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Dein Freund, dein Feind? Zur Wahrnehmung der Polizei in der Mediengesellschaft

Tanjev Schultz

/ 13 Minuten zu lesen

Die Polizei steht zunehmend unter Beobachtung. Fehlverhalten wird nicht nur durch Medien, sondern auch durch Bürgerinnen und Bürger transparenter. Dies kann zum Schutz von Grundrechten beitragen, bietet aber zugleich das Risiko einer medialen Verzerrung.

Menschen filmem mit Smartphones und Kameras eingreifende Polizeikräfte bei einer Demonstration gegen die Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2020. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com/Thomas Vonier)

Die Polizei wird immer heftiger herausgefordert, kritisiert und attackiert. So jedenfalls ist der Eindruck vieler Sicherheitsbeamter. Wer sie fragt, ob und wie sich ihr Beruf in den letzten Jahren verändert habe, bekommt häufig Klagen über die Gewalt und Respektlosigkeit zu hören, die ihnen im Polizeialltag entgegenschlage. Die Polizei wird mehr hinterfragt als früher – das erfährt auch, wer sich bei jüngeren Menschen erkundigt. Da sind Jugendliche, die sich über unverhältnismäßige Kontrollen während des Corona-Lockdowns beschweren, und Studierende, die gegen Polizeigewalt und strukturellen Rassismus protestieren.

Als im Mai 2020 das Video eines Polizisten aus den USA um die Welt ging, der sein Knie über neun Minuten lang in den Nacken des 46-jährigen Afroamerikaners George Floyd drückte und ihn dadurch tötete, versammelten sich auch in Deutschland viele junge Menschen zum Protest. Ihr Blick richtete sich keineswegs nur auf die Verhältnisse in den USA. In Deutschland haben zuletzt immer wieder Polizeibeamte Schlagzeilen gemacht, weil sie Interner Link: in rechtsextreme Umtriebe verwickelt waren.

Ob Polizisten, die bei "Querdenkern" mitlaufen, oder Beamte, die in Chatgruppen Nazi-Parolen posten: Immer öfter geriet in jüngster Zeit die Polizei selbst ins Zwielicht und unter Verdacht. Das seien nur bedauerliche Einzelfälle, sagen die einen. Andere vermuten, was zum Vorschein komme, sei lediglich die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs.

Vertrauen und Misstrauen

Weder die Wut protestierender Gruppen noch der Frust einzelner Polizistinnen und Polizisten über Autoritätsverlust und fehlenden Respekt sind allerdings repräsentativ für das ganze Land. Studien zeigen noch immer recht hohe Vertrauenswerte für die deutsche Polizei. Laut einer im August 2020 veröffentlichten Umfrage von Infratest dimap im Auftrag des TV-Magazins "Report München" haben 62 Prozent der Bürgerinnen und Bürger "großes Vertrauen", 20 Prozent sogar "sehr großes Vertrauen" in die Polizei. Nur 17 Prozent haben wenig oder gar kein Vertrauen. Allerdings sagten 26 Prozent, "Rassismus bei der Polizei" sei ein großes Problem, fünf Prozent nannten es sogar ein "sehr großes Problem". Insgesamt schaut also fast ein Drittel der Menschen in Deutschland in diesem Punkt kritisch auf die Polizei.

Schon deshalb sollten die hohen allgemeinen Vertrauenswerte die Beamten nicht in Sicherheit vor jedweder Kritik wiegen. Es kommt auch darauf an, ob die Entfremdung in bestimmten Gruppen wächst. In einigen Teilen der Bevölkerung ist das Image der Polizei beileibe nicht hoch. Und jede neue, zunächst lokale Polizei-Affäre kann in der digitalen Öffentlichkeit schnell bundesweite Aufmerksamkeit erregen.

Die Polizei sieht sich nicht nur der Kritik professioneller Medien ausgesetzt. Auch weil jeder Bürger und jede Bürgerin mit dem Handy die Möglichkeit hat, Videos aufzunehmen, steht die Polizei mittlerweile unter Dauerbeobachtung – eine sehr spezielle Form der Bürgernähe ist entstanden. Nicht immer fühlen sich die Beamten dabei fair behandelt und differenziert beurteilt. Als mündiger Bürger eines Rechtsstaates lässt sich das auch anders sehen: Die Behörden haben an Deutungsmacht verloren – gut so. Zu große Macht oder gar ein Deutungsmonopol sollte es in einer Demokratie nicht geben.

