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Verschränkte Veränderungsprozesse von Medien und Gesellschaft | Medienpolitik | bpb.de

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Verschränkte Veränderungsprozesse von Medien und Gesellschaft

Heinz Bonfadelli

/ 22 Minuten zu lesen

Gesellschaftswandel durch Individualisierung und Polarisierung, zusammen mit Medienwandel durch Digitalisierung, Online-Plattformen und Big Data, Algorithmen sowie Künstliche Intelligenz (KI) wie ChatGPT transformieren die Medienrealität mit Storytelling in Richtung Personalisierung, Skandalisierung, Moralisierung und Polarisierung, aber auch mit Fake News und Desinformation. Kann Mediennutzung weiterhin zur Informiertheit aller beitragen oder verstärken sich nur Wissensklüfte und Einstellungen in abgeschotteten Meinungsblasen?

Pressekonferenz im Newsroom der Deutschen Presse-Agentur dpa in Berlin. Jüngste Entwicklungen im Medienbereich geben Anlass zur Sorge, dass die Qualität der Medienberichterstattung in Gefahr ist. Wirtschaftliche Zwänge führen zur Verkleinerung der Redaktionen und zur Schaffung von kostengünstigeren Newsrooms. (© picture-alliance/dpa, Bernd von Jutrczenka)

Zusammenfassung

Der Beitrag befasst sich mit den Leistungen der klassischen Massenmedien für Gesellschaft und Demokratie. Im Kontext von Gesellschafts- und Medienwandel sowie Medienkrise werden Veränderungen im Journalismus wie Kommerzialisierung und Orientierung am Massenpublikum, aber auch Storytelling mit verstärkter Personalisierung, Skandalisierung und Moralisierung sowie Polarisierung in der Politikberichterstattung thematisiert. Vor diesem Hintergrund wird zum einen nach Möglichkeiten der Sicherstellung von Medienqualität sowie Medienvertrauen und zum anderen nach dem Potenzial von Internet und Social Media gefragt.

In einem zweiten Teil stehen die Bürger der Zivilgesellschaft als Mediennutzende im Zentrum: Wie nutzen sie die alten klassischen, aber auch die neuen Medien der Digitalisierung? Trägt Mediennutzung zur Informiertheit aller bei oder profitieren besser Gebildete nach wie vor stärker? Weitere Fragestellungen sind: Begünstigen die Medien Stabilität oder Wandel in der Gesellschaft? Oder begünstigt die gestiegene Informationsflut tendenziell Fragmentierung und Polarisierung der Gesellschaft?

Gesellschaftliche Erwartungen und mögliche Leistungen der Massenmedien

Die klassischen Interner Link: Massenmedien wie Presse, Radio und Fernsehen leisten einen unverzichtbaren Beitrag zum Funktionieren der Interner Link: Demokratie. Davon gehen Politiker und Medienschaffende aus, aber auch die Öffentlichkeit. Massenmedien sollen positiv sowohl zur Stabilität als auch zum Wandel der Gesellschaft beitragen. Im Unterschied dazu werden die Funktionen des Internets mit seinen Plattformen und den Interner Link: Social Media trotz ihrer Möglichkeiten zur Partizipation kontrovers diskutiert, nicht zuletzt auch wegen der Zunahme an Fake News und Desinformation.

Nach Meinung des Soziologen Niklas Luhmann ermöglichen Medien die Selbstbeobachtung der Gesellschaft:

  • Medien als „Fenster zur Welt“ wählen relevante Themen als Interner Link: Agenda-Setting für die Öffentlichkeit aus und berichten darüber als Interner Link: Framing aus je spezifischen Perspektiven.

  • Medien liefern den Bürgern Argumente für und gegen umstrittene Themen, die sie in ihren Gesprächen mit anderen Menschen diskutieren.

  • Medien recherchieren das für die Meinungs- und Entscheidungsbildung notwendige Hintergrundwissen, bereiten es verständlich auf und machen es breit verfügbar.

Als Folge dieser Leistungen der klassisch-journalistischen Medien werden Argumente zu aktuellen Fragen in der Öffentlichkeit ausgetauscht, diskutiert und kritisch hinterfragt. Durch die Nutzung der Medien beteiligt sich die Bevölkerung so an den gesellschaftlich aktuellen und relevanten Themen und Problemen. Dadurch erhöht sich der Wissensstand aller. Darüber hinaus erhofft man sich, dass auch Minderheiten wie Migranten durch die Medien in die Gesellschaft integriert werden. Durch vielfältige und kritische Medienberichterstattung können sich soziale Vorurteile und vielleicht sogar Diskriminierungen gegenüber Minderheiten abschwächen. Und die Digitalisierung ermöglicht neu zudem Partizipation, was die Konsumenten der klassischen Medien potenziell zu Produzenten von Medieninformation macht.

Massenmedien leisten für die Gesellschaft unverzichtbare Funktionen

Funktionen der Medien für die Gesellschaft I. (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

  1. Vermittlung von Information und Hintergrundwissen über aktuelle Ereignisse und relevante Themen (Stichwort: Interner Link: Agenda-Setting), aber auch einen Beitrag zur Bildung und kulturellen Entfaltung.

  2. Bürger, aber auch Politiker der Interner Link: Legislative wie Mitglieder der Regierung sowie weitere politische Akteure (z. B. Interner Link: Nichtregierungsorganisationen = NGOs) und solche aus Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft äußern ihre Interessen, Meinungen und Argumente zu politischen und gesellschaftlichen Fragen via journalistische Medien: Stichwort Framing . Und die Medien selbst stellen für diese Akteure eine öffentliche Arena bzw. Plattform zur Verfügung. Sie ermöglichen so die Entstehung und Abstimmung von Meinungen durch eine sachgerechte Darstellung der bestehenden Meinungsvielfalt.

  3. Funktionen der Medien für die Gesellschaft (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

  4. Darüber hinaus kommt den Medien im Sinne einer sog. „Vierten Gewalt“ aber auch eine unabhängige und im Idealfall verantwortungsbewusst wahrgenommene Kontroll- und Kritikfunktion zu: Über Recherchen sollen quasi stellvertretend für die Zivilgesellschaft die „Mächtigen“ in der Gesellschaft kontrolliert und allfällige Missstände aufgedeckt werden.

  5. Schließlich wird den Medien zukunftsorientiert eine Frühwarnfunktion zugeschrieben: Sie sollten frühzeitig auf problematische Entwicklungen wie beispielsweise die Klimaerwärmung aufmerksam machen, sodass gesellschaftliche Lernprozesse stattfinden können (vgl. Grafiken oben und nachfolgende Übersicht).

