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Brasilien: Aufstand der Obdachlosen

zibechi Raúl Zibechi

/ 14 Minuten zu lesen

Ende März riefen in Brasilien obdachlose Arbeiter zu Kundgebungen und Protesten in den großen Städten auf. Damit sollte auf die prekäre Wohnungssituation großer Teile der Bevölkerung aufmerksam gemacht werden.

Das Obdachlosen Lager "Chico Mendes"

Lateinamerika gehört zu den Regionen, in denen die Schere zwischen Reich und Arm am weitesten auseinanderklafft. Zu der großen Masse der Armen zählen auch die 4,2 Millionen Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen gezwungen sahen, ihre Heimatorte zu verlassen. Neben kriegsähnlichen Zuständen wie in Kolumbien führt auch die in den 1890er Jahren angekurbelte Privatisierungswelle zu massiven Migrationsbewegungen. Gerade die Privatisierung staatseigener Ländereien und die Niederlassung großer internationaler Konzerne des Agrarbusiness hatten zur Folge, dass Tausende von Bauern und Indigenen in Ländern wie Mexiko, Paraguay, Brasilien und Argentinien notdürftig Unterkunft in den Elendsvierteln der Großstädte suchen mussten.

Im spezifischen Fall Brasiliens führt die dadurch verursachte akute Wohnungsnot zu wiederholten Grundstücksbesetzungen der obdachlosen Arbeiter. Dabei kommt es immer wieder zu Zwangsräumungen, die üblicherweise von Helfern großer Bergbau- und Forstwirtschaftskonzerne durchgeführt werden.

Der Aufstand der Obdachlosen

Ende März 2008 besetzten 150 Aktivisten der MTST das 40.000 qm große Gelände Jardin Olinda

Ende März besetzten 150 Aktivisten der Bewegung der obdachlosen Arbeiter (Movimento dos Trabalhadores Sem Teto – MTST) das 40.000 qm große Gelände Jardim Olinda gegenüber der am Rande von Sao Paulo gelegenen Gemeinde Mauá. Besitzer des Geländes ist das Unternehmen Arenaterra Empreendimentos Imobiliarios, das Grundsteuerschulden von (umgerechnet) 240.000 Euro aufweist. Wenige Tage später war der Jardim Olinda bereits von 600 Familien besetzt. Die Nachricht der Besetzung hatte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet, in der Tausende von Familien aus den ärmsten sozialen Schichten kaum ihre Mieten bezahlen können. (Quelle: Diario do Grande ABC, 1. April 2008. Weitere Information auf der Website der Methodistischen Universität vom 21. Mai 2008)

Die Besetzung im Großraum Sao Paulo (mit geschätzen 20 Millionen Einwohnern) erfolgte im Rahmen eines für den 29. März 2008 angesetzten nationalen Tages des urbanen Kampfes. Bei Aktionen der Bewegung der Landlosen kam es zu gleichzeitigen Aktionen in neun Bundesstaaten. Schätzungen zufolge fehlen in Brasilien gegenwärtig acht Millionen Wohnungen und weitere acht Millionen Familien leben in menschenunwürdigen Bedingungen in den Großstädten. Die Bewegung fordert deswegen die Verstaatlichung von Grundstücken, die steuerlich hoch verschuldet sind. Dabei wird das Ziel verfolgt, auf diesen Grundstücken obdachlose Familien ansiedeln zu können. Der Aktionstag im Jardín Olinda

