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Chinas IT-Standards sollen in der Welt dominant werden | China | bpb.de

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Chinas IT-Standards sollen in der Welt dominant werden Interview

Jens Damm Randy Kluver

/ 7 Minuten zu lesen

Welche globale Bedeutung wird Chinas IT-Industrie in der Zukunft zukommen? Und wie entwickelt sich das Verhältnis des chinesischen Staates zur eigenen Tech-Branche? Randy Kluver, Medien- und Kommunikationsexperte der Universität Oklahoma, hat darauf ein paar Antworten.

China besitzt eine der fortschrittlichsten Internet-Infrastrukturen der Welt. In der 5G-Technologie ist es anerkanntermaßen führend (© picture-alliance, Xinhua News Agency | Wu Zhizun)

Wie erfolgreich ist Chinas Digitalisierung?

In den letzten Jahren habe ich mich verstärkt mit geopolitischen Fragen im Zusammenhang mit den Neuen Medien befasst. Das heißt, ich versuche die chinesischen Erfahrungen mit der Informationstechnologie aus einer übergeordneten Perspektive zu verstehen.

In den frühen 2000er Jahren, als das Internet in China noch nicht sehr weit verbreitet war, und es eine Reihe von strukturellen Hindernissen gab, war der E-Commerce sehr schwach ausgeprägt. Es wurde allgemein erwartet, dass sich der E-Commerce in China niemals durchsetzen würde. Heute sieht die Situation ganz anders aus. Einige der größten E-Commerce-Unternehmen der Welt sind chinesische Unternehmen, aber es gab sowohl kulturelle als auch politische Hindernisse für die Einführung des Internets.

Ich möchte an die sogenannten "Goldenen Projekte“ erinnern, also eine Reihe von Projekten, mit denen die chinesische Regierung seit 1993 versuchte, die Informationstechnologie zu nutzen, um strukturelle Mängel zu beheben. Bei diesen Projekten ging es vor allem darum, die Regierungsführung und die Steuereintreibung zu verbessern sowie die Korruption zu beseitigen. Insgesamt gesehen, waren diese Projekte äußerst erfolgreich. Aber eines dieser Projekte, das "Golden Shield“ Projekt (eingeführt 1997), wurde ab 2003/06 schließlich zu einem Projekt des chinesischen Ministeriums für Staatssicherheit zur Überwachung und Zensur des Internetverkehrs in China.

Welche Strategie verfolgt die chinesische Regierung im Hinblick auf das Internet?

Am Anfang stellten wir uns im Westen nur zwei Forschungsfragen: "Ist es für China überhaupt möglich, ein stabiles Internet, eine stabile Infrastruktur für neue Medien aufzubauen? Und die zweite Frage war: "Wie wird das Internet kontrolliert?" Es erscheint uns heute so naiv, dass wir wirklich erwartet hatten, dass China nicht in der Lage sein würde, eine solide Infrastruktur zu entwickeln. Als die Aufmerksamkeit vieler im Westen auf Chinas Kontrollbemühungen gerichtet war, wurde übersehen, dass gar nicht so viele Mittel für die Kontrolle ausgegeben wurden, sondern der weitaus größte Teil für den Aufbau der Infrastruktur bestimmt war.

Natürlich gehörte Kontrolle dazu, und sie ist Teil der chinesischen politischen Herrschaftskultur. Schon vor der kommunistischen Ära haben sich die chinesischen Regierungen darauf konzentriert, die politische Kontrolle und die politische Harmonie aufrechtzuerhalten. In der politischen Elitenkultur Chinas ist bis heute der Glaube tief verwurzelt, dass Disharmonie gleichbedeutend mit Chaos ist, und Chaos schlecht sei.

Heute hat China nicht nur eine der fortschrittlichsten Internet-Infrastrukturen der Welt, viele Aspekte seiner modernen Kultur wurden auch um das Internet herum aufgebaut. Es gibt aber inzwischen auf Seiten der Regierung das Gefühl, dass die Unternehmer und der sogenannte Tech-Sektor zu mächtig geworden sind und sich nicht mehr an die "korrekten Vorgehensweisen" halten. Daher versucht der Staat sicherzustellen, dass keine Einzelpersonen, keine Gruppen, keine Industriezweige die Autorität der Kommunistischen Partei herausfordern können.

Jack Ma, Gründer und langjähriger Chef der Alibaba Group, und andere chinesische Unternehmer haben seit Jahren das Ziel, in den USA an die Börse zu gehen. Dadurch erhielten sie enormen Zugang zu westlichen Ressourcen, mit denen sie ihr Geschäft ausbauen könnten, unterlägen aber nicht den Vorschriften der chinesischen Regierung, da das Kapital nicht aus China stammte. Die chinesischen Banken sind sehr politisiert, so dass der Zugang zu westlichem Kapital eine enorme Hilfe für die IT-Unternehmen darstellte. Auch wenn die US-Regierung nicht damit droht, chinesischen Unternehmen den Zugang zum internationalen Markt komplett abzuschneiden, verdeutlicht sie doch, dass sie den Wettbewerbsvorteil Chinas nicht noch weiter ausbauen will. Das bringt den chinesischen Technologiesektor in eine sehr komplizierte Situation, in der er Zugang zu Kapital braucht, um weiter zu wachsen.

