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Sportpolitik und Olympia

Dr. Sven Güldenpfennig Sven Güldenpfennig

/ 17 Minuten zu lesen

Sport ist ein Feld kulturell-schöpferischen Handelns, ein enger Verwandter der Künste. Sportliches Handeln inszeniert dramatische Geschichten. Gerade deshalb ist für die Sportorganisationen politische Zurückhaltung geboten, der Verzicht darauf, sich heroisch in eskalierende tagespolitische Getümmel zu stürzen, wie es manche gern sehen würden.

Aus Anlass des olympischen Fackellaufs schwenken Schulkinder am 18. Juni 2008 olympische und chinesische Flaggen auf dem Volksplatz in Kashgar. Im Hintergrund ist ein Mao Zedong Denkmal zu sehen. (© AP)

In diesem Olympiajahr ist ein uralter Streit in aller Schärfe neu entbrannt: Ist Sport politisch? Sport ist ein Feld kulturell-schöpferischen Handelns, ein enger Verwandter der Künste. Sportliches Handeln inszeniert dramatische Geschichten. In ihnen wirken in einem künstlich entfachten Streit mehrere Parteien, welche sich gegenseitig in ihrem Streben nach Selbstvervollkommnung benötigen, an der Hervorbringung von Sportereignissen als ästhetischen Werken zusammen. Olympische Spiele sind vor allem anderen ein globales Sportereignis, ein sportdominiertes Gesamtkunstwerk und als solches Teil des Weltkulturerbes. Bei einem solchen Blick auf den Eigensinn der Olympischen Spiele ist offensichtlich, dass ihre Sinnstruktur denkbar weit entfernt ist von der Sinnstruktur politischen Handelns.

Darüber hinaus ist der olympische Sport wie jede kulturell-schöpferische Tätigkeit hochgradig verletzlich und reagiert besonders empfindlich auf rücksichtslose Übergriffe politischer Mächte. Deshalb ist für die Sportorganisationen politische Zurückhaltung geboten, der Verzicht darauf, sich heroisch in eskalierende tagespolitische Getümmel zu stürzen, wie es manche gern sehen würden.

Wie weit dabei der autonome kulturelle Eigensinn des Sports respektiert, befolgt, gefördert, zumindest geduldet wird: Das ist die Messlatte zur Beurteilung jeglichen sportlichen, pädagogischen, ökonomischen oder politischen Handelns in diesem Sinnbezirk. Diese Befunde zusammengenommen ergeben die erste These: Der olympische Sport ist nicht politisch.

Ist der olympische Sport politisch?

Die genannte These aber fordert direkt zum Widerspruch heraus. Die Tagespresse ist doch voll von Meldungen über sportpolitische Verwicklungen! Dazu eine kleine Auslese aus der stürmischen Geschichte der Sportpolitik: Als "Mutter" der politischen Instrumentalisierung gelten die Olympischen Spiele von Berlin 1936. NS-Deutschland nutzte sie als Ausrichter zum Aufbau potemkinscher Dörfer. Das Regime stand außenpolitisch bereits Gewehr bei Fuß zur Intervention in den Spanischen Bürgerkrieg. Es lockerte für das Intermezzo der Spiele seine innenpolitischen Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Juden, die politische Opposition, die freie Presse. Dadurch konnte es den Boykott durch andere Länder und den Entzug des Ausrichtungsauftrags durch das Internationale Olympische Komitee (IOC) abwenden. Beides wäre begründet gewesen. Spätestens seit den Nürnberger Rassengesetzen von 1935 verstieß Nazi-Deutschland gegen das Diskriminierungsverbot der olympischen Regeln. Sein Ausschluss aus der olympischen Bewegung wäre so zwingend gewesen wie später der von Südafrika wegen seiner Apartheidpolitik.