Die Besetzung begann am späten Nachmittag. In nur wenigen Stunden hatten die Besetzer mit Pflöcken, Planen, Hammern und Nägeln eine erste Zeltstadt errichtet. Das Camp gliedert sich nach einem einfachen Grundriss und sieht neben Wohnflächen auch Flächen für Gemeinschaftsdienste vor. Die Trassen künftiger Straßenzüge wurden ebenfalls berücksichtigt. Die ersten Besetzer schlugen ihre Zelte unmittelbar neben den für die Gemeinschaftsdienste reservierten Bereich auf. Familien, die erst später ankamen, ließen sich dagegen auf den entfernter gelegenen Hügeln nieder. Aktivisten der MTST bauten erste Latrinen und richteten eine Gemeinschaftsküche ein. Der erfolgreiche Verlauf einer Besetzung hängt in der Regel davon ab, dass sich die Bevölkerung rasch anschließt, um einem gerichtlichen Räumungsbescheid vorzubeugen. Je mehr Leute beteiligt sind, umso größer ist die Aussicht auf Erfolg. Größere Besetzungen sind nur schwer ohne Gewalt zu räumen, so dass die Justiz in diesen Fällen immer Verhandlungen vorzieht, bei denen man eine zu strenge Vollziehung des Gesetzes meidet.

Mitte April hatte sich die Zahl der Bewohner auf 1.532 eingependelt. Das anfängliche Chaos machte einer strengen Organisation Platz. Wer heute das Camp von draußen beobachtet, sieht zunächst nur gedrängte Zelte, Lehm, herrenlose Hunde und hoffnungsfrohe Menschen. Betritt man allerdings das Camp, so versetzt seine straffe Organisation die Besucher immer wieder in Staunen. Jeweils eine Gruppe von 30 Familien wählt einen Beauftragten, der sie bei den Versammlungen vertritt und ihnen die dort getroffenen Entscheidungen vermittelt. "Die Bewegung will keine Elendsviertel, keine Favelas errichten", sagt Joao Batista, Koordinator der MTST im Staat Sao Paulo, mit Blick auf die unstrukturierten und chaotischen Barrios in den Städten Brasiliens.

Im Lager gibt es keinen Strom und auch kein fließendes Wasser. Die Familien, die sich der Aktion angeschlossen haben, sehen in der Besetzung eine Möglichkeit, zu einer eigenen Wohnung zu kommen und keine Miete mehr für armselige Zimmer zahlen zu müssen. Die Besetzung muss in den ersten Wochen konsolidiert werden. Organisiert werden Protestmärsche, auf denen die Enteignung des Geländes und die Verlegung von Wasser- und Stromleitungen gefordert werden. Besonders wichtig ist der Zusammenhalt der Gruppe. Dabei geht es darum, Bewusstsein für das Kollektiv zu bilden, Verhaltensregeln aufzustellen und für das Überleben des Camps wesentliche Entscheidungen zu treffen. Das alles ist nicht einfach: neue Beziehungen müssen aufgebaut und kulturelle Regeln aufgestellt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Besetzer es gewohnt sind, ihre Entscheidungen individuell zu treffen.

Die Bewegung hat ein "Volksmanifest" herausgegeben, in dem darauf hingewiesen wird, dass die Favelados, also die in den Favelas lebenden Menschen, überwiegend Arbeitslose oder Arbeiter sind, die zu extrem prekären Bedingungen im informellen Sektor der Wirtschaft arbeiten. Diese Menschen "sehen sich einer Ausbeutung ausgesetzt, die ihnen Blut, Schweiß und manchmal Tränen abfordert", heißt es in dem Dokument. Angeprangert werden die miserablen Verkehrsbedingungen, das Fehlen von Kinderkrippen und Schulen. "In der Stadt des Profits gibt es keinen Platz für Arbeiter, für Farbige, für die Menschen aus dem Nordosten, aber auch keinen Platz für Frauen oder für die Arbeiter, die im Schweiße ihres Angesichts die Stadt erbaut haben". Der Nordosten Brasiliens ist das ärmste Gebiet des Landes, aus dem Millionen von Migranten in Süd- und Zentralbrasilien Arbeit zu suchen.