2019 spielte Alibaba-Gründer Jack Ma noch im Konzert der ganz Großen - wie beim Talk mit Elon Musk auf der Konferenz zur Künstlichen Intelligenz in Shanghai. Nach seiner ungewöhnlich offenen Kritik am chinesischen Finanzsektor verschwand er im Oktober 2020 für längere Zeit aus der Öffentlichkeit. Chinas Aufsichtsbehörden verschärften seitdem die Regulierung von Internet-Giganten wie Alibaba, Didi, Meituan und Tencent. (© picture-alliance, MAXPPP)

Es gibt ja umfangreiche Berichte darüber, dass verschiedene internationale Börsengänge (beispielsweise von Alibabas Finanzdienstleistungen) ebenso wie von Didi (dem chinesischen Äquivalent zu Uber) nicht gestattet wurden. Selbst Jack Ma, der CEO von Alibaba, der eigentlich omnipräsent im chinesischen Fernsehen und in den sozialen Medien war, ist kaum noch zu sehen. Eine große Anzahl von Online-Anbietern im Erziehungsbereich wurden komplett verboten. Zerschlägt China wirklich seine IT-Industrie, wie in westlichen Medien berichtet wird?

Nein. China versucht lediglich, die Branche zu zügeln und alle daran zu erinnern, wer das Sagen hat. Jack Ma, zum Beispiel, ist ziemlich charismatisch. In den USA würde man sagen, "He is over the top". Er hat ein zu großes Selbstvertrauen gezeigt, und die Führung hat ihn zurechtgestutzt. Zur Strategie der chinesischen Regierung ist folgendes zu sagen: Ich denke, dass Chinas Regierung sich in einem Widerspruch befindet. Einerseits setzt der Staat politische Ziele. Anderseits folgt der Konsumsektor dem Verbraucher und nicht den politischen Erfordernissen. Auch die Belt- and Road Initiative zielt daraufhin, mehr langfristig zu investieren, was positiv ist, da es dem Aufbau der Infrastruktur dient.

Der Umgang mit der IT-Technologie wird am besten durch die App WeChat repräsentiert. Sie ist im Grunde genommen die perfekte App für China. Man nutzt sie nicht nur für die normalen Social-Media-Funktionen, sondern auch für alles andere. Man kann in ein Restaurant gehen und sein Essen damit bezahlen. Stromrechnungen werden damit beglichen. Aber vieles ist in dieser "perfekten" App eben nicht möglich. Wenn man zum Beispiel etwas auf Facebook oder Twitter postet, kann das Hunderttausende von Aufrufen erhalten. WeChat ist dagegen so konzipiert, dass man dies nicht tun kann. WeChat erlaubt, das tägliches Leben mit seinen Freunden und Freundinnen zu teilen, aber nicht mit einem weiten Kreis. Es ist unmöglich, etwas Großes zu organisieren. Ich kann nicht sagen, lasst uns alle am Samstag vor dem Rathaus zusammenkommen.

Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter sind zu globalen Plattformen geworden, aber China hat die vorherrschenden westlichen Plattformen ganz bewusst von einer breiten Nutzung in China ausgeschlossen. Mir erscheint das ein wenig übertrieben. Wir haben jetzt eine neue bipolare Welt wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Aber es ist nicht mehr wirklich die Ideologie, die uns trennt. Auf der einen Seite haben wir die sehr freien und offenen westlichen Social-Media-Anwendungen. Und in China gibt es ein ganz anderes Modell. Und natürlich möchte China, dass dies auch in weiten Teilen der restlichen Welt dominant wird.

Kann das Internet dabei helfen, die Spannungen zwischen den USA und China zu verringern?

Ich erinnere mich an eine Rede von Nicholas Negroponte vom MIT Media Lab aus dem Jahr 1999, in der er sagte, dass unsere Kinder in Zukunft keine Nationen mehr kennen werden. Das Internet würde uns zusammenbringen. Doch diese Harmonisierung ist gescheitert, wir können uns ja noch nicht einmal mit den Menschen in unserem eigenen Land einigen, also nicht einmal auf nationaler Ebene. Die Sozialen Medien haben nichts getan, um uns zu vereinen. Sie haben alles getan, um uns zu fragmentieren und zu spalten. Das gilt für kleine Dörfer bis hin zur geopolitischen Ebene. Wir sprechen auch nicht mehr miteinander, denn die Sozialen Medien haben es uns ermöglicht, nur noch mit Menschen zu kommunizieren, mit denen wir übereinstimmen. China hat sich schon vor zehn Jahren hinter einer Firewall verschanzt und den Prozess der einseitigen Abschottung somit schon früh staatlich eingeleitet.

Wird Chinas Informationstechnik in Zukunft weltweit führend sein?

