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Soziale Bewegungen in Brasilien | Lateinamerika | bpb.de

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Soziale Bewegungen in Brasilien

Dana de la Fontaine Bernhard Leubolt Dana de la Fontaine und Bernard Leubolt

/ 7 Minuten zu lesen

Ein Zusammenschluss der wichtigsten sozialen Bewegungen in Brasilien unterstützt die derzeitige Regierung von Präsident Lula. Kritiker bemängeln jedoch diese Nähe, da sie die Unabhängigkeit der Organisationen gefährdet sehen.

Ein brasilianischer Lkw-Fahrer trägt Kunststoff-Fässer aus der Flasko Fabrik in Sumare, Brasilien. (© AP)

Die sozialen Bewegungen können in ihrer heutigen Ausprägung am besten beschrieben werden, wenn ihre historische Entwicklung bekannt ist. Daher wird eingangs erst die Entstehung dargestellt, um dann anschließend eine aktuelle Bestandsaufnahme durchführen zu können. In Brasilien gab es in den vergangenen Jahrzehnten drei Zyklen der Massenmobilisierung sozialer Bewegungen:

1. Ab dem Machtantritt der Regierung Getulio Vargas 1930 wurden nationalistische Bewegungen dominant, wobei oft starke Beziehungen zu kommunistischen Parteien bestanden. Als sich diese Bewegungen radikalisierten – was insbesondere während der Regierung von João "Jango" Goulart ab 1961 geschah – ergriffen Militärs die Macht und bildeten Militärdiktaturen.

2. Nach dem Vorbild der kubanischen Revolution von 1959 prägte bewaffneter Guerilla-Kampf im ländlichen und städtischen Bereich gegen die Diktaturen und für Sozialismus das Bild der 1960er- und 1970er-Jahre.

3. Ab der einsetzenden Demokratisierung in den 1980er-Jahren verlagerte sich das Engagement sozialer Bewegungen stark auf institutionelle Praxis und Widerstand gegen die aufkommende liberale Vorherrschaft. Speziell während der Zeit der Demokratisierung – im Übergang vom zweiten zum dritten Zyklus – waren soziale Bewegungen sehr präsent, da der Protest gegen die Militärdiktatur (1964-1985) breite Akzeptanz unter der Bevölkerung fand. Diese sozialen Bewegungen wiesen deutliche Unterschiede zu denjenigen der Zentrumsökonomien auf. Während letztere vorrangig aus der jüngeren Generation der Mittelschicht bestanden, waren es in Brasilien vor allem die Unterschichten, die die Stärke der Bewegung ausmachten. Bewegungen wie zum Beispiel die Umweltbewegung bekamen daher nicht die gleiche Bedeutung wie in Europa. In Brasilien war es in den 1980er-Jahren vor allem der Kampf um demokratische und soziale Rechte. Viele Bewegungen forderten im Zuge der ökonomischen Krise die Berücksichtigung ihrer materiellen Bedürfnisse ein – wie etwa Trinkwasser, Kanalisation, Wohnraum oder öffentliche Gesundheitsvorsorge –, politische Forderungen an den Staat, wobei sie gleichzeitig auf demokratische Mitsprache pochten. Obwohl der Höhepunkt der Mobilisierung mit der Konsolidierung der bürgerlichen Demokratie überschritten wurde, konnten die sozialen Bewegungen Brasiliens ihre Stärke relativ gut beibehalten, was hauptsächlich an der institutionellen Verankerung liegt.

Anschließend werden die aktuell einflussreichsten Bewegungen kurz dargestellt. Dies ist nicht einfach, da die Definitionen, was denn eigentlich genau eine soziale Bewegung sei, stark differieren. Außerdem ist es nahezu unmöglich, alle Bewegungen genau zu erfassen.

Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung (AB)

Geschichte

Entstand in den 1930er-Jahren. Wurde bis in die 1980er-Jahre vom Arbeitsministerium kontrolliert und finanziert. Eine Unabhängige AB gewann erst im "neuen Syndikalismus" ab den 1970er-Jahren an Bedeutung.

Ziele

Die AB ist institutionell und ideologisch zersplittert. Die "Central Única dos Trabalhadores" (CUT) fordert mehr Sozialpolitik, die Etablierung von Branchengewerkschaften und eine staatsunabhängige Gewerkschaftsfinanzierung. Die "Central Geral dos Trabalhadores do Brasil" (CGT) befürwortet ein neokorporatistisches System und die "Confederação Geral dos Trabalhadores" (CGTB) sowie die FS sind pragmatisch und unterstützen die neoliberale Reformpolitik.

Methoden

Seit den 1980er-Jahren werden die Interessen der Gewerkschaften in erster Linie durch die 1981 gegründete Arbeiterpartei "Partido dos Trabalhadores" (PT) und die Dachverbände CUT, CGT, CGTB und FS vertreten.

Persönlichkeiten

Der heutige Präsident Luiz Inácio "Lula" da Silva war seit den 1960er-Jahren in der Gewerkschaftsvertretung der Metallarbeiter aktiv und Mitbegründer der PT.

Landarbeiterbewegung (LB)

Geschichte

Bis in die 1950er-Jahre war die LB über den "Confederação Nacional dos Trabalhadores na Agricultura" (CONTAG) an den Staat annektiert. Mit Hilfe der Katholischen Kirche und der neuen AB bildete sich in den 1970er-Jahren eine autonome LB, aus der wiederum Landlosen- und Kleinbauernorganisationen entstanden. Die "Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra" (MST) ist dabei mit rund 1.5 Millionen Aktivisten die bedeutendste Bewegung.

Ziele

Die LB fordert eine Landreform mittels der Enteignung von unproduktivem Großgrundbesitz und eine Umverteilung an Kleinbauern. Zudem will sie Subventionen und Kredite erhalten und ein Ende der neoliberalen Landwirtschaftspolitik erreichen.

Methoden

Die LB versucht, ihre Ziele anhand direkter Verhandlungen mit der Exekutive durchzuführen. Land- und Straßenbesetzungen, Demonstrationen, Märsche und Medienkampagnen erzeugen Verhandlungsdruck.

Persönlichkeiten

João Pedro Stédile ist der bekannteste Aktivist der MST.

Schwarzenbewegung (SwB)

Geschichte

Die SwB bildete sich mit der "Frente Negra Brasileira" (FNB) der 1930er- und der "Associação Cultural do Negro" (ACN) der 1950er-Jahre. In den Siebzigern institutionalisierte sich die neue SwB mit der "Movimento Negro Unificado Contra a Discriminação Racial" (MNU).

Ziele

Bekämpfung der Rassendiskriminierung in der Gesellschaft und in der Politik. Zudem: Aufarbeitung der Sklaverei und Förderung der kulturellen Eigenständigkeit.

Methoden

Die SB artikuliert auf nationaler Ebene mittels des Rats "Conselho de Participação e Desenvolvimento da Comunidade Negra".

Persönlichkeiten

Die PT-Politikerin Benedita da Silva und der Musiker und derzeitige Kultusminister Gilberto Gil sind wichtige Vertreter der SwB.

Frauenbewegung (FB)

Geschichte

Die FB entsteht Anfang des 20. Jahrhunderts mit Gründung des Nationalen Frauenrechtsverbandes "Federação Brasileira pelo Progresso Feminino" (FBPF). Zu einer breiten und schichtübergreifenden FB kam es erst ab den 1970er-Jahren mit der Gründung des "Centro da Mulher Brasileira" (CMB) und den Frauenkongressen in Rio de Janeiro und São Paulo seit den Achtzigerjahren.

Ziele

Forderungen der FB sind die Gleichberechtigung, das Ende der Gewalt gegen Frauen und das Recht auf Abtreibung.