Die MTST fordert von der Regierung Lula ein Reformkonzept, bei dem die Interessen der Bevölkerung in den Mittelpunkt gestellt werden. In erster Linie geht es um eine zielgerechte Wohnungspolitik, um die Förderung des sozialen Wohnungsbaus, aber auch um eine öffentliche Verkehrspolitik, die Transportmittel kostenlos zur Verfügung stellt. Gefordert wird weiterhin die Schaffung von Arbeitsplätzen, die den Arbeitern des informellen Sektors eine Zukunftsperspektive bietet. Das Manifest wurde von mehreren Bewegungen obdachloser Arbeiter in Brasilien unterstützt. Befürwortet wurde das Dokument auch von der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin der PSOL und heutigen Senatorin Heloisa Helena, die das Lager Jardín Olinda persönlich besucht hat, sowie von Abgeordneten verschiedener Parteien, von Gewerkschaften und Intellektuellen wie Francisco de Oliveira und Ricardo Antunes.

Sie alle stimmen darin überein, dass die soziale Lage in den Städten Brasiliens unhaltbar ist und Maßnahmen dringend erforderlich sind. Bis 1940 lebten nur 31,2% der Bevölkerung in den Städten. Im Jahr 2000 waren es dagegen bereits 80% der Bevölkerung. Angesichts der massiven Landflucht forderte schon 1963 der Architektenkongress eine Stadtreform. Während der Militärdiktatur veröffentlichte 1978 die katholische Kirche ein Dokument, in dem sie auf die "soziale Funktion des städtischen Eigentums" (Quelle: "Açao pastoral e territorio urbano") hinwies.

2004 besuchte eine Delegation der Vereinten Nationen Brasilien, um sich ein Bild über die Wohnungssituation zu machen. Die Mission nahm schwerwiegende Anklagen wegen polizeilicher Brutalität bei den Räumungen von besetzten Gebäuden und Grundstücken entgegen und folgerte in ihrem Abschlussbericht: "Die Regierung sieht in dem Wohnungsraum kein Grundrecht, sondern eine Ware" (zitiert nach Le Monde Diplomatique, Ausgabe Oktober 2007). Das Problem wird dadurch erschwert, dass sich in den Metropolen wie Rio de Janeiro und Sao Paulo die Bevölkerung zusätzlich durch den Krieg der Drogenbarone um die Kontrolle über die Favelas bedroht fühlt. Die Obdachlosen sehen sich auch den Feindseligkeiten von evangelischen Sekten, kriminellen Vereinigungen und traditionellen Politikern ausgesetzt, die befürchten die Kontrolle über ihre jeweilige Klientel zu verlieren.

Die Protestler von Jardín Olinda konnten auf Erfahrungen anderer erfolgreicher Besetzer zurückgreifen. Ein besonderer Erfolg war die Besetzung des Geländes Anita Garibaldi in der benachbarten Gemeinde Guarulhos, ebenfalls im Großraum von Sao Paulo gelegen. Am 19. Mai 2001 besetzten dort ca. 300 Familien der MTST einen Landstreifen von 250.000 qm, den sie in 1.879 5 x 20 Meter große Grundstücke aufteilten. Sechs Jahre später – zwei davon verbrachten die Familien in Zelten – sind bereits die Wasserleitungen gelegt und die Stromversorgung errichtet. Die Zelte wurden durch selbstgebaute Holzhäuser ersetzt. Immer häufiger sieht man auch aus Ziegelsteinen gebaute Häuser.

Die Siedlung Anita Garibaldi wurde zusammen mit Studenten der Architekturfakultät der Universität Sao Paulo gestaltet und unterscheidet sich deutlich von den Favelas: Das Grundstück ist in zehn Straßenblocks aufgeteilt. Eine breit angelegte Hauptstraße ermöglicht die Durchfahrt von Autos und LKWs. Das Leben ist zwar weiterhin prekär und schwierig und die Armut unverkennbar, dennoch haben die Familien heute ein eigenes Dach über dem Kopf und brauchen keine Miete mehr bezahlen.