Funktionen der Medien für die Bereiche der Gesellschaft

Information als „Fenster zur Welt“ → transparente öffentliche Arena

PolitikWirtschaftKultur – Soziales
Öffentlichkeit herstellenKonsuminformationOrientierung und Lebenshilfe
Artikulation von MeinungenWarenzirkulationSozialisation: Werte & Normen
Kontrolle und KritikBeschäftigung sichernIntegration in die Gesellschaft
FrühwarnfunktionWertschöpfung z. B. in der MedienbrancheBildung und kulturelle Entfaltung
Partizipation & AktivierungUnterhaltung und Entspannung

Diese Erwartungen an die klassischen journalistischen Massenmedien sind Idealvorstellungen, welche als wünschbare Medienleistungen gefordert werden. Sie werden in der Realität aber immer nur teilweise umgesetzt, was sich immer wieder in Medienkritik und Medienschelten äußert. Und anstelle von transparenter Meinungsvielfalt kann speziell in autoritären Gesellschaften mit eingeschränkter Medienfreiheit die Meinung von Regierung oder mächtigen Gruppen als uniforme Mehrheitsmeinung unhinterfragt in den Medien dominieren (z. B. Russland oder China).

Aber auch für Medien in Demokratien stellt sich die Frage, ob und wie stark sich diese konkret für mehr oder weniger Gleichheit in der Gesellschaft einsetzen. Denn anstelle von Beiträgen zur Integration und Solidarität bezüglich Migranten oder anderen Minderheiten können Medien durch pauschalisierend negative Berichterstattung zur Stereotypisierung beitragen und Diskriminierung verstärken. Schließlich besteht immer auch die Gefahr, durch einseitig moralisierende Darstellungen Einzelpersonen oder gesellschaftliche Gruppen ungerechtfertigt in Verruf zu bringen. Inhaltsanalysen der Medienberichterstattung zeigen, dass Migranten und speziell Muslime in den Medien tendenziell wenig vorkommen, und wenn, dann meist stereotyp und negativ dargestellt werden .

Medienwandel und Medienkrise

Jüngste Entwicklungen im Medienbereich geben Anlass zur Sorge, dass die Qualität der Medienberichterstattung in Gefahr ist. Warnende Stimmen sprechen sogar von einer Medienkrise . Im Printbereich wie im Rundfunk ist bei den Medienkonzernen seit längerem eine wachsende Medienkonzentration im Gange: Große Medienkonzerne werden immer dominanter. Parallel dazu verschieben sich die Werbeausgaben von der Presse ins Internet und die Zeitungsnutzung ist rückläufig. Auf der Ebene der Medienorganisationen hat dies nicht zuletzt zur Entlassung von Medienschaffenden, zur Verkleinerung der Redaktionen und zur Schaffung von kostengünstigeren Interner Link: Newsrooms geführt. Im Nachrichtenraum erfolgt die gemeinsame Produktion der Inhalte sowohl für die Print-Ausgabe als auch das Online-Angebot. Die Medienschaffenden schreiben somit einen Beitrag nicht mehr nur für die gedruckte Zeitung, sondern erstellen gleichzeitig auch Online-Versionen oder Radio- bzw. TV-Beiträge. Dies hat nicht zuletzt zu einer Erhöhung des Zeitdrucks der journalistischen Arbeit geführt.

Aber die Medienkrise ist nicht nur eine Finanzierungskrise, auch der Journalismus ist inhaltlich betroffen. Die Kommerzialisierung hat nicht nur zu einer Abnahme der Medienvielfalt geführt, sondern der wirtschaftliche Druck äußert sich ebenso in einer verstärkten externen Einflussnahme von Interner Link: Public Relations (Öffentlichkeitsarbeit) auf die Berichterstattung etwa als Gefälligkeitsjournalismus. Durch die Verwischung der Grenzen zwischen redaktionellem und Werbeteil (Stichwort: Native Advertising) wird die journalistische Unabhängigkeit gefährdet.

Als Folge der Ökonomisierung ist zudem eine verstärkte Orientierung am Publikum und dessen Wünschen zu konstatieren. Information und Unterhaltung sowie Öffentliches und Privates etwa von Politikern werden in der Berichterstattung vermischt, um diese interessanter zu machen. Die Medienkritik fokussiert hier unter den Stichworten „Personalisierung“ und „Infotainment zum einen auf die Boulevardpresse und zum anderen auf den Privatrundfunk. Beiden wird Populismus und mangelnde Unabhängigkeit sowie ein generell tiefes Qualitätsniveau vorgeworfen.

Infotainment / Personalisierung

Die Vermischung von informierenden und unterhaltenden Formaten des Fernsehens wird als Infotainment bezeichnet. Der erste Teil des Wortes stammt von „Information“, der zweite Teil leitet sich aus dem angloamerikanischen Begriff „Entertainment“ (= Unterhaltung) ab. In der Regel wird damit die Tendenz beschrieben, z. B. in Nachrichtensendungen immer mehr „weiche“ Themen wie Meldungen über Prominente aufzunehmen. Infotainment bezeichnet auch die zunehmende Emotionalisierung und Personalisierung von Nachrichten, wobei letzteres die Ausrichtung auf eine bestimmte Person (Moderator, „Anchorman“) bedeutet.

Quelle: Tele-Visionen: Glossar medienwissenschaftlicher Fachbegriffe

Analysen der Medienberichterstattung erkennen und kritisieren insbesondere einen Wandel der sog. Medien-Logik, d. h. der Art und Weise, wie Medien Ereignisse und Themen selektiv auswählen und darüber berichten : Der Journalismus, aber auch Public Relations, würden immer mehr Ereignisse als Media-Events selber inszenieren und fokussierten immer stärker auf Skandalisierung und Moralisierung einerseits sowie Personalisierung, Emotionalisierung und Intimisierung andererseits. Dabei würde bewusst das Bedürfnis des Medienpublikums nach Neugier und Voyeurismus bedient und bewirtschaftet im Sinne der Steigerung von Auflagen und Reichweiten sowie Klickraten (Clickrates).

Umgekehrt wird unter dem Stichwort Interner Link: Medialisierung diskutiert, dass nicht nur die Politik, sondern auch die übrigen Bereiche der Gesellschaft und sogar die Wissenschaft sich der Medien-Logik anpassen würden , um die Medien gezielt mit den eigenen Themen und Perspektiven zu bespielen.

Medienqualität zwischen Anspruch und Realität

Die vielfach geäußerte Kritik an den oben genannten (Fehl-)Entwicklungen im Journalismus hat Forderungen nach verstärkter Selbstregulierung und nach mehr medienpolitischer Fremdkontrolle zur Sicherstellung von Medienqualität Auftrieb gegeben. Dies hat in der Kommunikationswissenschaft zur Definition und Messung der Qualität von Medienangeboten als Forschungsthema geführt . Auch die Landesmedienanstalten in Deutschland begannen Studien zur Qualität der privaten TV- und Radioprogramme in Auftrag zu geben .