Methoden

Über die Etablierung eines nationalen Rats für Frauenrechte ("Conselho Nacional dos Direitos da Mulher") werden die Interessen der FB gegenüber dem Staat artikuliert.

Persönlichkeiten

Bertha Lutz ist Mitgründerin der FBPF. Romi Medeiros da Fonseca und Terezinha Zerbini führten den feministischen Widerstand in den 1970er- Jahren an. Marta Suplicy setzt sich heute noch für die sexuelle Aufklärung ein.

Indigene Bewegung (IB)

Geschichte

Vereinzelt entstand die IB ab den 1970ern, vor allem mit Unterstützung des Katholischen Indigenen Missionarsrats "Conselho Indigenista Missionário" (CIMI). Ein nationaler Rat wurde 1992 in Form des "Conselho de Articulação dos Povos e Organizações Indígenas do Brasil" (CAPOIB) gegründet.

Ziele

Staatliche Zuweisung von Territorien, rechtlicher Schutz und staatliche Dienstleistungen.

Methoden

Die IB ist weniger national als lokal aktiv. Ihre Forderungen stellt die IB zumeist direkt an die staatliche Indigenenbehörde "Fundação Nacional do Índio" (FUNAI).

Persönlichkeiten

Das Oberhaupt des Marubo-Stammes Clóvis Marubo und die indianische Schriftstellerin Eliane Potiguara sind wichtige Aktivisten der IB.

Bewegung der solidarischen Ökonomie (BSÖ)

Geschichte

Die Anfänge der BSÖ finden sich in einzelnen Initiativen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Erst im Rahmen der Weltsozialforen ab dem Jahr 2000 kam es zur nationalen Etablierung der BSÖ. So wurde im Jahr 2004 das brasilianische Forum für SÖ (FBES) als nationaler und regionaler Vertreter der BSÖ gegründet.

Ziele

Das FBES fordert die öffentliche Unterstützung für solidarisches Wirtschaften, solidarisches öffentliches Verwalten und für Förder- und Beratungseinrichtungen für SÖ.

Methoden

Versuch des direkten Einflusses auf die Exekutive über das Sekretariat zur Unterstützung der solidarischen Ökonomie (SENAES).

Persönlichkeiten

Der Leiter von SENAES Prof. Paul Singer spielte vor allem in der nationalen Zusammenführung der BSÖ eine wichtige Rolle.

Ein interessanter aktueller Versuch von autonomer Institutionalisierung der dargestellten Bewegungen ist die "Koordination der Sozialen Bewegungen" (Coordenação de Movimentos Sociais). Sie wurde 2003 gegründet, und es handelt sich um den Versuch der größten unabhängigen Bewegungen wie CUT, MST und weiterer, eine gemeinsame Plattform zu bilden, um damit eine vom Staat unabhängige Organisierung zu ermöglichen. Soziale Bewegungen stehen nämlich heute in einem komplexen Verhältnis zum Staat. Aus der Tradition des Widerstands gegen den autoritären Staat betonen viele ihre Autonomie, das heißt ihre Unabhängigkeit vom Staat. Gleichzeitig stellten die Bewegungen schon im Zuge der Demokratisierung zunehmend Forderungen an den Staat – so wurden beispielsweise soziale Rechte für alle eingefordert.

Werden von staatlicher Seite dann soziale Leistungen erbracht, besteht die Gefahr der Vereinnahmung der Bewegungen und der Verlust ihrer Autonomie. Tritt der Staat nicht auf den Plan, besteht die Gefahr der Abhängigkeit von privaten Geldgebern.