Mediale Verzerrung

Manchmal mag in der digitalen Wirklichkeit der Schlagzeilen, Tweets und Echtzeit-Reportagen ebenso wie in der noch immer sehr physischen, handfesten Welt der täglichen und nächtlichen Rudelbildung in Fußballstadien, Diskotheken und Feiermeilen der Eindruck entstehen, die Polizei hätte in diesem Land nicht mehr viel zu melden. Doch diese Übertreibungen sind fehl am Platz. Durch eine medial verzerrte Brille sieht jeder Akt des Widerstands gegen die Staatsgewalt wie ein großflächiges Sittengemälde aus. Wie mächtig und durchsetzungsstark der Staat aber weiterhin agieren kann, das haben zuletzt die Einschränkungen von Grundrechten während der Corona-Pandemie bewiesen. Und alles in allem war der Widerstand der Bürgerinnen und Bürger gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung eher überschaubar.

Gewiss, die Zeiten in denen die Leute ehrfürchtig ihren Hut gezogen haben, wenn ein "Schutzmann" an ihnen vorbeilief, sind passé. Der Verlust übertriebener Formen der Ehrerbietung ist aber nicht unbedingt ein Verlust jedweder Anerkennung.

Die meisten Menschen sind eben doch recht brave Bürger, die dem Staat und der Polizei mit grundsätzlichem Wohlwollen begegnen. Sie hoffen darauf, dass Beamte ihnen im Notfall zur Seite stehen werden, ob bei einem Verkehrsunfall, einem Wohnungseinbruch oder bei einer Pöbelei auf dem Stadtfest. Jeden Tag machen Menschen im Alltag auch tatsächlich die Erfahrung, dass ihnen die Polizei helfen kann.

Die Demokratie ist auf ein Grundvertrauen der Bevölkerung in ihre Institutionen angewiesen. Es bildet ein Fundament, das der Gesellschaft Stabilität verleiht und sie nicht wanken lässt trotz der vielen, teilweise heftigen Konflikte, die in einer offenen Gesellschaft ausgetragen werden. Das betrifft die Parlamente, die Gerichte, die Medien und ebenso die Polizei. Das nötige Grundvertrauen ist nicht gleichzusetzen mit naiver, blinder Folgsamkeit oder gar Hörigkeit, wie sie für autoritäre Systeme prägend sind, die sich ja nicht allein auf Furcht und Terror stützen, sondern in der Regel auch auf die Loyalität eines manchmal gar nicht so kleinen Teils der Bevölkerung.

Wenn die Balance aus Vertrauen und Misstrauen, aus Zustimmung und Opposition zu den Institutionen des Staates verloren geht, ist dies für eine Demokratie eine unheilvolle Entwicklung. Das gilt ausdrücklich für beide Richtungen, denn zu viel Vertrauen ist ebenfalls schädlich. Zwar mögen Politiker ebenso wie Polizeipräsidenten insgeheim davon träumen, dass sie von Kritik verschont bleiben. Doch Diskussionen sind unverzichtbar, und jeder, der eine öffentliche Aufgabe übernimmt, muss Widerspruch aushalten und Kritik annehmen können.

Digitales Durcheinander

In der digitalen Mediengesellschaft werden die Verhältnisse allerdings schnell unübersichtlich. Es ergeben sich für alle Seiten und Akteure neue Herausforderungen. Früher war die Situation, die Ältere noch in Erinnerung haben, etwas karikierend beschrieben ungefähr so: Tagsüber schlenderte ein freundlicher Kontaktbereichsbeamter durch die Siedlung und half einer verwirrten Seniorin über die Fahrbahn. Man grüßte den Polizisten von der Straßenseite gegenüber und nahm sich vor, ihn um Rat zu fragen, welches Zusatzschloss denn das Beste wäre, wenn man seine Wohnung im Parterre besser sichern wollte. Dann schaute man am Abend die Tagesschau und sah in Wackersdorf oder andernorts eine Traube Polizisten und Demonstranten aufeinander losgehen, und am nächsten Morgen grüßte man wieder den netten Kontaktbereichsbeamten, der einen Schüler gerade ermahnte, mit seinem Fahrrad nicht die Leute auf dem Gehweg umzufahren.