1952 in Helsinki nahm die Sowjetunion erstmals an Olympischen Spielen teil. Ihr Fernbleiben wie ihr Erscheinen waren primär nicht sportlich, sondern aus der Staatsräson motiviert. Das Land sah die Chance, dort die vermeintliche Überlegenheit im ideologischen Systemwettbewerb zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu demonstrieren. Dies führte zu einem sportlichen Wettrüsten, das den kulturellen Eigensinn des Sports überdehnte. Es mündete in sportwidrige Manipulationspraktiken wie in permanente politisch motivierte Boykottdrohungen gegen internationale Sportereignisse. Als gelehrige Schülerin folgte die DDR ihrer politischen Vormacht. Bis zu ihrer allgemeinen völkerrechtlichen Anerkennung durch die Aufnahme in die Vereinten Nationen nutzte die den Erfolg ihrer "Diplomaten im Trainingsanzug" zur Durchbrechung ihrer internationalen Isolation. 1968 in Mexico City erstmals mit einer eigenständigen Mannschaft vertreten, begann sie frühzeitig ein Regime systematischer sportsinnwidriger Leistungsmanipulation aufzubauen. Es machte sie zum weltweiten Vorreiter eines staatlich geleiteten Dopingsystems, und das bisherige Duell der sportlichen Weltmächte geriet zu einem Dreikampf. Die Anerkennungsfähigkeit von durchaus sportgerechten Innovationen des Sportfördersystems, welche die DDR in der Trainingsforschung, Trainerausbildung, Talentsuche und -förderung entwickelte, wurde dadurch überlagert und aufgehoben. Bei der Beurteilung des außerordentlichen Sporterfolges der DDR kann der Anteil dieser divergenten Faktoren nicht sauber voneinander getrennt werden, was nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 einen konstruktiv-vertrauensvollen Weg in die Integration der beiden Sportsysteme verhinderte.

Bei den Spielen von München 1972 nahm ein palästinensisches Terrorkommando die israelische Olympiamannschaft als Geisel, um vor der Weltöffentlichkeit auf das Schicksal der Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten aufmerksam zu machen. Die Aktion endete in einem Blutbad. Diese Erfahrung zog ein gewaltiges Anwachsen des Sicherheitsaufwandes bei allen künftigen sportlichen Großereignissen nach sich - was nur schwer mit dem Klima friedlicher kultureller Begegnung vereinbar ist, von dem solche Ereignisse eigentlich geprägt sein sollten. 1980 zwang die US-Administration ihr eigenes Nationales Olympisches Komitee (NOK) sowie die Mehrheit seiner Partnerstaaten zu einem Boykott gegen die Olympischen Spiele von Moskau. Begründet wurde dieser mit der militärischen Intervention des Ausrichterlandes in Afghanistan. Die Antwort der sozialistischen Staatenwelt war ein Gegenboykott der Spiele von Los Angeles 1984. Einziger Effekt war jeweils die Opferung der olympischen Chancen einer ganzen Sportlergeneration.

Die Spiele von Athen 2004 waren der Musterfall für die allgegenwärtige Kluft zwischen olympiapolitischer Rhetorik und Praxis. Als Griechenland für die Ausrichtung der Jahrhundert-Spiele von 1996 Atlanta vorgezogen wurde, reagierte das Land beleidigt und beleidigend. Weil 1896 die ersten Spiele der Neuzeit in Athen stattgefunden hatten, sprach sich die Stadt ein natürliches Vorrecht auf die Ausrichtung der Jubiläumsspiele zu. Dem IOC wurde unterstellt, es habe sich dieses Jubiläum von einem in Atlanta residierenden Weltkonzern abkaufen und die Spiele zu "Coca-Cola-Spielen" verkommen lassen. Athen erhielt seine Chance 2004 - und hat sie nicht nutzen können. Griechenland reklamiert für sich, die kulturhistorische Geburtsstätte und damit zugleich der geborene Garant der olympischen Idee zu sein. Beide Ansprüche halten dem Realitätstest nicht stand.

Über ein Jahrtausend lang, von 776 v Chr. bis 393 n. Chr., fanden die antiken Spiele in Olympia statt. Das Ende wurde ihnen mit einem Edikt von Kaiser Theodosius durch das gerade christlich gewordene, hellenistisch geprägte spätantike Römische Reich bereitet. Also durch einen Staat, der politikgeschichtlich dem heutigen Griechenland näher stand als die griechische Welt der Hochantike. Als 1896 die ersten Spiele der Neuzeit in Athen stattfanden, hatte ihr Begründer Pierre de Coubertin sein Konzept des globalen Zugangs gegen griechischen Widerstand durchsetzen müssen. Griechenland selbst wollte an seiner Idee einer Wiederbelebung von panhellenischen Spielen festhalten. Die Spiele von Athen 2004 wurden nachhaltig überschattet durch Dopingskandale griechischer Athleten und durch befremdliche Reaktionen des griechischen Publikums auf entsprechende Sanktionen des IOC. Jetzt rächte sich, dass man den Sportstandort Griechenland durch jahrelange Nachlässigkeit zu einer der führenden Doping-Hochburgen hatte verkommen lassen. Dort war eine zentrale Botschaft offenbar noch immer nicht angekommen: Verantwortliche Sportpolitik geht nicht in der rhetorischen Beschwörung einer glorreichen Vergangenheit auf, sondern besteht in dem energischen praktischen Engagement für die Gewährleistung eines sinngerechten Sports.

