativ durchaus vor, werden aber dem Paradigma von Unterdrückung und Befreiung untergeordnet. Die kommunistische Revolution ist bis heute ein wichtiger Baustein in der historischen Legitimierung der kommunistischen Herrschaft, wurde aber nach der Niederschlagung der Tiananmen-Bewegung 1989 ergänzt um eine nationalistische Sichtweise, die seither immer größeren Raum einnimmt.

In der heutigen Propaganda gehen Vergangenheit und Zukunft eine enge Verbindung ein. Die Daten der Partei- und Staatsgründung gelten als zentrale Wendepunkte der historischen Entwicklung, ihre Jubiläen als Meilensteine auf Chinas Weg in die Zukunft. So wird die erfolgreiche ökonomische Entwicklung der letzten Dekaden in der Diktion der Partei als Entwicklungssprung hin zu einer "Gesellschaft bescheidenen Wohlstands" bezeichnet, den die KPCh zum hundertjährigen Parteijubiläum im Juli 2021 erreicht sah. Bis zum Jahr 2049, dem hundertjährigen Jubiläum der Staatsgründung, soll China ein entwickeltes Land sein. Auf dem 19. Parteitag 2017 wurden die "Xi Jinping-Ideen zum Sozialismus chinesischer Prägung für eine neue Ära" in das Parteistatut aufgenommen. Xi überhöht seinen eigenen Amtsantritt also zum Beginn eines neuen historischen Kapitels. Immer größeres Gewicht erhalten die historische Entwicklung vor 1949 und die alte Kultur, die unter Mao noch als Grundlage der feudalen Ausbeutung galt. Bereits vor 1989 setzte eine Interner Link: Wiederaufwertung des Konfuzianismus ein und in späteren Dekaden wurden konfuzianische Werte gezielt wiederbelebt.

Gelenktes Gedenken

(© picture-alliance, Xinhua News Agency) (© picture-alliance, Pacific Press) (© picture-alliance, AP Photo) (© AP Photo) (© picture-alliance/AP)

So werden heute beispielsweise "traditionelle Familienwerte" propagiert, und Frauen werden aufgefordert, sich am traditionellen Ideal der "guten Ehefrau und Mutter" zu orientieren. Das heute von der Partei propagierte Geschichtsnarrativ spannt einen großen Bogen von der Vergangenheit in die Zukunft. Es setzt bei der fünftausendjährigen Zivilisationsgeschichte an und führt in den "chinesischen Traum" der "großen Renaissance der chinesischen Nation". Die Phase zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gründung der Volksrepublik stellt in der Sicht der Partei als "Jahrhundert der Demütigung" die unfreiwillige Unterbrechung einer Geschichte nationaler Größe dar. Mit Verweis auf die koloniale Erfahrung und die Besonderheiten Chinas verwahrt sie sich gegen jede Kritik von außen, die als Einmischung in innere Angelegenheiten verurteilt wird. Solche nationalistischen Deutungsangebote und Demonstrationen nationaler Eigenständigkeit werden von Teilen der chinesischen Bevölkerung durchaus begrüßt.