Die Diskussion über Medienqualität ist aber nichts Neues. Immer wieder streiten Journalisten, Politiker und das Medienpublikum kontrovers über die Qualität

  • von Mediengattungen wie Boulevardpresse oder Privatfernsehen,

  • einzelner Programme bzw. Formate wie Reality-TV oder

  • einzelner Sendungen wie etwa der Polit-Talk „Absolute Mehrheit“ von Stefan Raab vom 11. November 2012.

„Absolute Mehrheit – Meinung muss sich wieder lohnen“

Politische Talkshow mit Stefan Raab. „Fünf Gäste diskutieren über drei Themen und die Zuschauer entscheiden, wer die besten Argumente hat. Schafft es ein Talkgast die absolute Mehrheit hinter sich zu versammeln, gewinnt er 100.000 Euro!“, so die ursprüngliche Eigenwerbung bei ProSieben Ende 2012. Nach sechs Folgen von November 2012 bis September 2013 wurde die Sendung wegen stark sinkender Quoten nicht mehr ausgestrahlt.

In solchen Debatten zur Medienqualität wird auf positive Kriterien wie objektiv, sachgerecht, relevant, professionell, unabhängig, verständlich etc. verwiesen oder negativ mangelnde Professionalität, Subjektivität, Arroganz, Einseitigkeit, Realitätsverzerrung, Oberflächlichkeit u.a.m. kritisiert.

Bei der Ermittlung von Medienqualität werden einzelne Dimensionen etwa von TV-Nachrichten mittels Inhaltsanalyse gemessen und mit Qualitätsstandards verglichen. Was normativ unter Nachrichten- bzw. Medienqualität verstanden wird, kann aber unterschiedlich definiert und begründet werden. In der Regel werden solche Qualitätsdimensionen wie in Deutschland unter Rückgriff auf Interner Link: Art. 5 des Grundgesetzes und die entsprechenden Landespressegesetze abgeleitet.

Schatz/Schulz formulierten schon 1992 folgende 5 Qualitätsdimensionen für TV-Programme :

  1. Vielfalt von Angeboten bezüglich Formaten, Themen Regionen, Gruppen, Interessen und Quellen

  2. Relevanz der Themen für Individuen, Gruppen und Gesellschaft

  3. Professionalität der Inhalte und Gestaltung etwa bezüglich Sachgerechtigkeit und Unparteilichkeit

  4. Akzeptanz durch die Zuschauer

  5. Rechtmäßigkeit als Einhalten der entsprechenden journalistischen Normen und Mediengesetze, wie z. B. Jugendschutz.

Das magische Vieleck der Medienqualität

Magisches Vieleck der Medienqualität (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Parallel dazu formulierte 1992 Russ-Mohl sein Qualitätsmodell, nach dem sich qualitativer Journalismus zu orientieren habe an:

  1. Aktualität

  2. Komplexitätsreduktion

  3. Objektivität

  4. Transparenz und Reflexivität

  5. Originalität.

Der Vergleich der beiden Ansätze zeigt, dass Qualitätsmaßstäbe im Journalismus von verschiedenen Faktoren abhängig sind :

  1. Medium (Rundfunk vs. Presse),

  2. Periodizität (tagesaktueller vs. wöchentlicher Journalismus),

  3. Genre (Nachricht, Bericht, Reportage, Kommentar),

  4. Funktion (Information vs. Unterhaltung) und

  5. Selbstverständnis der Journalisten (objektiver Vermittler, Anwalt, Erklärer), aber auch

  6. vom Publikum als Zielgruppe (z. B. Bildung).

Mittlerweile sind zur Medienqualität verschiedene empirische Studien durchgeführt worden . Die Informationssendungen des öffentlichen Rundfunks schneiden dabei besser ab als jene des Privatrundfunks, insofern etwa ARD und ZDF u. a. mehr Nachrichten, einen höheren Politikanteil, eine breitere Themenvielfalt und mehr Themen mit gesellschaftlicher Relevanz aufweisen.

Und die Diskussion in der Kommunikationswissenschaft befasst sich nicht mehr nur mit der Frage nach der Messung, sondern zunehmend mit dem Problem der (nachhaltigen) Sicherstellung von Medienqualität im Rahmen des redaktionellen Managements . Stichworte hierzu sind: Vorhandensein publizistischer Leitlinien, Fact Checking und Gegenlesen, Blatt- bzw. Sendekritik, institutionalisierte Weiterbildung etc.

Digitalisierung: Internet und Web 2.0 als Alternativen?

Während die Bemühungen um Medienqualität auf die bestehenden journalistischen Medienangebote von Presse und Rundfunk zielen, verstärkt sich in den letzten Jahren die grundsätzliche Kritik an den klassischen Massenmedien durch Anhänger und Vertreter der sog. Neuen Medien . Für sie beschränke der Journalismus der klassischen Medien die Meinungsfreiheit grundsätzlich und bevormunde das Publikum. Nach ihrer Meinung bietet sich das Internet wegen seiner Interaktivität an, wobei das Interner Link: Social Web mit seinen Diskussionsforen, Blogs und Sozialen Netzwerken wie z. B. „X“ (vor 2023: Twitter) neue Möglichkeiten für alle Nutzer bereitstelle und so die Öffentlichkeit transparenter und egalitärer mache. Die „Konsumenten“ der klassischen Medien werden dabei unter dem Stichwort „Produser“ zu Produzenten in der Internetsphäre. Allerdings werden diese Hoffnungen auf verstärkte Partizipation der Bürger durch das Internet kontrovers diskutiert . Betont wird etwa, dass auch im Internet die etablierten politischen Akteure – Stichwort „X“ (bzw. Twitter) – und die mächtigen Wirtschaftsorganisationen dominieren würden. Zudem zeichnet die bisherige empirische Forschung ein eher ernüchterndes Bild, und zwar sowohl was die Qualität der Beiträge anbelangt als auch die politikorientierte interaktive Nutzung des Internets.