Im laufenden Olympiajahr schließlich hat eine tibetische Protestbewegung die bevorstehenden Spiele von Peking zum Anlass genommen, gegen die Minderheitenpolitik des Ausrichterlandes zu demonstrieren. Die drakonischen Reaktionen der chinesischen Regierung führten zu einer Solidarisierungswelle mit der tibetischen Opposition, die sich in einigen westlichen Ländern in Aktionen gegen den olympischen Fackellauf entlud. In allen Fällen wurden Sportereignisse ohne Rücksicht auf deren autonomen kulturellen Eigensinn zur Durchsetzung allgemeinpolitischer Ziele instrumentalisiert. Diese waren oder sind zwar heterogen und je für sich unterschiedlich legitim. Aber unabhängig davon waren oder sind sie wegen der sportwidrigen Instrumentalisierung des Sportanlasses durchweg verwerflich. Boykotte sind nicht deshalb abzulehnen, weil sie faktisch meist wirkungslos, sondern weil sie prinzipiell als politisches Mittel illegitim sind (es sei denn für die Selbstverteidigung des olympischen Regelwerks). Zusammengenommen, ergeben diese Befunde die zweite These: Der olympische Sport ist politisch. Aber in zahlreichen Fällen in einer illegitimen Weise.

Auch das ist noch nicht das letzte Wort. Denn es wird häufig übersehen, dass sich hier verschiedene Politikkonzepte gegenüberstehen. In den Beispielfällen ging es um politische Stellvertreterkriege bei großen Sportereignissen. Daneben aber gibt es politisches Handeln für den Sport. Schon die Gründung und Stabilisierung der olympischen Bewegung durch de Coubertin seit 1894 erforderte ein hohes Maß an politischer Kunst, die sich bisweilen mit Machiavelli'scher Verschlagenheit, bisweilen mit Schwejk'scher Listigkeit mischte, da die internationale Lage alles andere als günstig war. Nationalistische Hysterie und imperialistische Konkurrenz der Großmächte, am Horizont bereits die Vorzeichen des Ersten Weltkrieges, erschwerten Interesse und Respekt für diese zunächst nur spleenig erscheinende olympische Idee. Zur Gewährleistung ihrer politischen Autonomie gründete de Coubertin als institutionellen Träger sein Internationales Olympisches Komitee, ähnlich wie Henri Dunant das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, auf der Selbstrekrutierung durch ein Kooptationsprinzip. Dies hat zwar seit jeher Anstoß bei den Verfechtern der reinen Demokratielehre hervorgerufen und zahlreiche Korruptionsanfechtungen bei IOC-Mitgliedern zugelassen. Gleichwohl hat es sich letztlich als das kleinere Übel gegenüber einem Delegationsprinzip erwiesen, nach dem jedes Mitgliedsland seine Vertreter in das IOC entsendet, aber so deren olympisches Mandat leicht mit allgemeinpolitischen Interessen kontaminiert.

Politisches Handeln, das auf die praktische Umsetzung des olympischen Eigensinns gerichtet ist, blieb maßgebliche Voraussetzung der weiteren Entwicklung. Dies gilt sowohl für die "innere Diplomatie" zur Durchsetzung von weltweit geltenden Regelwerken in der olympischen Bewegung als auch für die "äußere Diplomatie" zur Schaffung der politisch-rechtlich-ökonomischen Voraussetzungen für eine nachhaltige Gewährleistung der Olympischen Spiele. Zu den sinngerechten politischen Maßnahmen können hier durchaus auch Ausschluss und Boykott gehören. Nämlich dann, wenn Mitwirkende oder Ausrichter der Spiele fundamental gegen das geltende olympische Regelwerk verstoßen und wenn nur durch solche Sanktionen als sportpolitische Ultima Ratio die Geltung dieses Regelwerkes garantiert werden kann. Die dritte These lautet daher: Der olympische Sport ist politisch. Vielfach in einer legitimen, für die Unabhängigkeit, Gestaltung und Zukunftsfähigkeit der olympischen Bewegung unverzichtbaren Weise.