Ausgelöscht: Die Demokratiebewegung findet in der Erinnerung nicht statt

Politisch sensible Themen unterliegen der staatlichen Kontrolle oder sind komplett tabuisiert. Dies gilt besonders für die Parteigeschichte und die dunklen Kapitel der kommunistischen Herrschaft: neben den großen maoistischen Kampagnen ("Großer Sprung nach vorn" und Interner Link: Kulturrevolution) v. a. die Tiananmen-Proteste von 1989 Interner Link: und ihre blutige Niederschlagung am 4. Juni des Jahres. Die KPCh, deren Herrschaft an keinem anderen Zeitpunkt seit 1949 so fundamental herausgefordert wurde, brandmarkte die Bewegung als "konterrevolutionären Aufruhr" und rechtfertigte den Einsatz des Militärs als Maßnahme, die Stabilität zu erhalten. Bis heute setzt sie alles daran, die Erinnerung an die damaligen Ereignisse auszulöschen. In chinesischen Schulbüchern kommt das Ereignis überhaupt nicht oder in nur einem Satz vor, der den wahren Charakter der Bewegung verschleiert und das gewaltsame Ende verschweigt. Die nach 1989 Geborenen haben im Allgemeinen keinerlei Kenntnis von diesem einschneidenden Kapitel der jüngeren Geschichte. Wo immer Begriffe im Internet aufkommen, die sich auf die Bewegung beziehen, setzt die Zensur ein. Im Vorfeld und während der Jahrestage der Niederschlagung der Proteste am 4. Juni wird der Tiananmen-Platz bewacht, und Demokratieaktivistinnen und -aktivisten werden unter Hausarrest gestellt oder vorübergehend aus Peking entfernt, um Proteste zu verhindern. Selbst die "Mütter des Tiananmen", eine Gruppe von Frauen, deren Kinder am 4. Juni 1989 getötet wurden, sind Repressalien ausgesetzt. Sie klagen Gerechtigkeit für die Opfer ein und fordern das Recht, ihre Kinder öffentlich zu betrauern. Der chinesischen Demokratiebewegung sind die damaligen Ereignisse ein wichtiger Bezugspunkt. Für Liu Xiaobo, den 2017 in Haft verstorbenen Dissidenten, stellte die Teilnahme an den Protesten den Beginn seiner Politisierung dar. Er widmete den Friedensnobelpreis, den er 2010 erhielt, den Opfern des Tiananmen. Wurden Aktivitäten zur Erinnerung an die Demonstrationen auf dem chinesischen Festland verhindert, so hatten sie in Interner Link: Hongkong bis vor kurzem Tradition. Das Thema konnte dort lange Zeit offen diskutiert werden. Die Bürgerinnen und Bürger Hongkongs beobachteten die Pekinger Proteste bereits 1989 im Lichte der Tatsache, dass Hongkong in nur wenigen Jahren als "Sonderverwaltungszone" an die Volksrepublik angegliedert würde. Am 21. Mai 1989 gingen über eine Million Hongkongerinnen und Hongkonger auf die Straße, um die Bewegung in Peking zu unterstützen. Vielen der dortigen Aktivistinnen und Aktivisten gelang es nach dem 4. Juni mit Hongkonger Unterstützung, China zu verlassen und in Hongkong oder dem westlichen Ausland Exil zu finden. Seitdem wurden in Hongkong jedes Jahr in der Nacht zum 4. Juni Mahnwachen in Erinnerung an die Interner Link: Protestbewegung abgehalten. Diese erreichten teilweise Teilnehmerzahlen von weit über 100.000. Unter dem Vorwand des Pandemieschutzes wurden sie 2020 und 2021 von der Hongkonger Regierung verboten. Die Organisatoren des Gedenkens werden inzwischen unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz verfolgt.

Denjenigen, die versuchen, die Erinnerung an Tiananmen und die Opfer lebendig zu halten, steht das Gros der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der damaligen Proteste gegenüber, das Stillschweigen wahrt. Sie sind heute Teil der städtischen Mittelschicht Chinas – derjenigen sozialen Gruppe, die materiell am meisten von den Wirtschaftsreformen profitiert hat und sich politisch weitgehend passiv verhält.

Weitere Inhalte

lehrt Sinologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ihr Forschungsinteresse gilt der Geschichte Chinas im 20. und 21. Jahrhundert. Sie befasst sich insbesondere mit sozialhistorischen Fragestellungen, der Geschichte des chinesischen Feminismus sowie Fragen von Vergangenheit und Zukunft im Transformationsprozess Chinas. Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen zählt die Monographie "China seit 1978. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft", Stuttgart: Kohlhammer 2022.