Obwohl nach der ARD/ZDF-Onlinestudie von 2022 73 % täglich Artikel und Berichte im Internet lesen und 22 % solche in Angeboten von Zeitungen bzw. Zeitschriften, liegt die Tagesreichweite der Individualkommunikation im Internet wie Chatten, E-Mail, Messenger oder WhatsApp nur bei 45 %, jedoch immerhin mit einer Nutzungsdauer von 59 Minuten pro Tag. Aber nur 16 % der Onliner (und mit einer Dauer von 16 Minuten) beteiligen sich aktiv täglich in Sozialen Medien, beispielsweise mit etwas liken, teilen, posten oder einen Feed anschauen. Darüber hinaus werden unter den Stichworten „Interner Link: Shitstorm“ und „Interner Link: Hate Speech“ (Hassrede) auch Schattenseiten des Social Web diskutiert , insofern zu Reizthemen wie Flüchtlinge bzw. Geflüchtete, Gender-Debatte, #MeToo-Bewegung und gleichgeschlechtliche Ehen (Homo-Ehen) etc. „mitunter hochemotionale Reaktionen auslösen und eine echte Debattenkultur vermissen lassen“. Solche Netzdebatten erwecken den Eindruck, dass es weniger um einen konstruktiven Dialog mit gegenseitiger Kenntnisnahme der Argumente geht, sondern oft nur um Skandalisierung und Moralisierung mittels verbaler Scharmützel vor allem in abgeschotteten sog. Social Media-Blasen (Filterblase, Bubble).

Vergleich zwischen klassischem und Internet-Journalismus

Zudem haben auch die klassischen Medien unter dem Stichwort Interner Link: Bürgerjournalismus begonnen, ihre Nutzer zu aktivieren und stärker zu beteiligen (siehe nachfolgende Übersicht). Neue Partizipationsformen werden angeboten: Fotos, Filme und Textbeiträge können über Internet und Handy zugemailt und in den redaktionellen Teil integriert werden. Darüber hinaus recherchieren die professionellen Journalisten heute selber verstärkt im Internet und nutzen die laufenden Diskussionen in den Internet-Foren als Input für ihre eigene Arbeit. – Im Folgenden wird der Journalismus in den klassischen Medien (Presse und Rundfunk) mit den neuen Möglichkeiten der Partizipation im Internet verglichen:

Vergleich zwischen klassischem und Internet-Journalismus

Klassische Medien Internet und Social Web
Tagesaktualitätkontinuierliches Updating möglich
explizite journalistische QualitätsstandardsInfo-Qualität unklar und nicht transparent, Desinformation und Fake News möglich
auf Dauer gestellte professionelle Leistungspontan von „unabhängigen Laien“ erbracht
strukturiertes Angebotzugangsoffene egalitäre Vielfalt
Einseitigkeit der Massenkommunikationzweiseitiger interaktiver
Rollentrennung: Journalist – RezipientRollenwechsel: Produzent – User als Produser
Push-Situation: Medien bieten Infos anPull-Situation: Nutzer müssen aktiv Info suchen
Nutzung tendenziell passiv-rezipierendNutzung aktiv → interaktiv → partizipativ
kaum Zugangsbarrierendigitale Zugangsklüfte und Fragmentierung

Allerdings ist nicht immer klar, was genau unter Bürgerjournalismus zu verstehen ist:

Das Phänomen hat vielfältige Facetten und der Begriff wird dementsprechend uneinheitlich verwendet. Im Kern meint Bürgerjournalismus aber eine zugangsoffene, unabhängige und vielfältige Nachrichtenproduktion durch zivilgesellschaftlich engagierte Bürger in Form von selbstständig erbrachten Laienangeboten. Konkret werden darunter Formate wie Weblogs, Podcasts oder Wikis und Angebote wie Facebook, YouTube oder X verstanden .

Positiv herausgehoben wird vor allem, dass so eine breite Partizipation der Bürger an öffentlicher Kommunikation möglich und die Entscheidungsfindung in der Politik durch Diskussionsbeteiligung der Betroffenen demokratischer würde. Als Beispiel kann auf die breite Diskussion um das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ verwiesen werden. Jedoch wird relativierend betont, dass auf den (neuen) Plattformen wie Facebook, Instagram, X, Telegram oder TikTok die Stakeholder (Interessengruppen) aus Politik und Wirtschaft noch stärker dominieren würden .

Aus der Perspektive der klassischen Medien werden die Erwartungen an den Bürgerjournalismus im Internet abgeschwächt: Es wird betont, dass nur Bezahlmedien dauerhaft gesichert aktuelle und professionelle redaktionelle Leistungen zu erbringen vermögen, welche auf klar definierten Qualitätsstandards beruhen. Die Leistungen des Bürgerjournalismus seien, was die Qualität anbelangt, oft nicht transparent und außerdem sehr heterogen. Zudem überwiege in Internetkommentaren der Austausch von nicht-neutralen und polarisierenden Meinungen, vertiefte unabhängige Recherchen seien die Ausnahme und der Anteil an Exklusivinformation gering.

Die vorliegenden Befunde sprechen somit eher gegen den Optimismus, dass der Bürgerjournalismus bezüglich Qualität mit dem professionellen Journalismus konkurrieren könnte . Relativierend ist allerdings festzuhalten, dass die Forschung im deutschen Sprachraum erst am Anfang steht und der Bürgerjournalismus im Internet ohne Zweifel neue Impulse auch für die etablierten Medien gebracht hat.

Eine kontrovers geführte Debatte innerhalb der Kommunikationswissenschaft befasst sich mit der Frage nach

  • den Wirkungen des Medienwandels und des Internets für die Bürger als Mediennutzer:

  • Positive Utopien erwarten mehr Partizipation und mehr Demokratie als Mobilisierungsthese.

  • Skeptiker befürchten, dass die Verbreitung des Internets mit seiner fast unbegrenzten und heterogenen Informationsfülle eine Aufsplitterung des Publikums aufgrund seiner spezifischen Interessen und Vorzüge zur Folge haben könnte.

  • Parallel dazu tendiert der gesellschaftlichen Wandel in Richtung verstärkter Individualisierung, was Politikabstinenz und Politikverdrossenheit verstärkt. Das könnte wiederum die Fragmentierung der Gesellschaft in mehr oder weniger abgeschottete und polarisierte Teilöffentlichkeiten verstärken . Dies würde letztlich einen Verlust der Integrationsfunktionen der Medien bedeuten.

  • Allerdings gibt es auch hier Gegenargumente: Zum einen gibt es Hinweise, dass auch im Internet die organisierten, mächtigen und ressourcenstarken gesellschaftlichen Akteure wie Wirtschaftsverbände mit ihrer Präsenz weiterhin dominieren. Zum anderen haben sich die traditionellen Medien mit eigenen Online-Plattformen im Internet zu etablieren begonnen. Hinzu kommt, dass sich die Medien bei der Wahl ihrer Themen gegenseitig aneinander orientieren, aber auch die neuen politisch aktiven Gruppen des Internets sich wiederum auf die klassischen Medien mit ihren Themen beziehen.