Fünf Ebenen, auf denen Olympische Spiele politisch werden

Es wurde gezeigt, dass die Olympischen Spiele von Beginn an im Fokus der Politik standen. "Die Politik" ist dabei ein Sammelbegriff für unterschiedlichste Arten von politischer Intervention einschließlich deren unterschiedlicher Legtimität. Die gängigen, vermeintlich gegensätzlichen Redensarten "Sport ist politisch" und "Man soll Sport und Politik nicht miteinander vermischen" verwischen diese Unterschiede bis zur Unkenntlichkeit und sind gleichermaßen irreführend. Die maßgeblich beteiligten Ebenen sind nachfolgend aufgeführt.

Erste Ebene: Olympische Spiele sind im Kern ein Sportereignis. Sportliches Handeln ist im Kern kulturelles und nicht direkt politisches Handeln. Es kann durch politische Interventionen in seinen kulturellen Zielen gefördert oder beeinträchtigt werden.

Zweite Ebene: Das IOC trägt gemeinsam mit den Weltfachverbänden und den verschiedenen NOKs sowie dem Organisationskomitee der jeweiligen Ausrichterstadt insoweit politische Verantwortung für das sinngerechte Gelingen der Olympischen Spiele, als es über das dort geltende Regelwerk entscheidet und mit diplomatischen Mitteln unter Einsatz seiner symbolischen Macht die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen zu gewährleisten versucht.

Dritte Ebene: Maßgeblicher Mitakteur der jeweiligen Ausrichterstadt von Olympischen Spielen ist der Staat, dem sie zugehört. Diese Staaten verbinden mit dem Ausrichtungsrecht eigene, ihrer Staatsräson folgende politische Ziele, die mehr oder weniger verträglich sein können mit den Zielen der ersten beiden Ebenen.

Vierte Ebene: Die Olympischen Spiele als eines der größten globalen Kulturereignisse haben von Beginn an die Aufmerksamkeit unterschiedlichster politischer Akteure auf sich gezogen und deren Interesse geweckt, die Spiele in den Dienst eigener außerolympischer politischer Ziele zu stellen. Diese waren selten problemlos mit den olympiaeigenen Zielen vereinbar. Sie haben oft durch den rücksichtslosen Einsatz ihrer Machtmittel die olympische Bewegung in existentielle Krisen gestürzt.

Fünfte Ebene: Sportliches Handeln als kultureller Kern des olympischen Geschehens wird in der Wissenschaft bisweilen als Modell politisch-strategischen Handelns interpretiert. Beispiel für eine beliebte, aber abwegige Methode: Man nimmt einzelne Strukturelemente, die den olympischen Sport mit anderen Sinnfeldern verbinden, und erklärt ihn damit zum idealtypischen Modell für wirtschaftlichen Wettbewerb, moralpädagogische Persönlichkeitsbildung, politische und militärische Strategien, in letzter Abstraktion zur "Mimesis der Gesellschaft". Dabei wird übersehen, dass das Unterscheidende wichtiger ist als die Gemeinsamkeiten. Diese Analogisierungsmethode führt zu dem beliebten Muster "Alles hängt mit allem zusammen", mit dem aber keine gehaltvollen Sinnunterscheidungen zu treffen sind.

Plädoyer für eine Umkehrung der Blickrichtung

In der bisherigen Argumentation steckt implizit ein Plädoyer dafür, die herkömmliche Blickrichtung auf olympiapolitische Probleme umzukehren. Um zu gehaltvollen Einsichten zu kommen, kann die leitende Frage nicht lauten: Wer hatte was mit welchen Zielen mit Olympia vor? Sie muss vielmehr lauten: Was war in Entscheidungssituationen politisch geboten, um das Kulturereignis Olympische Spiele aktuell und dauerhaft sinngerecht gelingen zu lassen? Und was stand dagegen?