Mittlerweile sieht die Welt etwas anders aus. Beamte, die durch die Straßen gehen und ein Ohr für die Bürgerinnen und Bürger haben, gibt es zwar gelegentlich immer noch, und auch Fernsehbilder von Krawall und Polizisten im Schlagstockeinsatz schaffen es weiterhin in die Wohnzimmer. Aber die Kommunikation ist komplizierter geworden. Sie hat sich beschleunigt, die Kanäle sind vielfältiger geworden, oft auch obskurer. Die Polizei spricht die Menschen auf Twitter an und wählt dafür einen manchmal lockeren bis flapsigen Ton. Vom Oktoberfest beispielsweise twitterte die Polizei in München: "Wer 1 Car oder ein 1 Bike mit high level vong Rausch im Face drived, dem helped auch 1 sorri pollizeiman nit aus". In Berlin twitterte die Polizei selbstironisch unter dem Hashtag #Hauptstadtbullen.

Wenn irgendwo etwas passiert ist, sind in Sekundenschnelle Livebilder im Netz, von Amateuren und Journalisten, die Razzien nach Terrorangriffen oder Ausschreitungen bei Demonstrationen in Echtzeit übertragen. Manchmal tragen die Beamten kleine Kameras an ihrer Uniform – und die Bürger zücken jederzeit ihr Handy, das ihnen Zugang zur Weltöffentlichkeit verschafft. Jeder hat jeden im Visier.

Die Demokratisierung der Kommunikation kann einerseits ein Beitrag zum Schutz der Grundrechte sein, oder zumindest zum Aufdecken von Grundrechtsverletzungen. So war es im Fall des US-Amerikaners George Floyd, der zum Opfer mörderischer Polizeigewalt wurde. Die Allgegenwart der Medien bereitet andererseits aber auch den Boden für Missbrauch und digitale "Mobs". In der Kakophonie der Stimmen fällt es oft schwer, Wahrheit und Lüge, Fakten und Fiktionen voneinander zu unterscheiden. Gerüchte und Verschwörungserzählungen verbreiten sich schneller denn je, auch die Polizei hat damit ihre liebe Not.

Zugleich entsteht so eine Sehnsucht nach zuverlässigen Quellen und soliden Informationen. Das erklärt das Lob, das die Polizei in München sowohl von Bürgern als auch von Medien und Profis der Öffentlichkeitsarbeit für ihre umsichtige Kommunikation im Juli 2016 während der unsicheren Stunden eines rechtsextremen Anschlags und Amoklaufs in München erhalten hat. Es war die Polizei, die nicht zuletzt durch ihre Social-Media-Kommunikation falschen Gerüchten und damit einer sich ausbreitenden Panik in der Stadt entgegentrat.

In dieser Hinsicht haben Journalisten und Polizisten in der digitalen Öffentlichkeit ähnliche Herausforderungen zu meistern. Denn auch die etablierten Medienmarken müssen vermehrt Anstrengungen unternehmen, in dem kommunikativen Dickicht zum Publikum durchzudringen, sein Vertrauen zu gewinnen oder zu erhalten und sich gegen Fake News und Fake News-Bezichtigungen zu behaupten. Doch im Grunde sind Medien und Polizei natürlich keine Verbündeten. Die Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten ist es, auch die Angaben der Polizei zu prüfen und zu hinterfragen. Das ist, soll es seriös und sauber geschehen, ein schmaler Grat. Auch hier kippt die Kommunikation leicht hinüber auf eine von zwei problematischen Seiten: Entweder übernehmen die Medien voreilig und mit zu geringer Distanz die Darstellungen der Behörden und übersehen dabei, dass auch diese fehlbar sind und zumindest in einigen Fällen etwas zu verbergen oder sogar zu verschleiern haben. Oder die Medien überziehen in ihrer Kritik, und sie skandalisieren Vorfälle in einer dramatischen Weise, die der Sache nicht gerecht wird. Nicht einfacher wird diese Konstellation durch die Macht fiktionaler Angebote.

Macht der Fiktion

Ein Großteil des vermeintlichen Wissens, das Bürger über die Arbeitsweise der staatlichen Sicherheitsorgane haben, speist sich aus Krimis und Thrillern. Selbst wenn das Publikum im Prinzip weiß, dass es diese Darstellungen nicht eins zu eins auf die Wirklichkeit übertragen darf, werden diese einen mindestens subtilen Einfluss auf die Wahrnehmungen und Einstellungen des Publikums haben. In der Medienforschung wird dies unter anderem unter dem Stichwort "CSI-Effekt" diskutiert.