  • Darum dürfte die Gefahr einer sich abschwächenden Interner Link: Agenda-Setting-Funktion der Medien eher unwahrscheinlich bleiben . Darunter wird die Leistung der Medien verstanden, die knappe Aufmerksamkeit der Bürger auf eine begrenzte Anzahl politisch relevanter Themen zu fokussieren .

Mediennutzung im Wandel: zwischen Individualisierung und Fragmentierung

Während bis jetzt der Medienwandel vor allem aus der Perspektive der Medien und des Journalismus dargestellt worden ist, soll im letzten Teil des Beitrags auf die Bürger als Mediennutzer eingegangen werden, und zwar mit der Ausgangsfrage: Was hat sich im Umgang mit den Medien verändert?

Reichweiten und Nutzung der Medien im Wandel seit 1990 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Der Medienwandel lässt sich für Deutschland sowohl im Medienvergleich mit der seit 1964 alle fünf Jahre durchgeführten ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation (siehe Abb. oben) als auch im Trendverlauf mit den ARD/ZDF-Onlinestudien gut dokumentieren und nachzeichnen.

Die nachfolgende Tabelle zeigt sowohl Stabilität als auch Wandel im Umgang mit den Medien. Einerseits werden die klassischen Medien Fernsehen und Radio bis 2010 stabil auf hohem Niveau genutzt, und zwar sowohl was die Reichweite als auch was die Nutzungsdauer anbelangt, aber seit 2010 rückläufig. Andererseits zeigen sich bei der Tageszeitung Verluste bezüglich Reichweite und Nutzungsdauer, allerdings wird dieser Rückgang durch die Nutzung von Online-Zeitungsangeboten leicht kompensiert. Schließlich dokumentiert die Studie einen starken Anstieg der Internetnutzung. Dies belegt auch die jährlich durchgeführte ARD/ZDF-Onlinestudie.

2022 nutzten 95 % der Bevölkerung ab 14 Jahren in Deutschland grundsätzlich das Internet und 80 % sogar täglich. Durchschnittlich werden pro Tag mehr als zweieinhalb Stunden Inhalte über das Internet genutzt. Die höchsten Reichweiten mindestens einmal pro Woche haben dabei Suchmaschinen wie Google mit 78 % und das Lesen und Schreiben von E-Mails mit 72 %. Insgesamt betrachtet nutzen im Internet täglich 88 % Video, 80 % Audio und 63 % Texte, 56 % Artikel/Berichte von Zeitungen/Zeitschriften auf Websites/Apps, aber nur 37 % Artikel/Berichte auf den Sozialen Medien wie Facebook, oder Instagram. Von den klassischen Medien nutzen immerhin noch 81 % das laufende TV-Programm, 82 % hören live Radio, 56 % lesen Zeitungen/Zeitschriften sowie 41 % mindestens einmal pro Woche gedruckte Bücher.

Eine Folge der rasanten Verbreitung des Internets ist, dass sich die zu Beginn bestehenden Zugangsklüfte verringert haben. Aber auch heute noch haben jüngere, gebildete und einkommensstarke User mehr Zugang zum Internet und nutzen dieses auch informationsorientiert häufiger und länger. Es bestehen aber nach wie vor ebenso soziale Disparitäten in der Nutzung der klassischen Medien .

Während weniger Gebildete und Mediennutzer aus sog. Interner Link: Hedonistischen Milieus politisch weniger interessiert sind und sich verstärkt über das Fernsehen informieren, ist das Interesse am politischen Geschehen bei den Gebildeteren und im sog. „Gesellschaftlichen Leitmilieu“ deutlich stärker ausgeprägt, und die Tagespresse hat als Informationsquelle eine größere Relevanz.

Interessant ist, dass verschiedene Kommunikationswissenschaftler wie beispielsweise der Amerikaner John Zaller vor einiger Zeit versucht haben, das Negativ-Image des Fernsehens als sog. „Null-Medium“ abzubauen: Sie heben hervor, dass auch weniger Gebildete und politisch wenig Interessierte quasi durch zufällige oder versehentliche Nebenbei-Nutzung aktuelle Themen aufnehmen können, sofern über diese prominent in den Medien berichtet wird.

In Anlehnung an eine gängige Alarmanlage ist vom sog. „Burgler Alarm“ die Rede: Man müsse die bestehenden demokratietheoretisch basierten Anforderungen an eine aktive und aufmerksame Mediennutzung durch die Bürger zurückschrauben. Nach Zaller genügt es schon, wenn Bürger die Medien nur oberflächlich und kaum informationsorientiert nutzen, weil die Medien in Krisensituationen zu intensiver Kommunikation greifen und so quasi einen „Alarm“ auslösen würden, sodass auch politisch uninteressierte durch die oben erwähnte zufällige Nutzung auf das jeweilige Thema aufmerksam würden. Allerdings sind seine Überlegungen nicht unwidersprochen geblieben.

Politisches Interesse und Aufmerksamkeit für Politik in den Medien

Nach den Resultaten der Studie „Massenkommunikation“ gaben 2010 70 % der Befragten in Deutschland ab 14 Jahren an, sich „sehr“ oder „etwas“ für Politik zu interessieren und 2020 wurde dieser Wert mit 84 % sogar deutlich übertroffen, wobei dieser Anstieg vielleicht durch den damaligen Corona-Lockdown beeinflusst wurde. Nach aktuelleren Daten von Statista vom Juni 2023, basierend auf der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren, interessierten sich insgesamt 49,21 Millionen Deutsche an Politik: 16,46 Mio. „interessiert mich ganz besonders“ und 32,75 Mio. „interessiert mich auch, aber nicht so sehr“. Demgegenüber gaben 20,87 Mio. an, „interessiert mich kaum, gar nicht“ jedoch 12,36 Mio. „bin interessiert und gebe öfter Ratschläge, Tipps“ sowie 14,94 Mio. „über dieses Thema informiere ich mich häufiger im Internet“.

Das politische Interesse ist zudem gesellschaftlich ungleich verteilt: Ältere und gebildetere Menschen, und insbesondere Männer interessieren sich deutlich stärker für Politik. Alter, Bildung und Geschlecht sind also wichtige Faktoren bei der ungleich verteilten Medienaufmerksamkeit. Während 2010 jedoch nur 70 % der Befragten angaben, sich „sehr“ oder „etwas“ für das politische Geschehen zu interessieren, waren es 2020 mit 84 % deutlich mehr.