Dass diese Blickrichtung sich bisher nicht durchsetzen konnte, lag keineswegs nur daran, dass die Spiele notorisch von außen politisch instrumentalisiert wurden. Die oft irreführende Selbstbeschreibung der olympischen Idee durch ihre eigenen institutionellen Träger hat vielmehr wesentlich dazu beigetragen. Die IOC-Entscheidung für den Olympiaausrichter Peking stand folglich von vornherein in einer selbstverschuldeten Glaubwürdigkeitsfalle. Selbstverschuldet insoweit, als Sportorganisationen seit jeher ihre Ereignisse mit einer ungenauen, überschießenden Rhetorik begründen. Sie erwecken bzw. verstärken dann im konkreten Einzelfall den Eindruck, sie pickten sich aus ihrem buntgemischten rhetorischen Arsenal jeweils opportunistisch dasjenige Argument heraus, welches gerade am besten passt, um dahinterliegende, weniger hehre Motive verbergen zu können. Wichtiges Instrument in diesem Arsenal ist ein undurchsichtiges Spiel mit zwei schon diskutierten Topoi. Entweder: Der Sport lebe nicht auf der Insel der Seligen, er könne sich folglich der Politik nicht entziehen. Oder: Er sei untauglich als Knüppel der Politik und dürfe sich daher nicht mit ihr vermengen. Beide sind zwar irgendwie richtig. Sie sind aber solange untauglich zur überzeugenden Begründung einer sportpolitischen Entscheidung, wie sie nicht präzisiert sind.

Weiterhin wiegt schwer, dass die Sportorganisationen für sich selbst scheinbar unkontroverse allgemeine politische Ziele reklamieren. Dieses "Mehr" aber ist die Lebenslüge der olympischen Bewegung. Es hat ihr zwar jahrzehntelang Pluspunkte bei den kulturellen Eliten eingetragen, die mit "Nur-Sport" nichts anfangen konnten. Aber dieser vermeintliche Mehrwert muss nun, wie jede unseriöse Spekulation, teuer bezahlt werden. So wurde die olympische Idee zum Füllhorn leerer Versprechungen. Es wird jeweils herausgestellt bzw. unter Verschluss gehalten, was gerade passend bzw. unpassend erscheint. Die Institutionen der olympischen Bewegung haben versäumt, rechtzeitig argumentative Daseinsvorsorge zu treffen. Deshalb leben sie in der Begründung ihres Handelns stets von der Hand in den Mund. Die problematischen Seiten des olympiapolitischen Prozesses ergeben sich folglich aus einer Doppelbewegung: politische Instrumentalisierungs- und Übermächtigungsversuche von außerolympischen Mächten bei gleichzeitiger politischer Selbstüberhebung der olympischen Institutionen durch diese selbst.

Der Vorwurf der selbstverschuldeten Glaubwürdigkeitslücke soll an einem Beispiel veranschaulicht werden: Seit jeher wird behauptet, die Olympischen Spiele leisteten substantielle Beiträge zur globalen Friedensförderung durch und über das sportliche Ereignis selbst hinaus. Der damit erhobene Anspruch wird durch jeden ernsthaften Realitätstest widerlegt. Olympische Friedenspolitik über den Schutz des eigenen Ereignisses hinaus ist nach außen hin ein leeres Versprechen. Und zwar nicht als irgendeine Art von Politikversagen. Es kann gar nicht anders sein. Schon bei den internationalen Friedensmissionen der Vereinten Nationen wird zu Recht davor gewarnt, zu viel von zu geringen Mitteln zu erwarten. Der unbeirrbare Glaube an diesen Fetisch beruht auf einem Fehlverständnis der Reichweite der eigenen politischen Handlungsmacht. Der Nimbus von Olympia wurde zwar ursprünglich, und zwar bereits bei den antiken Spielen, in ähnlicher Weise gestiftet wie jener der Kaaba in Mekka: Es wurde zu einem Sakrileg erklärt, den Frieden an diesem heiligen Ort zu brechen. Der olympische Friede, das heißt der Schutz des Ereignisses selbst, war für dessen Dauerhaftigkeit lebenswichtig in einer antiken griechischen Welt, in der die poleis in permanenter selbstzerstörerischer Fehde miteinander lagen. Diese Friedenspflicht am heiligen, heute am profan-kulturellen Ort aber wird überdehnt, ja sogar direkt gefährdet, wenn sie zu einer globalen Friedensmission umgedeutet und ausgeweitet wird.