Die über 1.000 Besetzer von Jardin Olinda bemühen sich weiterhin die Voraussetzungen zu schaffen, die es ihnen ermöglichten hier eine endgültige Bleibe zu finden. Zu ihren Gunsten wirkt sich die Tatsache aus, dass die Eigentümerin des Grundstücks, das Immobilienunternehmen Arenaterra Emprendimientos Inmobiliarios, der Gemeinde umgerechnet 230.000 Euro Steuern schuldet. Der Wert des Grundstücks liegt bei 550.000 Euro, so dass die Besetzer eine Enteignung des lediglich Spekulationszielen dienenden Grundstücks für möglich halten.

Enge Verbundenheit zu der Bewegung der Landlosen

Die MTST geht auf eine Initiative der Bewegung der Landlosen (Movimiento de Trabajadores Rurales Sin tierra - MST) aus dem Jahre 1997 zurück. Gilmar Mauro, Mitglied des nationalen Vorstandes der MST erläutert die Gründe: "85% der brasilianischen Bevölkerung lebt heute in Städten. Über die Zusammenarbeit zu der MTST soll das Recht auf Land mit dem Recht auf städtischen Raum verbunden werden" (Quelle: Le Monde Diplomatique Oktober 2007). Die erste große Besetzung fand 1997 in der Stadt Campinas (Sao Paulo) statt und erhielt den Namen Parque Oziel zu Ehren einer der Opfer des Massakers von Eldorado de Carajás, bei dem 1995 19 Obdachlose ermodert wurden. Parque Oziel war zum damaligen Zeitpunkt eine der größten städtischen Besetzungsaktionen in Lateinamerika. An ihr beteiligten sich 5.200 Familien.

1998 erregte die MTST großes Aufsehen durch ihren Einsatz in den großen Favelas von Sao Paulo, Diadema und Guarulhos. Im gleichen Jahr wurde auch die Arbeit in Rio de Janeiro und im Nordosten aufgenommen. In dieser Region konnte die Bewegung in 27 Gemeinden von Recife, in zwei Gemeinden von Natal und in einer Gemeinde in Aracajú Fuß fassen. Verbindungen wurden auch zu anderen Gruppen geknüpft, die sich für das Recht auf Wohnung einsetzen, darunter zu der União Nacional por Moradia Popular, die sich für die Schaffung von Sozialwohnungen einsetzt. In Rio de Janeiro wurden wichtige Aktionen in Einkaufszentren und Großmärkten veranstaltet, die es ihnen ermöglichten 10.000 Sozialwohnungen im Westen der Stadt zu bekommen.

An der 2001 von der MTST initiierten Besetzung des Geländes Anita Garibaldi beteiligten sich an die 10.000 Personen. Im Jahr 2003 wurde das Camp Carlos Lamarca errichtet und die besonders großes Aufsehen erregende Besetzung Santo Dias in Sao Bernardo do Campo durchgeführt. Alle Aktionen fanden im Staat Sao Paulo statt. Bei Santo Dias ging es um ein von 300 Familien der MTST am 19. Juli 2003 besetztes Grundstück des VW-Konzerns. Der massive Andrang der folgenden Tage mit der Ankunft von 4.000 Familien zeigte die prekäre Wohnungssituation in der Region erneut eindringlich auf. Angesichts der erfolgreichen Besetzung schickte die sozialdemokratische Regierung des Staates Sao Paulo die Militärpolizei, riegelte das Camp mit Hubschraubern und Elitetruppen ab und griff am 9. August 2003 die Obdachlosen an. Etliche Personen wurden verletzt oder festgenommen, das Grundstück wurde geräumt.

Das im September 2003 eingerichtete Camp Carlos Lamarca am Rande von Sao Paulo sollte mehrfach gewaltsam geräumt werden, dabei wurden Kinder verletzt und Aktivisten verhaftet. Das Grundstück gehört einer Institution, die Waisenkinder betreute (der Lar Consolador Da Verdade) aber aufgrund einer Anzeige wegen Misshandlung geschlossen wurde. (Quelle: Folha de Sao Paulo, 9. Januar 2006) Da die Eigentümer vor Gericht stehen und die Gemeindesteuern seit 1997 nicht gezahlt werden, dürften die Familien kaum wieder vertrieben werden. Allerdings werden sie von der Polizei bedrängt, die "täglich die Armut und die Sozialbewegungen, die die ärmsten Schichen vertreten, kriminalisiert. Die Polizei verletzt die Menschenrechte nicht nur in den besetzten Grundstücken, sondern auch täglich in den Favelas der Randgebiete und geht dabei absolut ungestraft vor", beschreibt Helena Silveira von der MTST die Situation.

