Ein Nachdenken über das Jüdische Museum Berlin anlässlich 1.700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland katapultiert schlagartig in Gegenwart und Zukunft. Es gibt wohl kein zweites "Objekt", das die brennenden aktuellen Debatten um Interner Link: innerjüdische Aushandlungsprozesse, aber auch um jüdisch-deutsche Fragen so sichtbar macht wie dieses Museum.
Provenienz
Das Jüdische Museum Berlin
von Jo Frank
Das heutige Interner Link: Jüdische Museum Berlin ist nicht das erste Jüdische Museum der Hauptstadt: Im Januar 1933 - nur wenige Tage vor dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur - wurde das erste Jüdische Museum in Berlin eröffnet. Auf dem heutigen Gelände der Interner Link: Neuen Synagoge und des Centrum Judaicum in Berlin Mitte wurden Ausstellungen historischer Zeugnisse neben Werken jüdischer Künstlerinnen und Künstler der Moderne ausgestellt. Dieses erste Museum wurde im Zuge der Interner Link: Novemberpogrome 1938 gewaltsam geschlossen und sein Inventar von der Interner Link: Gestapo beschlagnahmt. Erst 1971, im Jahr der Feierlichkeiten zum 300-jährigen Bestehen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, wurde beschlossen, das stadtgeschichtliche Berlin-Museum im amerikanischen Sektor der Stadt zu einem Jüdischen Museum umzugestalten. Hierfür sollte der barocke Altbau des Kollegienhauses durch einen Neubau ergänzt werden. 18 Jahre nach diesem Beschluss und kurz vor der Implosion der Sowjetunion gewann Daniel Libeskind den Wettbewerb für die Erweiterung des Gebäudes in der Lindenstraße in Kreuzberg. 1992, ein Jahr nach dem Beginn der Interner Link: jüdisch-postsowjetischen Migration, wurde der Grundstein für den Neubau gelegt, zwei Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 das Gebäude der Bevölkerung übergeben. Seit 2012 ergänzt die W. Michael Blumenthal Akademie als Reflexions- und Entwicklungsort das Museum, und voraussichtlich 2021 wird ANOHA, die "Kinderwelt" des JMB eröffnet werden.
Historischer Essay
Die Besucher des Museums erleben, wie das außergewöhnliche Design des Museums die Komplexität jüdischen Lebens in Deutschland reflektiert.
von Jo Frank
Frustration und Freude
Jede*r Besucher*in erlebt das JMB anders. Aber allen Besucher*innen wird beim Gang durch das Museum immer wieder eines bewusst: diesem Gebäude kann man sich nicht entziehen. Das kann eine große Freude sein - wenn man körperlich begreift, wie kompromisslos und unnachgiebig das Gebäude ist, wie radikal der Bau die Komplexität jüdischen Lebens in Deutschland abbildet. Es kann aber auch frustrierend sein. Das Erlebnis des Scheiterns, die Unmöglichkeit, einfache Schritte zu gehen, das Laufen gegen Wände, das Verpassen von Eingängen.
Die Emotionen, die der Bau in seinen Besucher*innen weckt - Begeisterung, Verunsicherung, Ärger - spiegeln sich heute auch in den Affekten, die einige für die Arbeit des JMBs empfinden und in leidenschaftlichen Debatten in die Öffentlichkeit tragen. Gerade in den letzten Jahren ist das Museum zum "Objekt" geworden, an dem sich emblematisch zeigen lässt, wie Komplexitätsverweigerung zu Erlebnissen des Scheiterns und der Verärgerung führen muss.
Pluralität und Begehrlichkeit
Die heutige Jüdische Gemeinschaft zeichnet sich vor allem durch eines aus: Pluralität. Religiös, kulturell, national, sprachlich, politisch - die Gemeinschaft ist so vielfältig wie nie nach der Interner Link: Shoah. Geprägt ist sie von jungen, vornehmlich postmigrantischen Jüd*innen, die innerhalb der Community und darüber hinaus Gesellschaft mitgestalten, die vielfältigste jüdische Positionen in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. In den Wissenschaften, den Künsten, der Politik werden jüdische Stimmen selbstbewusster und fordernder. Dies ist auch u. a. der Arbeit von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und Institutionen zu verdanken, die unter der Prämisse arbeiten, dass jüdische Identität(en), dynamisch sind. Aus dieser Annahme folgt die Freiheit, sich auch von Zuschreibungen des Jüdisch-Seins befreien zu können und innerjüdischen Pluralismus als Selbstverständlichkeit zu begrüßen. Das bedeutet aber auch, dass stetig neue Bedürfnisse und Wünsche formuliert werden. Und eine Adressatin dieser vielfältigen Wünsche ist das Jüdische Museum Berlin.