Die olympische Bewegung ist daher viel weniger Erzeuger als Nutznießer der friedenspolitischen Vorleistungen, die andere Mächte erbringen. Die aktuelle vorolympische Krise zeigt gerade wieder, dass das IOC aus eigener Kraft nicht einmal Frieden im Ausrichterland sowie während des weltweiten olympischen Fackellaufes, also im unmittelbaren Umfeld der Spiele verbürgen kann. Die olympische Friedensrhetorik war zwar am Beginn durch das aufrichtige idealistische Pathos des Gründungsvaters de Coubertin getragen. Aber sie konnte nie konstituierendes Element einer wohlbegründeten olympischen Idee sein.

Doch die Folgerungen aus dieser These zeigen in eine andere Richtung, als man vermuten könnte. Die Tatsache, dass im Olympiajahr ein zum Teil blutiger innenpolitischer Konflikt um Tibet aufgebrochen ist, disqualifiziert die Volksrepublik China noch keineswegs automatisch als Ausrichterland der Spiele. Der Zuschlag für die Ausrichtung wäre völlig missverstanden als Belohnung für politische Mustergültigkeit. Denn ein solches Verständnis würde den Kreis der potentiellen Olympiakandidaten auf eine weltweit winzig kleine Minderheit von politisch gänzlich unbescholtenen und wirtschaftlich hinreichend potenten Staaten einschränken. Ausrichtungsentscheidungen sind vielmehr grundsätzlich Ausdruck eines Kernelements der olympischen Idee: ihre Spiele weltweit wandern und Fuß fassen zu lassen. Freilich innerhalb von politisch-rechtlichen sowie organisatorisch-sicherheitsmäßigen Mindeststandards, welche der Ausrichter zu gewährleisten hat. Aber eben auch nicht mehr als das. Andernfalls würden die Spiele erpressbar durch jede Art von Demagogie, welche das Ereignis für beliebige außersportliche Zwecke als Geisel nehmen möchte. Solche Zwecke mögen für sich genommen legitim sein oder nicht: Olympische Legitimität könnten sie keinesfalls für sich reklamieren. Aber sie könnten jedes olympische Ereignis und damit die Kontinuität des olympischen Geschehens insgesamt paralysieren.

Militärisch ausgedrückt, hat es die olympische Bewegung bis heute versäumt, mit konsistenten Begründungen die weit vorgeschobenen Stellungen zurückzunehmen. Die Argumentation gegen die Boykottrufe des Frühjahrs 2008 klang deshalb so sehr nach verlegener Ausrede, weil eine Frontbegradigung nun eben "im Feuer" der Kritik und nicht in souveräner Vorausschau erfolgte und somit eher einem Rückzugsgefecht glich. Der Sport muss sich keineswegs mehr durch Moralpredigten von innen und außen in eine rhetorische Überdehnung seiner tatsächlichen Wirkungspotentiale drängen lassen. Er ist, systemtheoretisch gesprochen, aus guten Gründen spezialisiert auf die kulturell-ästhetische Funktion, für die er gesellschaftlich ausdifferenziert ist. Es führt zu einer prinzipiellen Fremd- wie Selbstüberforderung, "nebenbei" Funktionen des politischen Systems miterfüllen zu wollen. Gelänge es, bedeutete das nicht mehr und nicht weniger als eine Bankrotterklärung des gewaltigen institutionellen Apparats des globalen politischen Systems. Denn dieses vermag ja trotz gewaltigen Aufwands oft nur minimale Erfolge zu erzielen. Die aktuelle Kritik am IOC wegen dessen Haltung zur Tibet-Frage verwechselt einmal mehr Politik mit einem spontanen Erweckungserlebnis. Politik muss in einem langwierigen Transformationsprozess versuchen, Bedingungen in die erwünschte Richtung zu ändern. Ein Erweckungserlebnis hofft auf die plötzliche Verwandlung eines moralisch verwerflichen Zustandes in einen moralischen. Und dieses Wunder soll ausgerechnet durch eine machtarme Organisation vollbracht werden, welcher plötzlich übermächtige Kräfte wachsen sollen!