Medienfunktionen im Vergleich

Medienfunktionen im Vergleich 2005 bis 2020 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

In der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation 2015 bzw. 2020 werden die Befragten neben Reichweite und Nutzungsdauer sowie Beachtung von Politik in den Medien ebenfalls gebeten, ihre Nutzungsgründe für die einzelnen Medien wie gedruckte Zeitungen/Zeitschriften, Artikel/Berichte auf Websites oder in Apps von Zeitungen/Zeitschriften, Fernsehen zum Zeitpunkt der Ausstrahlung und Radio zu nennen, wobei hier zwischen kognitiven, affektiven und sozialen Funktionen unterschieden wird (vgl. Tabelle: Medienfunktionen im Vergleich (2020).

Gedruckte Tageszeitungen und Zeitschriften werden hauptsächlich zur Information genutzt (90 %) und weil man Denkanstöße bekommt (74 %), aber vor allem auch, weil man selbst bestimmen kann, wann und was man nutzen will (81 %), und schließlich auch, damit man mitreden kann (67 %). Dies gilt übrigens genauso für Artikel und Berichte auf Websites oder in Apps von Zeitungen und Zeitschriften. Interessant ist, dass sowohl beim Fernsehen als auch beim Radiohören die Informationsfunktionen mit 81 % gleich wichtig sind. Im Medienvergleich dominiert beim Fernsehen die Entspannung mit 74 %, während Radio mit 82 % gehört wird, weil es Spaß macht. Gedruckte Zeitungen und Zeitschriften stehen zudem im Medienvergleich an der Spitze, weil es dort Inhalte gibt, welche ihre Leserschaft offenbar nur dort findet.

Nutzungsdauer

Zusammenfassend betrachtet steht nach der ARD/ZDF-Onlinestudie von 2022 (vgl. Beisch/Koch 2022) die Internetnutzung mit einer Tagesreichweite von 72 % und einer täglichen Nutzungsdauer von 160 Minuten an der Spitze, und zwar noch vor der Individualkommunikation im Web wie Chatten, E-Mail, Messenger, WhatsApp mit 45 % Tagesreichweite und 59 Minuten pro Tag.

Im Vergleich dazu ist die aktive Individualkommunikation in den Sozialen Medien mit Aktivitäten wie etwas liken, teilen, posten oder einen Feed anschauen mit Tagesreichweiten von nur 16 % und mit einer Nutzungsdauer von 16 Minuten deutlich seltener, wird jedoch im Altersvergleich vom Segment der 14- bis 29-Jährigen täglich am häufigsten ausgeübt:

  • Tagesreichweite medialer Internetnutzung 97 % und 284 Minuten pro Tag,

  • Individualkommunikation Online 62 % und 100 Minuten pro Tag und

  • Soziale Medien 39 % und 39 Minuten pro Tag.

Die bis jetzt präsentierten Befunde geben jedoch noch keine direkte Antwort auf die oben gestellte Frage nach der aktiv-politikorientierten Nutzung des Internets. Die Externer Link: ARD/ZDF-Onlinestudien liefern dazu mit ihren Erhebungen weiterführende Hinweise. Während private Netzwerke und Communitys (z. B. Facebook) im Jahr 2013 immerhin von 46 % der Onliner zumindest gelegentlich genutzt wurden, lag der entsprechende Wert für berufliche Netzwerke (z. B. Xing, LinkedIn) mit 10 % deutlich tiefer . Die Nutzung von Weblogs (zumindest gelegentlich) stieg im Jahr 2014 auf 16 %, 2012 waren es noch lediglich 7 %, und die Nutzung von Twitter (seit 2023: X) lag im Jahr 2014 noch bei 9 %.

Nach der ARD/ZDF-Studie Massenkommunikation von 2020 gaben 58 % der Befragten ab 14 Jahren an, sich „am ehesten“ über öffentlich-rechtliche Radio- / Fernsehanbieter über das politische Geschehen zu informieren, bei 24 % hatten Zeitungen / Zeitschriften Priorität („egal ob gedruckt oder im Internet“), aber nur bei 8 % private Radio- / Fernsehanbieter. Aber nur 5 % nannten Facebook, Instagram oder andere soziale Medien und 4 % YouTube oder andere Videoplattformen .

Im Vergleich dazu gaben in einer aktuellen repräsentativen FORSA-Studie von 2021 zwar immer noch 67 % das Fernsehen als bevorzugte Informationsquelle bei Wahlen an, aber schon 49 % nannten das Internet (z.B. Google-Suche oder Wikipedia), und zwar noch vor persönlichen Gesprächen mit 47 % .

2023 gibt der Digital News Report des Reuters Institute repräsentative Befunde zu den genutzten Nachrichtenquellen: 21 % Print, 29 % Social Media, 59 % Fernsehen und 63 % Online inklusive Social Media. – Die Nutzung von Nachrichten bzw. News hat sich also in den letzten Jahren stark auf das Internet verschoben, wobei das Fernsehen als Informationsquelle an Bedeutung verloren hat, nämlich von 82 % 2013 auf 59 % 2023. Aber auch die Printmedien waren betroffen, und zwar mit einem Rückgang von 63 % 2013 auf nur noch 21 % 2023 .

Bildungs- und schichtspezifische Zugangsklüfte

Schließlich ist bezüglich Nutzung und Wirkung von Medien über die nach wie vor bestehenden Zugangsklüfte – Stichwort „Digital Divide“ – hinaus nach deren gesellschaftlichen Konsequenzen zu fragen. Die Wissenskluft-Perspektive, 1970 formuliert und seither mit vielfältigen empirischen Belegen unterfüttert , stellte erstmals den populären Glauben infrage, wonach die Medien im Sinne der sozialen Integration zur Informiertheit aller in der Gesellschaft beitragen. Sie besagt dagegen, dass die durch die Medien verbreitete politische Information tendenziell eher zu verstärkten Wissensklüften zwischen den verschiedenen sozialen Segmenten führt.

Dies nicht zuletzt, weil bildungs- und statushöhere Mediennutzer:

  • die informationsreichen Printmedien stärker als Informationsquellen nutzen,

  • über mehr thematisches Vorwissen und

  • bessere Medienkompetenzen verfügen,

  • stärker an politischer Information interessiert und auch

  • in umfassendere soziale Netzwerke eingebettet sind.