Volksbibliothek im Lager Chico Mendes

Das Camp Carlos Lamarca hat vor zwei Jahren eine Volksbibliothek eingeweiht, die durch Bücherspenden aus Venezuela unterstützt wurde. Das Camp bietet kulturelle Veranstaltungen. Außerdem wurde ein erster Gemüsegarten zur Selbstversorgung der Familien angelegt. Gegründet wurde eine Genossenschaft, die später auch Obst und Gemüse vermarkten soll. In dem Camp wohnen vorwiegend Arbeiter, die im informellen Sektor beschäftigt sind. Gut die Hälfte davon sind "Cartoneros", die in den Straßen der Stadt Altpapier und Pappe sammeln und zur Zeit bemüht sind, eine Genossenschaft aufzubauen, über die sie das eingesammelte Papier wiederverwerten und kollektiv verkaufen wollen.

2005 wurde auf Initiative der obdachlosen Arbeiter die Associação Periferia Activa (APA) gegründet, ein Dachverband von ca. 50 Gemeinschaften des Großraums Sao Paulo, der sich besonders durch ihren Einsatz in den Favelas auszeichnet. Zentrales Thema des ersten von APA im April 2007 in Joao Cándido abgehaltenen Seminars war der Kampf der Bewohner der großstädtischen Randgebiete um eine neue Gesellschaftsordnung. Die APA will selbst Lösungen für die Probleme bieten, ohne auf die Politik zu warten. Die Arbeit richtet sich sowohl "nach innen" als auch "nach außen". Zum einen geht es darum, das Gemeindeleben zu aktivieren, die Probleme gemeinsam anzugehen und Bildungsprojekte, kulturelle Aktivitäten, das Genossenschaftswesen sowie Sauberkeit und Gesundheit im Kollektiv zu fördern. Nach außen hin werden die Rechte der Bewohner vertreten und der Aufbau einer Interessensvertretung gefördert.

Ebenso wie die Bewegung der Landlosen verfügen auch die obdachlosen Arbeiter über eine nationale Koordinierungsstelle, Koordinierungsbüros in den verschiedenen brasilianischen Staaten und regionale Kollektive, die sich aus aktiven Mitgliedern zusammensetzen, die in den einzelnen Spontansiedlungen leben. Vor jeder Besetzung wird erst mit der örtlichen Bevölkerung die Lage erörtert und sichergestellt, dass die Nachbarn die Besetzung befürworten. Darauf folgt dann eine topografische Analyse des Ortes. Dabei werden Hänge und Böschungen ausgeschlossen, die für Siedlungszwecke wenig geeignet sind. Schließlich wird in Erfahrung gebracht, ob der Eigentümer Steuerschulden bei der Gemeinde hat. Erfolgreiche Besetzungen

Besonders erfolgreich verliefen bisher die Besetzungen im Großraum Sao Paulo. Bei der ersten Besetzung, die überhaupt in Brasilien stattfand, erwirkten die Familien die Enteignung des Grundstücks. Heute ist Parque Oziel eine Siedlung mit ausgebauter Infrastruktur und Daseinsvorsorge, in der ein ausgeprägter Gemeinschaftssinn herrscht. Es dürfte sich um die erfolgreichste Besetzung der MTST handeln.