Hinter dieser Art von IOC-Kritik steht also ein gleichermaßen einfältiges Sport- wie Politikbild: Der Sport wird als allmächtige Wunscherfüllungsmaschine imaginiert, die Politik als Zauberkunststück. Das bislang dominierende Verständnis von "olympischer Außenpolitik" ist idyllisch und romantisch und pickt sich nur die Rosinen aus dem Kuchen. Es verkündet von den Höhen des Olymp aus diffuse Verheißungen: globalen Frieden, soziale Egalität, physische Gesundheit, moralische Vervollkommnung. Aber es meidet die Mühen der Ebene, der politischen Kärrnerarbeit. Diese aber müsste sich anschließen und könnte erst dadurch jene hehren Ziele praktisch beglaubigen. Weder Sport noch Politik bieten einen solchen Ort des Idylls, in welchem sich alles von selbst zum Besseren wendet. Sie sind vielmehr Orte des harten und beharrlichen Ringens um tragfähige Konfliktlösungen und Orte der Gestaltung einer menschengerechten Zukunft. "Das IOC hätte ...", so war in der Krise des Frühjahrs 2008 ständig zu hören. Dabei wird leicht übersehen, dass es über keinerlei wirksames Instrumentarium zur Umsetzung, ja auch nur zur Beurteilung und Entscheidung dessen, was allgemeinpolitisch richtig ist, verfügt. Und es könnte bei zu weiter Auslegung seines "außenpolitischen" Handlungsspielraums schnell an seine "innenpolitischen" Grenzen stoßen. Denn es müsste beim Olympiaausrichter politische Gegebenheiten attackieren, welche auch bei zahlreichen anderen Mitgliedern der olympischen Bewegung gang und gäbe und durch die olympische Charta gar nicht ausgeschlossen sind. Das IOC könnte also allenfalls durch Willkürentscheidung und Druck kurzfristige potemkinsche Effekte zu erzwingen versuchen. Wer aber will ein solches unwürdiges Spiel nach Berlin 1936 bei heutigen und künftigen Spielen wiederholt sehen?

Gesellschaftliche Mitverantwortung der olympischen Bewegung

Seine gesellschaftliche Mitverantwortung und die für ihn tatsächlich leistbare begrenzte politische Aufgabe übernimmt der Sport vor allem dadurch, dass er sein eigenes Feld sinngerecht und kompetent gestaltet und gegen Gefährdungen von innen und außen verteidigt. Die Generallinie kann künftig nur lauten: An die Begründung und die Durchsetzung der olympischen Ziele nach innen die höchsten Ansprüche stellen und die hergebrachten anmaßenden Ansprüche nach außen auf das Maß des gut Begründbaren zurücknehmen. Andernfalls - und die jüngsten Ereignisse lehren dies erneut - kehren die überzogenen Versprechungen umgehend als implizite oder explizite Forderung zurück: Man möge doch gleich das ganze olympische Projekt abblasen, wenn man denn jene Versprechungen oder Erwartungen auf allgemeine Weltverbesserung nicht einlösen könne. Ein solches destruktives Echo ebenso wie sein hypertrophes Gegenbild eines angeblich allkompetenten Sports verkörpern die zwei Seiten derselben Medaille eines Kulturbanausentums: Werden die Ziele des Projekts zu weit hochgeschraubt, muss ihr Verfehlen im Umkehrschluss ein Aufgeben des Projekts zur Folge haben. Die Welt ist stets in irgendeiner ihrer Regionen unfriedlich. Kulturereignisse wie die Olympischen Spiele können dies nicht verhindern. Sie sind aber auch gar nicht darauf angewiesen, dass zuvor aller globaler Unfriede beigelegt ist. Im Gegenteil: Sie dürfen sich überhaupt nicht von diesen Bedingungen abhängig machen. Andernfalls würden sie aufgrund von deren Unerfüllbarkeit ihr eigenes Ende besiegeln.