In fiktionalen Formaten sind Polizisten oft wahre Helden, allerdings auch Figuren, die sich häufig über rechtsstaatliche Regeln hinwegsetzen. Stilbildend war dafür in Deutschland der rauflustige Kommissar Horst Schimanski im "Tatort". Das Kontrastspiel zwischen Gut und Böse wird nicht nur im Hinblick auf das Verhältnis Polizei versus Kriminelle inszeniert, sondern häufig auch innerhalb der Behörden gespiegelt. Hier werden Intrigen vorgeführt, Machtkämpfe, Verrat und Verschwörung. Dramaturgisch können halbfiktionale Formate, True-Crime-Stories und investigative journalistische Beiträge problemlos an diese dem Publikum vertrauten Erzählmuster anschließen.

Für die Beamten ist das manchmal ärgerlich, zugleich fällt es ihnen, je weiter die medialen Versionen sich von den eigenen Erfahrungen und Einstellungen zu entfernen scheinen, umso leichter, das öffentliche Bild als Übertreibung und Verzerrung abzutun.

Polizei als Prügelknabe?

Vielen Menschen ist immerhin auf diffuse Weise bekannt und bewusst, dass Polizisten einen schweren Dienst tun und sie nicht immer die besten Arbeitsbedingungen vorfinden; dass die Polizei überall dort auflaufen muss, wo es gesellschaftliche Konflikte gibt, und es sehr mühsam ist, diese in den Griff zu bekommen, nachdem sie bereits offen ausgebrochen sind. Zugleich gibt es in einigen Milieus schon immer und womöglich zunehmend eine grundsätzliche Ablehnung. Ganz links und ganz rechts im politischen Spektrum werden Polizisten gerne pauschal als "Bullen" und "Bastarde" (ACAB, All Cops Are Bastards) diffamiert. Daran wird sich so schnell nichts ändern lassen, aber was die Polizei unbedingt verhindern muss, ist ein Übergreifen dieser Ablehnungshaltung auf die breite Mitte der Gesellschaft. Um dies zu verhindern, sind Transparenz, Offenheit und eine sensible Fehlerkultur unabdingbar.

Solidarität ist gut, nicht aber ein Korpsgeist, der Verfehlungen deckt. Die anständigen Beamten dürfen es sich nicht gefallen lassen, wenn andere den Ruf der Institution gefährden. Das Vertrauen, das die Polizei genießt, muss sie sich immer wieder neu verdienen. Deshalb dürfen Beamte niemals darüber hinwegsehen, wenn Kollegen Regeln verletzen oder wenn Extremisten in Uniform andere Menschen oder die Demokratie verächtlich machen.

Dass die deutsche Polizei, was Regeln und Standards betrifft, im internationalen Vergleich noch recht gut dasteht, bedeutet eben nicht, dass es keine Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze gäbe. Davon können auch solche Teilnehmer von Demonstrationen ein trauriges Lied singen, die keineswegs zum schwarzen Block gehören und die kein Interesse an einer Eskalation haben. Es hilft wenig, dies aufwiegen zu wollen mit dem Leid und dem Frust, den Polizisten schieben, wenn sie wieder einmal die Kastanien aus dem Feuer der Demokratie holen sollen. Dass es Gewalt gegen die Polizei gibt und auch die verbalen Attacken, denen Beamte ausgesetzt sind, unerträglich sind, kann niemals zur Rechtfertigung dienen für unverhältnismäßige Reaktionen des Staates und für Übergriffe der Polizei auf die Bürger. In der Öffentlichkeit wird diesbezüglich leider oft sehr schematisch und im Lagerdenken verhaftet debattiert: Auf der einen Seite die Kritiker der Polizei, auf der anderen ihre Verteidiger, Law and Order versus Bürgerrechte. Als ob dies eine sinnvolle Gegenüberstellung wäre.

Scheitern und Fehlverhalten

In den vergangenen Jahren haben Enthüllungen dem Lack des Vertrauens mindestens Kratzer zugefügt: Man nehme nur das kolossale Scheitern im Umgang mit der rechtsextremen Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU). Die Polizei hat bei der Fahndung nach dem untergetauchten Neonazi-Trio und bei der Suche nach den Tätern der Mord- und Anschlagsserie, die auf das Konto des NSU ging, kaum einen Skandal, kaum einen Fehler und kaum eine Peinlichkeit ausgelassen. So waren sich unter anderem Ermittler in Hamburg nicht zu blöd, einen Geisterbeschwörer zu beauftragen, der Kontakt ins Totenreich aufnehmen sollte, um etwas über die Mörder zu erfahren. Man könnte über diesen Hokuspokus lachen, wenn es nicht so ernst und traurig wäre. Und wie erst im Zuge der Aufarbeitung des NSU-Komplexes an die Öffentlichkeit drang, hatten sich um die Jahrtauendwende mindestens zwei Beamte aus Baden-Württemberg einem deutschen Ableger des rassistischen Geheimbunds Ku-Klux-Klan angeschlossen.