Mitte März 2005 besetzte die MTST ein weiteres Grundstück. Auch dieses Grundstück diente vorher ausschließlich der Immobilienspekulation. Geplant war auf dem in Irapecerica da Serra bei Sao Paulo gelegenen Grundstück ein Golf-Club. Die nach der Besetzung entstandene Siedlung Joao Cándido verwandelte sich mit der Ankunft von Hunderten von Personen nach und nach in eine richtige Ortschaft und beherbergt heute an die 3.000 Familien. Ende März 2005, also nur wenige Wochen nach der Besetzung, kam es zu einem großen Protestmarsch von 5.000 Obdachlosen zur Stadtverwaltung von Sao Paulo. Unterstützt wurden die Demonstranten von Abgeordneten, führenden Politikern, der katholischen Kirche und der Bewegung der Landlosen.

Die Einwohner von Joao Cándido haben insgesamt 36 Gruppen zu jeweils 100 bis 120 Familien gebildet sowie Koordinatoren und Beauftragte für Disziplin, Infrastruktur und Gesundheit ernannt. Künstler boten Solidaritätskonzerte und Shows an und Studenten haben Theaterworkshops und Kulturabende durchgeführt. Nachmittags wurden Seminare für politische Bildung angeboten. In einem Interview mit Le Monde Diplomtique ("Sem teto acampan na beirada de Sao Paulo", Le Monde Diplomatique, Oktober 2007) wies Rosi Mari de los Angeles, Koordinatorin einer der Gruppe auf die Schwierigkeiten hin, die ein Zusammenleben so vieler Menschen unter erschwerten Bedingungen, ohne Wasser, Strom und privaten Rückzugsmöglichkeiten mit sich bringt. Zugleich wies sie aber auch auf den Enthusiasmus der Menschen in den Siedlungen hin. "In der Favela versucht jeder zu überleben wie er kann. Hier dagegen ist die Solidarität Regel Nummer eins", betont Rosi Mari. Für die obdachlosen Arbeiter ist die Siedlung zudem auch eine Art Bildungsstätte.

Zwei Monate nach Errichten des Camps wurde das Grundstück geräumt. Zuvor allerdings unterzeichneten die Besetzer eine Vereinbarung mit der Gemeinde Itapecerica da Serra. Darin verpflichtete sich die Gemeinde, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich anderswo niederzulassen. So haben die ersten 350 Familien, die keine Bleibe haben, bereits ein neues Camp errichtet.

Kultur-Guerrilla

Theater für die Kinder im Obdachlosen Lager 'Chico Mendes'

Unter den obdachlosen Arbeitern wird besonderen Wert auf kulturelle Aktivitäten gelegt. Jedes Wochenende werden Feste organisiert, Theateraufführungen und Videos gezeigt und Poesieabende veranstaltet. Besondere Aufmerksamkeit wird der Arbeit mit Kindern geschenkt. Dabei darf weder Musik noch Tanz fehlen. Capoeira, Forró und vor allem Rap und Hip Hop sind die bevorzugten Rhythmen der Jugend in den Favelas.

Die MTST setzt dabei auf die von ihr gegründeten Brigaden der Kultur-Guerrilla und nutzt die in mehr als drei Jahrzehnten gesammelte Erfahrung der Bewegung der Landlosen. Die Obdachlosen haben feste Beziehungen zur Hip-Hop-Szene entwickelt, einer kulturellen Widerstandsbewegung, die zu Beginn der 90er Jahre in den Armenvierteln der Großstädte entstanden ist. In einem Dokument der MTST heißt es dazu: "Über die Rap-Musik wird eine besonders scharfe und gezielte Sozialkritik geübt. Diese kämpferische Musik ist so machtvoll, dass sie eine wahre Revolution in der Köpfen der Menschen auslöst".

Die Soziologin Helena Abramo, der NGO Acción Educativa vertritt die Auffassung, dass sich die Jugendbewegungen der 80er und 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wesentlich von den Jugendbewegungen bis Ende der 70er Jahre unterscheiden. Ein erster Unterschied ist durch den sozialen Ursprung der Jugendlichen gegeben: in den 70er Jahren waren es vornehmlich Studenten der Mittelschicht, während es ab Ende der 70er Jahre Jugendliche aus allen Bevölkerungsschichten waren, die sich in ihrem Selbstverständnis nicht als Studenten definieren". Zudem sind die Jugendbewegungen heute eher auf Spaß und Kultur ausgerichtet, eine Tendenz die auf die Punk-Bewegung zurückgeht und zuerst in den Randgebieten der Großstädten aufkam.