"alle" und "alle"
Im Zentrum der Debatten der letzten Jahre steht die Frage: Wem gehört das JMB? Und, wichtiger noch: für wen ist das JMB? Die Frage, wem das Jüdische Museum gehört, ist schnell beantwortet: Das Museum ist eine Stiftung öffentlichen Rechts in der Verantwortung des Bundes. Somit kann auch die zweite Frage zügig beantwortet werden: für alle. Und dieses "alle" ist die größtmögliche Herausforderung. Dieses "alle" muss nämlich in der alltäglichen Arbeit des JMB berücksichtigt werden —ein Ding der Unmöglichkeit. Erst recht, wenn die Definition zur Disposition steht und der Kern der Frage eine andere ist: die nach dem Verhältnis Deutschlands zu Jüd*innen in Deutschland und vice versa. Die Vielfalt der Jüdischen Gemeinschaft und die Pluralität der Bedürfnisse sind neu. Sie sind aus historischen Gegebenheiten und einer über 20-jährigen Vernachlässigung der inneren Pluralität der Gemeinschaft erwachsen. Diese Vielfalt führt zwangsläufig auch zu Konflikten: In einem Land, in der Jüd*innen Minderheit sind, ist ein wichtiger Wunsch der nach Teilhabe - und wo, wenn nicht am Jüdischen Museum sollte diese realisiert werden? Wenn das JMB jüdische Geschichte und Geschichten, jüdische Positionen vermitteln soll, dann - so die Logik radikaler Vielfalt - dann doch bitte alle Geschichten, alle Positionen. Gerade zur Entstehungszeit dieses Beitrags gewinnt dieses Begehren eine besondere Dynamik: In einem Land, in dem jüdisches Leben und die Errungenschaften der letzten 25 Jahre wegen zunehmender antisemitischer Gewalt infrage gestellt werden, soll das JMB Antworten bieten, wo die deutsche Gesellschaft keine zu haben scheint. Die 2020 eröffnete neue Dauerausstellung hat den Mut, die heutige Vielfalt der Gemeinschaft nicht nur zu zeigen, sondern sie auch zu verteidigen - gerade gegen jene, die über das "Alle" meinen bestimmen zu können oder zu müssen. Dabei macht sie mehr als ein Zeigen und Vermitteln jüdischer Geschichte(n): Sie fokussiert jüdisches Leben in der Gegenwart in seiner Vielfalt und im Angesicht vielfältigster Herausforderungen.
Machloket - Streit und Erkenntnis
Museumsarbeit ist immer politisch, und sie ist es insbesondere bei einem Jüdischen Museum in der Hauptstadt Deutschlands. Das Jüdische Museum hat sich seiner Aufgabe, Ort von und für Aushandlungsprozesse zu sein, in seinen Wechselausstellungen, besonders aber in seiner Akademie gestellt. So wurde es zu einer Akteurin innerhalb dieser Prozesse und zwangsläufig auch zur Zielscheibe teils aggressiver Kritik - besonders jener, die Komplexität nicht so sehr schätzen. Und so unterkomplex die Beleuchtung von Konflikten, so unterkomplex die Konsequenzen: Anschuldigungen, Unterstellungen, Diffamierungen, Entlassungen. Zum Machloket, zum an Erkenntnis ausgerichteten Streit, gehört der Konflikt als heuristisches Prinzip dazu. Diese Streitkultur muss allerdings erkämpft werden. Gerade im jüdisch-muslimischen Dialog, auf den sich die Kritiker*innen besonders eingeschossen haben, haben Museum und Akademie ein zentrales Thema aufgegriffen: das Zusammenleben von Minderheiten in Deutschland. Sie haben die Pluralität der deutschen Gesellschaft thematisiert und den dringend benötigten Ort für Dialog und Disput geboten. Damit haben sie Pionierarbeit geleistet. Die Reflexion darüber, wie sich jüdische Identität unter den Bedingungen aktueller Diskurse um Minderheiten in Deutschland und Europa gestalten lässt, kann nur im Austausch mit Anderen gelingen - und in Zusammenarbeit mit der Mehrheitsgesellschaft wie anderen Minderheiten; ein "entweder oder" kann es hier nicht geben. Zusammenarbeit muss aber nicht gleich Allianz bedeuten. Die Stärke zeitlich begrenzter politischer Bündnisse zur Erreichung gemeinsamer Ziele oder gemeinsamer Positionierungen zu Themen wie Interner Link: Migration, Interner Link: Religionsfreiheit, Interner Link: Antisemitismus, Interner Link: strukturellem Rassismus - diese Stärke kann sich nur in intensiver Zusammenarbeit entwickeln. Um gesellschaftliche Veränderung zu erreichen, ist die Arbeit an Bündnissen und Beziehungen unerlässlich. Hierfür ist das Jüdische Museum Berlin eine wichtige Akteurin. Und es soll ein wichtiger Ort bleiben - ein Ort des lebendigen Diskurses, der vielen Perspektiven und des Machloket—gemeinsam mit "allen" und für "alle".