"Unser Vertrauen in die staatlichen Institutionen ist zutiefst erschüttert", sagte der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoğlu, im Zusammenhang mit dem NSU-Prozess. Auch im Ausland machte der NSU-Fall Schlagzeilen. Angesichts der vielen Ungereimtheiten und Ungewissheiten ist der Schritt von einer kritischen Berichterstattung zu Spekulationen und Verschwörungserzählungen über einen "Tiefen Staat" oft nur klein.

Laut einer Umfrage der Hacettepe-Universität in Ankara aus dem Jahr 2012 verfolgten 87 Prozent der türkischen Migranten in Deutschland die Ereignisse rund um die Enttarnung der NSU-Terroristen sehr genau und nutzten dafür überwiegend türkische Medien. Viele hätten das Vertrauen in den deutschen Staat verloren, lediglich ein Drittel erkenne in der Entschuldigung durch Politiker eine glaubwürdige Reue und Trauer. Mehr als zwei Drittel der rund 1000 Befragten würden weitere rassistische Anschläge befürchten – leider sollte sich diese Furcht in den folgenden Jahren auf grausame Weise als berechtigt erweisen.

In der ersten Generation der sogenannten Gastarbeiter herrschte und herrscht oft ein großes Grundvertrauen in den deutschen Staat. Das änderte sich bereits in der zweiten und erst recht in der dritten Generation. In Diskriminierung und Rassismus sehen die Kinder ein größeres Problem als ihre Eltern. In den deutschen Medien sehen sie sich nicht ausreichend repräsentiert, von Teilen der Politik und der Polizei fühlen sie sich abgestempelt oder sogar kriminalisiert.

Zum Glück für die Polizei verbinden viele Bürger das Versagen im NSU-Fall vor allem mit den Ämtern für Verfassungsschutz und deren V-Leuten. Dabei hatte auch die Polizei geheime Informanten, und einer von ihnen, geführt vom Landeskriminalamt in Berlin, hatte einst sogar ein, wie er es selbst nannte, "Techtelmechtel" mit Beate Zschäpe. Vor dem Untertauchen des NSU-Trios lieferte er seinen braunen "Kameraden" Sprengstoff, den Behörden später jedoch zunächst gar keine und später nur ein paar dürre Hinweise auf die Gesuchten.

Auch andernorts haben sich V-Leute und verdeckte Ermittler der Polizei nicht immer vorteilhaft verhalten. So waren in Hamburg in den Jahren 2000 bis 2013 mehrere Beamtinnen im Autonomen Zentrum "Rote Flora" im Einsatz, die teilweise so weit gingen, Liebesbeziehungen mit den von ihnen ausgespähten linken Aktivisten einzugehen – alles unter einer Legende.

Die Arbeit der Kriminalämter ähnelt mittlerweile stark den Operationen von Nachrichtendiensten. Wie sonst, sagen die Ermittler, will der Staat den Kampf gegen Extremisten und organisierte Kriminelle gewinnen? Gute Frage. So schwierig und komplex viele Verfahren sind, so bedrohlich können sie werden, wenn Beamte Regeln verletzen und Standards missachten.

Mehr denn je hat die Polizei auch die Aufgabe, sich und ihre Arbeit zu reflektieren, der Öffentlichkeit zu erklären und verständlich zu machen. Das Gewaltmonopol des Staates darf im demokratischen Rechtsstaat weder umstandslos noch hemmungslos ausgeübt werden. Es muss seinen Wert und seine Legitimation fortlaufend erneuern und unter Beweis stellen. Das Gewaltmonopol muss diskursiv begleitet und eingehegt, effektiv rechtsstaatlich kontrolliert und begrenzt werden. Nur dann ist es möglich, dass die Polizei den Bürgerinnen und Bürgern nicht als Feind erscheint, sondern als Stütze und Garant ihrer Freiheit und Sicherheit.

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Tanjev Schultz ist ein deutscher Hochschullehrer, Journalist und Publizist. Aktuell arbeitet er als Professor für Journalistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.