Auch das chinesische Universitätssystem hat noch große Mängel, und nur im Bereich der Technik sind Chinas Hochschulen Weltklasse. Und die Situation wird nicht besser: Während China früher Partnerschaften mit westlichen Universitäten einging, z. B. für einen Doppelabschluss, ein gemeinsames Master-Programm, das einen Aufenthalt im Westen von fast zwei Jahren voraussetzte, ist das jetzt vorbei. Die chinesische Regierung möchte nun, dass die westlichen Universitäten ihre Abschlüsse vollständig in China anbieten. Chinesische Studierende sollen nicht mehr außerhalb Chinas studieren. Das bedeutet, dass die Ausbildung völlig technisch wird. Es gibt folglich für chinesische Studierende nicht mehr die klassische geisteswissenschaftliche Orientierung, die das Markenzeichen einer westlichen Ausbildung war.

Ich glaube, dass diese übermäßig aggressive Haltung dem Land selbst schaden wird. Zwar lässt sich nicht leugnen, dass China viele seiner akademischen Ziele im technischen Bereich erreicht hat, dennoch glaube ich, dass der Fortschritt an den Universitäten eine Illusion ist. China hat es geschafft, einige Technikbereiche besser darzustellen, als sie sind. Dennoch ist der chinesische Forschungssektor, abgesehen von den fortschrittlichsten Technologien, ziemlich schwach, wenn es um künstliche Intelligenz, Biologie und ähnliche Dinge geht. Sicherlich leisten die chinesischen Forscherinnen und Forscher Dinge, die zur Weltspitze gehören. Aber in den Sozialwissenschaften geschieht gar nichts, weil es immer noch zu viel soziale und politische Kontrollen gibt.

Forscher des Wissenschaftszentrums für Innovation der Uni Hangzhou präsentierten im Dezember 2021 ihren Traum vom Quantencomputer mit einem supraleitenden Chip. (© picture-alliance, Long Wei / Costfoto | Long Wei / Costfoto)

Wie sollte sich der Westen gegenüber China verhalten?

Noch vor zehn Jahren gab es Stimmen, die behaupteten, dass China das nächste Jahrzehnt nicht überstehen würde, dass das Land auseinanderbrechen würde. Doch die meisten Prophezeiungen, die sich auf China beziehen, schlagen fehl. Wir wissen nicht, was passieren wird. Aber um solche Fehlinterpretationen zu überwinden, muss es auf beiden Seiten zu einer Deeskalation kommen. Wenn ich in den USA vor Publikum spreche, erinnere ich die Menschen gern daran, dass sie die Kommunistische Partei vielleicht nicht mögen, aber sich klarmachen sollten, dass diese Organisation mehr Menschen schneller aus der Armut befreit hat, als es je zuvor gelungen ist. Und wenn man sich die wirtschaftliche Entwicklung der letzten vierzig Jahre in China ansieht, ist das einfach unglaublich. Das sollte respektiert werden.

Wir müssen nicht mit der Politik oder den Doktrinen der Kommunistischen Partei einverstanden sein, aber wir müssen zumindest respektieren, was erreicht wurde. Ich meine nicht, dass wir China ermächtigen oder dem Staat ermöglichen sollten, ungebührlichen Einfluss auf seine Nachbarländer auszuüben. Wir dürfen der chinesischen Aggression keinen Vorschub leisten, aber wir müssen ein wenig besser verstehen, was Chinas Ziel ist, was seine Politiker anstreben und warum sie das erreichen wollen. Xi Jinping lässt keine Anzeichen für eine Änderung seiner Doktrin erkennen. Man darf jedoch nicht vergessen, dass es in China immer noch viele Menschen gibt, die eine andere Vision davon haben, was China sein könnte. Und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um diese Art von Vielfalt zu ermöglichen. Wir müssen Bereiche finden, in denen wir mit China übereinstimmen. Wir dürfen das Land nicht weiter verteufeln und ausgrenzen. Trotzdem müssen wir Grenzen setzen, die nicht überschritten werden können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Golden Bridge Project (kommerzielles Internet) -Golden Card Project (Aufbau eines nationalen Kreditkartensystems) -Golden Custom Project (papierloses zentrales Zollerfassungssystem) -Golden Finance Project (Interbankenabrechnungssystem) -Golden Macro Project (Datenaustausch zwischen Behörden) -Golden Shield Project (öffentliche Sicherheit, Zensur) -Golden Tax Project (Informationstechnologie gegen Steuerhinterziehung)

Weitere Inhalte

ist assoziierter Mitarbeiter am European Research Center on Contemporary Taiwan (ERCCT) an der Eberhard Karls Universität Tübingen und Vorstandsmitglied der European Association of Taiwan Studies (EATS e.V.)
E-Mail Link: jens.damm@fu-berlin.de

Randolph (Randy) Kluver ist Stellvertretender Direktor und Dekan der School of Global Studies and Partnerships sowie Professor an der School of Media and Strategic Communication an der Oklahoma State University. Zuvor unterrichtete er an der Jiangxi Normal University (Nanchang, China), der National University of Singapore und der Nanyang Technological University in Singapur. Er ist Autor zahlreicher Publikationen in den Bereichen Neue Medien, Internet in asiatischen Gesellschaften und Internationale Kommunikation. Zudem war er Gründer des Singapore Internet Research Centre an der Nanyang Technological University.