Persönliche Geschichte
Von Berlin nach Schanghai in die Vereinigten Staaten und zurück, war W. Michael Blumenthals Weg voller Herausforderungen und Erfolge.
von William H. Weitzer
Auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Architekturikone des Libeskind-Baus, befindet sich in der ehemaligen Blumenmarktgroßhalle die W. Michael Blumenthal Akademie des Jüdischen Museums. Die Akademie hat sich als vorrangige Aufgabe die Förderung des Dialogs und des Austauschs zwischen der jüdischen Gemeinde in Deutschland und der zusehends vielfältiger und multikultureller werdenden Mehrheitsgesellschaft gesetzt.
Wie aber kommt es, dass dieser wichtige Teil des Museumskomplexes diesen Namen trägt?
W. Michael Blumenthal wurde 1926 in Oranienburg geboren; er entstammte einer seit Generationen im Bankwesen tätigen jüdischen Familie, der es gelungen war, die sich um die Jahrhundertwende für Jüdinnen und Juden eröffnenden Chancen zu nutzen. Ab dem ersten Weltkrieg bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein waren die Umstände für alle in Deutschland schwierig, nicht nur für die jüdische Bevölkerung. Als Kind erlebte Blumenthal den Zusammenbruch der familieneigenen Bank, der dazu führte, dass seine Familie nach Berlin zog. In seinen Erinnerungen “From Exile to Washington” (Aus dem Exil nach Washington) erzählt Blumenthal von den Veränderungen in Berlin und in Deutschland, die zur Interner Link: Machtergreifung der Nationalsozialisten, zum zweiten Weltkrieg und zum Holocaust führten.
Als W. Michael Blumenthal 13 Jahre alt war, verließ seine Familie Deutschland und lebte während des Weltkrieges in Shanghai, wohin schätzungsweise 17.000 Jüdinnen und Juden aus Deutschland und Österreich geflüchtet waren. 1947 emigrierte er in die Vereinigten Staaten und begann nach seinem Studium in Berkeley und Princeton eine höchst erfolgreiche Karriere in der Wirtschaft und in der Politik, in deren Verlauf er unter anderem in der Regierung von Jimmy Carter als Secretary of the Treasury (Finanzminister) diente.
Insgesamt schien es, als hätte W. Michael Blumenthal Deutschland auf immer verlassen. Als jedoch sein Vater im Alter von 100 Jahren starb, so berichtet es der Sohn, "vererbte er mir nicht viel an weltlichen Gütern, aber auf eines war er besonders stolz: einen Stammbaum, in dem die Familie Blumenthal in Brandenburg bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt wurden. [...] Zunächst maß ich dem wenig Bedeutung zu, doch sollte dieses schlichte Dokument, das die Ursprünge meiner Familie nachzeichnet, innerhalb kürzester Zeit die folgenden Jahre meines Lebens verändern – bald darauf befasste ich mich sehr viel intensiver wieder mit deutschen Angelegenheiten, als ich mir je hätte träumen lassen."
Die Wieder-Befassung Blumenthals bestand darin, dass er als Gründungsdirektor des neuen Jüdischen Museums in Berlin berufen wurde, dessen Aufgabe und Mission er zu gestalten hatte. "Ich schlug als Ansatz vor, ein deutsches historisches Museum zu errichten, in dem die 2.000-jährige Geschichte der deutschsprachigen Juden von ihren Anfängen in der Römerzeit bis zur Gegenwart dargestellt würde." Unter seiner Leitung wurde das Museum im Jahr 2001 eröffnet; 2016 wurde ihm zu Ehren die Akademie des Museums in "W. Michael Blumenthal Akademie" umbenannt.
Aus Berlin nach Shanghai in die Vereinigten Staaten und dann wieder zurück nach Berlin – die Lebensreise von W. Michael Blumenthal ist eine Geschichte der Herausforderungen und des Erfolgs. Das Jüdische Museum zu gründen und mit Leben zu erfüllen ist ganz sicherlich eine der großen Leistungen seines Leben – eine, die als Teil des familiären Vermächtnisses zu verstehen ist, das sich in dem ihm hinterlassenen Stammbaum seines Vaters symbolisch niederschlägt.
Dieser Beitrag ist Teil des Externer Link: Shared History Projektes vom Externer Link: Leo Baeck Institut New York I Berlin.