In olympiapolitischen Fragen, sollen sie wohlbegründete Antworten in Theorie und Praxis finden, muss sich alles um diese Kernfrage drehen: Der zentrale Sinnimperativ des Sports lautet "to play the game and to play it well". Bedeutet dies aber, dass allgemeinmoralische Grundsätze hier strikter oder weniger strikt einzufordern sind, als in der Sphäre des allgemeinen Rechts und der Allgemeinpolitik? Es gilt, Prinzipien und Kriterien der Urteilsbildung herauszuarbeiten, anhand derer die "Olympiatauglichkeit" eines Ausrichterlandes bewertet werden kann. Man muss ferner nach begründeten Antworten auf die folgende Frage suchen: Kann und muss das IOC als Veranstalter aufgrund der in seiner Charta kodifizierten Normen und Regeln einem Ausrichterland bestimmte Höchststandards der politischen Kultur abverlangen? Oder kann es sich einerseits auf die Mindestanforderungen organisatorisch-administrative Effizienz, Verlässlichkeit, Sicherheit, hinreichende Umweltqualität am Olympiaort und Vorreiterrolle der Olympiamannschaft des Ausrichters im Anti-Doping-Kampf sowie andererseits auf die allgemeine Anerkennung des Ausrichterlandes durch die Staatengemeinschaft beschränken? Die innere Logik der olympischen Idee weist eher in Richtung der zweiten Variante: Für das politische Umfeld von Olympischen Spielen gelten gegenüber den Prinzipien einer elaborierten Staatsphilosophie und Demokratietheorie - so erstrebenswert diese allgemeinpolitisch selbstverständlich sind - nicht höhere, sondern niedrigere Mindeststandards der dort herrschenden politisch-rechtlichen Kultur. Diese Beurteilung mag weder den Kritikern noch den Apologeten des olympischen Projekts sympathisch oder auch nur einleuchtend erscheinen. Aber die verbreitete gegenteilige Auffassung geht auf ein irrtümliches hypermoralisches Bild von Sport zurück. Ein solches ist nicht nur realitätsfremd, insofern es täglich tausendfach Lügen gestraft wird - es ist vor allem schlecht begründet.

Denn das IOC als institutioneller Hauptträger der olympischen Idee folgt - wie übrigens ähnlich auch die Vereinten Nationen und das Internationale Rote Kreuz - einem Primat der Universalität vor der politischen Moralität. Sprich: Die Universalität seines Sachprojekts Olympische Spiele steht vor der Moralität innenpolitischer Systemverhältnisse seiner Mitglieder. Die praktischen Konsequenzen dieser Prioritätensetzung mögen zwar zynisch anmuten. Aber diese internationalen Akteure haben sich mit gleichwohl guten Gründen für dieses Primat entschieden: Um sachlich begrenzte partikulare Projekte - Ernährungsprogramme, Flüchtlingshilfe, Verwundetenhilfe auf Schlachtfeldern, ein Weltsportereignis - weltweit tatsächlich und verlässlich verwirklichen zu können, müssen sie an den meisten darüber hinausgehenden politischen Streitfragen vorsätzlich vorbeisehen. Aus weiser Selbstbeschränkung hat das IOC keine normierenden Aussagen über innenpolitische Systemverhältnisse innerhalb der Mitgliedsstaaten der olympischen Bewegung in seine Charta aufgenommen.

Olympiapolitischer Opportunismus besteht folglich nicht etwa darin, dass das IOC sich nicht zu kritischen Äußerungen vor mächtigen Thronen traut. Er bestünde vielmehr gerade darin, dass es sich durch eine bestimmte weltöffentliche Stimmung zu solchen kritischen Äußerungen drängen ließe, obwohl es zu ihnen durch seine Satzung und das Mandat seiner Mitglieder nicht ermächtigt ist. Es legitimiert damit nicht automatisch undemokratische politische Systeme. Es verhält sich vielmehr neutral dazu. Das IOC muss seinem Ziel, der olympischen Idee weltweit Geltung zu verschaffen, Vorrang einräumen, um es nicht zu verfehlen. Anders als in der Hochzeit der antiolympischen Boykottbewegungen von 1976 bis 1984 scheinen im Jahr 2008 alle staatlichen und olympischen Verantwortungsträger einig, die Spiele nicht durch außerolympische politische Forderungen infrage stellen zu lassen. Aus Sicht der olympischen Idee ist dies als Fortschritt zu werten.

Der Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (Interner Link: APuZ 29-30/2008)

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. phil. habil. Sven Güldenpfennig, geb. 1943, ist Sport- und Kulturwissenschaftler in Aachen; von 1997 bis 2002 war er wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Olympischen Instituts in Berlin.