Bezüglich des Internets bedeutet dies Folgendes:

Es bestehen nicht nur alters-, geschlechts- und bildungs- sowie schichtspezifische Zugangsklüfte . Sondern auch auf den nachgelagerten Ebenen der Nutzung, Rezeption und Wissensaneignung wird das Internet von den weniger gebildeten und statustieferen Nutzern weniger informations- bzw. politikorientiert benutzt. So nutzten beispielsweise nach der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation (Breunig/Engel 2015) im Jahr 2015 93 % der Onliner mit mindestens Abitur das Internet, weil sie sich informieren möchten, aber nur 87 % der Onliner mit Volks-/Hauptschule. Die bildungsspezifischen Unterschiede in der Mediennutzung zur politischen Information äußern sich zudem noch stärker, wenn man nicht nur die Onliner fokussiert, sondern die Gesamtbevölkerung betrachtet. So nutzen nach Bernhard/Dohle/Vowe (2014, S. 161) 44,9 % der Personen mit Hochschulreife Nachrichtenseiten im Internet mindestens mehrmals pro Woche, aber nur 14,4 % jener mit Hauptschulbildung. Im Umgang mit dem Internet ergeben sich also ebenfalls die schon bei den klassischen Medien festgestellten Wissensdisparitäten allein schon durch dessen bildungsspezifischen Zugang, aber auch Nutzung.

Solche nach wie vor bestehenden alters-, geschlechts- und bildungsspezifischen Disparitäten zeigen sich auch in der aktuellen JIM-Studie von 2021 zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland wie beispielsweise Buchlesen oder Tätigkeiten im Internet und in den Sozialen Medien : Während beispielsweise 30 % der Hauptschüler täglich oder mehrmals pro Woche YouTube und 27 % TikTok nutzen, tun dies nur 24 % resp. 19 % der Hauptschüler. Umgekehrt sind die Werte für die Nutzung der Onlineangebote von Zeitungen/Zeitschriften oder spezieller Nachrichten-Apps mit 20 % resp. 19 % bei den Gymnasiasten deutlich höher als bei den Hauptschülern mit nur 11 % resp. 12 %.

Dies gilt ebenso für die politische Partizipation: Auch hier bewirken die neuen, medientechnologischen Möglichkeiten des interaktiven Internets nicht bei allen Nutzern verstärkte politische Partizipation. Sondern letztlich schöpfen nach den vorliegenden Studien vor allem die bildungs- und statushöheren Nutzersegmente das Partizipationspotential des Internets besser aus.

Interessant ist, dass in einer aktuellen Studie von Geese/Hess (2021) zur Nutzung und Bewertung von medialer Wahlinformation zur Bundestagswahl 2021 , das Fernsehen von 68 % der wahlberechtigten Personen ab 18 Jahren nach wie vor an erster Stelle als Informationsquelle im Wahlkampf genannt wird, und zwar noch vor dem Internet von 48 %, Zeitungen von 36 %, Radio von 31 % und Zeitschriften von 14 %, aber Soziale Netzwerke erst von 24 %. Fernsehen mit 51 % vs. 25 % und Zeitungen mit 22 % vs. 12 % sind die wichtigsten Informationsquellen der Altersgruppe ab 50 Jahren im Vergleich zu den 18 bis 49-Jährigen, wobei die jüngeren Wahlberechtigten das Internet mit 40 % vs. 13 % und Soziale Netzwerke mit 14 % vs. 1 % deutlich stärker nutzen.

Dabei wird der Informationswert von Interview- und Diskussionssendungen mit Politikern sowie von Reportagen und Dokumentationen von je rund 60 % aller Befragten ab 18 Jahren am besten bewertet, während der Informationswert von Werbespots der Parteien mit nur 21 % als gering betrachtet wird. Und im Medienvergleich wird die Informationsqualität von ZDF mit 69 % und Das Erste mit 66 % deutlich besser bewertet als jene von RTL mit 32 % oder ProSieben sowie Sat. 1 mit je 27%.

Trotz der relativ geringen Werte für die Nutzung Sozialer Netzwerke nach der Studie von Geese/Hess von 2021, zeigt eine weitere Studie „Intermediäre und Meinungsbildung mit Fokus auf die Wahrnehmung politischer Werbung im Superwahljahr 2023“ von GfM (2021), dass insgesamt zwei Drittel der Befragten ab 14 Jahren in Deutschland im Sommer 2021 politische Botschaften auf Facebook, Instagram, Twitter (seit 2023: X) oder TikTok wahrgenommen hatten, wobei im Vergleich Parteibotschaften mit 38 % am häufigsten bewusst gesehen worden waren.

Auch wenn Internet und mit ihm das Social Web bzw. die Sozialen Netzwerke auf gesellschaftlicher Ebene mehr und neue Möglichkeiten nicht zuletzt der interaktiven Kommunikation in Foren und Blogs bereitstellen und ermöglichen, so dominieren auch hier nach wie vor die ressourcenstarken (politischen) Akteure der Offline-Welt. Neue Funktionen der Online-Kommunikation machten sich bislang vor allem durch Mobilisierung in Wahlkämpfen oder Bürgeraktionen bemerkbar, wie etwa der US-Wahlkampf von Barak Obama oder auch die Strategien von Donald Trump illustrieren.

Fazit

Zwar sind empirische Studien auf Ebene der Nutzer im deutschen Sprachraum zum politischen Umgang mit dem Internet und den Sozialen Netzwerken noch spärlich. Die vorliegenden Befunde wie jene der oben zitierten Wahlstudie von Geese/Hess (2021) deuten allerdings in die Richtung, dass das Ideal der aktiven politischen Online-Teilnahme im Vergleich zur Nutzung der weiterhin dominierenden klassischen Massenmedien (Fernsehen und Zeitung) als wichtigste Quellen politischer Information der Bevölkerung nach wie vor auseinanderklaffen. So wurden beispielsweise von den Wahlberechtigten ab 18 Jahren die Sozialen Netzwerke nach wie vor nur von Minderheiten als Informationsquelle benutzt: 15 % YouTube, 12 % Facebook, 10 % Instagram, 5 % Tik Tok und 4 % Twitter (seit 2023: X).

Die Beziehung zwischen dem Internet und den herkömmlichen Formen der politischen Partizipation scheint jedoch eine der Komplementarität (d. h. der Zusammengehörigkeit scheinbar widersprüchlicher, sich aber ergänzender Eigenschaften) und nicht eine der Verdrängung zu sein. Hinzu kommt, dass auch das Internet die bestehenden sozialen Ungleichheiten nicht einfach quasi medientechnologisch zu neutralisieren vermag. Letztlich fungieren Medien als Trendverstärker, indem bestehende Ungleichheiten bezüglich ökonomischer und sozialer Ressourcen, (Medien-) Kompetenzen und politikbezogener Motivation nicht eingeebnet, sondern tendenziell verstärkt werden.