Der Hip-Hop-Musik weist allerdings eine Besonderheit auf: ihre Vertreter und Anhänger sind überwiegend junge Farbige und oft "Opfer von Polizeigewalt". Darüber hinaus sind die Vertreter und Anhänger des Hip-Hops "stark territorial verbunden. Sie entwickeln eine starke Beziehung zu der Gemeinschaft und zu der Straßenkultur ihres Barrios. Damit üben sie einen großen Einfluss auf die eigene Gemeinschaft aus", rundet Abramo ab.

Die Hip-Hop-Szene in Brasilien ist hochgradig politisiert und hat im Rahmen des Weltsozialforums Porto Alegre eigene nationale Treffen organisiert. Nação Hip-Hop, Frente Nacional do Hip-Hop, Movimento Enraizados, Frente Brasileiro do Hip-Hop und Movimento Hip-Hop Organizado Brasileiro sind nur einige der Organisationen, in denen sich diese Bevölkerungsgruppen zusammengeschlossen haben und die mit politischen Parteien und anderen Institutionen eng zusammenarbeiten. Marcelinho Buraco, einer der bekanntesten Vertreter des Hip Hop weist allerdings zu recht darauf hin, dass " Repräsentation" nicht die Stärke der Bewegung darstellt. Allein in den Favelas von Sao Paulo existieren rund 4.000 Rap-Gruppen. Von den Aufnahmen, Auftritten und Performances einer Gruppe leben jeweils 10 bis 12 Personen. Milton Salles, ein Veteran der Rap- und Hip-Hop-Musik schätzt, dass sich in diesem Staat rund 60.000 Personen "für das Ende des in den Favelas tobenden Krieges zwischen rivalisierenden Gruppen einsetzen, die die jungen Menschen in den Favelas umbringt". Die Kultur der Straße ist die wichtigste Waffe gegen die Gewalt".

Das "Bündnis" zwischen Obdachlosen und Jugendlichen der Hip-Hop-Bewegung hat sich ganz von selbst durch das Zusammenleben in den Favelas ergeben. Beide Gruppen werden von der Polizei verfolgt und lehnen sich gleichermaßen gegen Armut und ein sie ausgrenzenden System auf. Die MTST ist davon überzeugt, dass Rap und Hip-Hop neue Werte, soziales kulturelles und gemeinschaftliches Verhalten fördern und wie eine Art "Kultur-Guerrilla" eine sehr langsame, aber dauerhafte Veränderung bewirkt.

Quellen

  • Revista Caros Amigos, "De volta para o futuro", de Mariana Amaral, 31 de octubre de 2005.

  • Diario do Grande ABC, 12 al 7 de abril de 2008.

  • "Com ocupaçoes pelo Brasil movimento urbano busca rearticulaçao", Brasil de Fato, 1 de abril de 2008.

  • "Movimento Sem teto evita despejo", en Brasil de Fato, 19 de enero de 2006.

  • Movimento de Trabalhadores Sem Teto: www.mtst.info

  • "Sem teto acampan na beirada de Sao Paulo", Le Monde Diplomatique, octubre de 2007

Fussnoten

Raúl Zibechi, Jahrgang 1952 geb. in Montevideo, Uruguay, ist Journalist und für die Seiten "Internationales" bei der Wochenzeitung Brecha (Uruguay) verantwortlich, von 1990–1997 war er Korrespondent der argentinischen Tageszeitung Página 12. Er arbeitet als Kolumnist für die Tageszeitung La Jornada in Mexiko und ist Gewinner des Lateinamerikanischen Journalistenpreis "José Martí" 2003.Daneben ist als er Dozent und Forscher an der "Multiversidad Franciscana de América Latina" (Institut für Allgemeinbildung), Uruguay tätig.