Die Wissenskluft-Perspektive wird darum auch mit Interner Link: Matthäus-Effekt umschrieben, was bedeutet: Wer hat (Wissen), dem wird gegeben (Wissenszuwachs). Die neuen interaktiven Möglichkeiten des Internets sind zwar notwendig, aber nicht auch schon hinreichend zur Generierung von mehr politischer Partizipation. Zwar reduziert die Zugänglichkeit zu mehr Information und Kommunikation die Kosten, was Informationssuche und -nutzung anbelangt, und das Social Web erleichtert zweifelsohne die Mobilisierung von Bürgern. Aber die neuen digitalen Möglichkeiten werden verstärkt von jenen genutzt, welche politisch sowieso partizipieren und handeln wollen. Hinzu kommt, dass die Nutzer der Social Media sich oft in Meinungsblasen bewegen und nur selbstbestätigende Informationen aufnehmen und für Fake News sowie Desinformation empfänglich sind.

Trotz dieser ambivalenten Entwicklungen ist das Medienvertrauen nach der Mainzer Langzeitstudie stetig von 28 % „voll und ganz“ im Jahr 2015 auf 56 % 2020 gestiegen; trotzdem meinte 2020 eine Minderheit von 16 %, dass man den Medien eher oder sogar überhaupt nicht vertrauen könne. Und nach dem Digital News Report von Reuters 2022 vertrauen sogar 50 % der Bevölkerung in Deutschland den Medien und rund 40 % nehmen weder von der Politik noch von der Wirtschaft einen Einfluss auf die Medien wahr .

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Zillien, Nicole / Haufs-Brusberg, Maren (2015): Wissenskluft und Digital Divide. Baden-Baden: Nomos.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Luhmann 1996.

  2. Vgl. Bonfadelli/Friemel 2017, S. 188ff., Matthes 2014, Wehling 2016.

  3. Beck 2007, S. 87 ff und Neverla/Schäfer 2012.

  4. Z. B. Schiffer 2005, Ahmed/Matthes 2017, Bonfadelli/Debrunner 2019.

  5. Vgl. Jarren et al. 2012.

  6. Hoffmann/Raupp 2006, Raupp 2021.

  7. Vgl. Bernhard/Scharf 2008, Beck 2023.

  8. Vgl. Imhof et al. 2006; Schulz 2008, S. 31ff.

  9. Vgl. Imhof 2006, Donges 2020.

  10. Vgl. Jarren 2012.

  11. Vgl. Arnold 2008, Udris 2020.

  12. Maurer/Reinemann 2006, S. 28.

  13. Vgl. Patrick Donges: Bildung und Information als Auftrag – sind die Medien in der Pflicht?

  14. Vgl. hierzu Russ-Mohl, 1992.

  15. Vgl. Russ-Mohl 1992.

  16. Vgl. Daschmann 2009, Udris 2020.

  17. Vgl. Wyss 2008.

  18. Vgl. Schrape 2011.

  19. Vgl. Scherer 1998, Winkel 2001.

  20. Emmer/Bräuer 2019, Emmer/Vowe 2010, Imhof et al. 2015.

  21. Beisch/Koch 2022.

  22. Vgl. Weichert 2014.

  23. Vgl. Neuberger 2012, Hanitzsch 2019.

  24. Vgl. Eilders 2011, Ziegele 2016, Bosshart 2016.

  25. Vgl. Emmer 2023, Winter/Wixforth/Siemers 2020.

  26. Vgl. Neuberger 2012, S. 60, Hanitzsch/Seethaler/Wyss 2019, Hooffacker/Kenntemich/Kulisch 2019.

  27. Vgl. Holtz-Bacha 1998, Holtz-Bacha/Peiser 1999, Eisenegger et al. 2021, Jarren/Fischer 2022.

  28. Vgl. Schrape 2011; Maurer 2017.

  29. Vgl. Bonfadelli/Friemel 2017, S. 173 ff.

  30. Vgl. Best/Handel 2015, Breunig/Handel/Kessler 2020, Kupferschmitt/Müller 2020.

  31. Vgl. Kupferschmitt/Müller 2020, Beisch/Koch 2022. Externer Link: https://www.ard-zdf-onlinestudie.de/.

  32. Vgl. Breunig/Handel/Kessler 2020, Beisch/Koch 2022. Vgl. ARD/ZDF-Onlinestudie 2020: Externer Link: http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/index.php?id=535.

  33. Vgl. Zilien 2009, Zilien/Haufs-Brusberg 2015, Bonfadelli 2019.

  34. Vgl. Engel/May 2015.

  35. Vgl. Marcinkowski 2010.

  36. Enzensberger 1988.

  37. Vgl. Breunig/Handel/Kessler 2020, S. 620 und auf Externer Link: https://de.statista.com/.

  38. Vgl. Engel/Breunig 2015 und Breunig/Handel/Kessler 2020.

  39. Vgl. Eimeren/Frees 2014, Breunig/Handel/Kessler 2020.

  40. Vgl. hierzu Externer Link: ARD/ZDF-Onlinestudie 2014, Tabelle: "Nutzung von Web-2.0-Anwendungen 2007 bis 2014" S. 388, die differenzierte Erhebung der Nutzung privater bzw. beruflicher Communitys wurde das letztmalig im Jahr 2013 durchgeführt.

  41. ARD/ZDF-Massenkommunikation (2020): Langzeitstudie im Auftrag der Forschungskommission. Vgl. auch Breuning/Handel/Kessler 2020, S. 623, Abbildung 18: Persönliches Informationsverhalten in Bezug auf politisches Geschehen 2020: „Wo informieren Sie sich über das politische Geschehen?“

  42. FORSA-Studie von 2021: Vgl. Landesanstalt für Medien NRW 2021.

  43. Vgl. Reuters Institute 2023, S. 77.

  44. Vgl. Wirth 1997, Bonfadelli 2007 + 2019, Zilien 2013, Zilien/Haufs-Brusberg 2015.

  45. Vgl. Frees/Koch 2015 + 2018.

  46. mpfs Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2021.

  47. Vgl. Marr/Zillien 2019.

  48. Vgl. Schwerpunktstudie Politische Kommunikation im Wahljahr (die-medienanstalten.de): Externer Link: https://www.die-medienanstalten.de/fileadmin/user_upload/die_medienanstalten/Forschung/Intermediaere_und_Meinungsbildung/Schwerpunktstudie_Politische_Kommunikation/Schwerpunktstudie_Politische_Kommunikation_2021_Ergebnisbericht.pdf

  49. Vgl. Bonfadelli 2009 + 2019, Zillien 2013, Zilien/Haufs-Brusberg 2015.

  50. Vgl. Externer Link: https://medienvertrauen.uni-mainz.de/forschungsergebnisse-der-welle-2020-3 bzw. Pregel 2022.

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Dr. Heinz Bonfadelli ist emeritierter Professor für Kommunikationswissenschaft am IKMZ – Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Er beschäftigt sich in seiner Forschung sowohl mit der Medienrealität als auch mit Fragen der Nutzung und Wirkung von Medien.