Diesbezüglich ist die ambivalente Positionierung zur Regierung Lula besonders interessant. Auf der einen Seite unterstützt die Koordination die Regierung, da die Regierungspartei "Partido dos Trabalhadores" (PT) traditionell starke Bindungen zu den sozialen Bewegungen hat und teilweise auch aus den Bewegungen hervorging. Das bringt die Regierung auch dazu, vermehrt materielle Unterstützung zu gewähren. So werden etwa von der Landlosenbewegung bewohnte Gebiete flächendeckend mit Infrastruktur versorgt, und die für die Landreform vorgesehene Fläche hat sich gegenüber der Vorgänger-Regierung verdreifacht. Auch die "Kredit-Versorgung mit Kleinkrediten" fördert Bewegungen wie die Landlosenbewegung oder auch die Bewegungen zur Solidarischen Ökonomie, die seit 2004 durch die Arbeit des Staatssekretariats für Solidarische Ökonomie auch bei der Vernetzung und in rechtlicher Hinsicht unterstützt wurden. Gleichzeitig verlieren die Bewegungen durch die engeren Beziehungen zur Regierung auch Autonomie, was dazu führt, dass sie aufgrund der steigenden Abhängigkeit nun weniger Kritik üben.

Literatur

Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung: Boris, Dieter 1998: Zwischen Staatsnähe und Autonomie. Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung und das Beispiel Brasilien, in: Ders. (Hg.): Soziale Bewegungen in Lateinamerika, Hamburg.

Landarbeiterbewegung: De la Fontaine, Dana 2007: Die Institutionalisierung Sozialer Bewegungen am Beispiel der Landlosenbewegung MST in Brasilien, Externer Link: Magisterarbeit, Universität Tübingen

Bewegung der kirchlichen Basisgemeinden: Sträter, Beate 2007: Religiös-politische Bewegungen in Ländern der Dritten Welt am Beispiel der christlichen Befreiungstheologie in Brasilien, Baden-Baden.

Schwarzenbewegung: Silverio, Valter Roberto 2004: Movimento Negro und die (Re)Interpretation des brasilianischen Dilemmas, in: Stichproben. Externer Link: Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien Nr. 6/2004, 4. Jg.

Frauenbewegung: Rausch, Renate 2003: Frauenbewegung zwischen Basisorganisationen, NGO-isierung und Global Governance, in: Costa, Sérgio / Coy, Martin / Sevilla, Rafael (Hg.): Brasilien in der postnationalen Konstellation, Brasilianisten-Gruppe in der ADLAF, Beiträge zur Brasilien-Forschung, Band 1, Tübingen, S. 244-259.

Indigene Bewegung: Schikora, Jan 2001: Politik jenseits der vermachteten Strukturen – Zur Bedeutung Sozialer Bewegungen für den Demokratisierungsprozess in Brasilien, in: Wentzlaff-Eggebert, Christian / Traine, Martin: Externer Link: Arbeitspapiere zur Lateinamerikaforschung, Universität Köln.

Umweltbewegung: Hochstetler, Kathryn & Keck, Margaret 2007: Greening Brazil: Environmental Activism in State and Society, Duke University Press.

Bewegung der Solidarischen Ökonomie: Singer, Paul 2004: Solidarische Ökonomie in Brasilien heute. Eine vorläufige Bilanz. In: Kurswechsel 19 (4), 89-101.

Weitere Inhalte

Dana de la Fontaine, Jahrgang 1979, studierte Politikwissenschaft (Schwerpunkt Lateinamerika und Entwicklungstheorie) und Romanistik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Seit 2007 Promotion am Doktorandenkolleg "Global Social Policies and Governance" an der Universität Kassel als Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung.

Bernhard Leubolt, geboren 1979 in Klosterneuburg (Österreich), hat Handelswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien studiert und absolvierte den Interdisziplinären Universitätslehrgang für Höhere Lateinamerika-Studien in Wien. Derzeit promoviert er an der Universität Kassel im Kolleg "Global Social Policies and Governance" als Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung. Er hat zahlreiche Beiträge zur brasilianischen Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie zur Rolle der sozialen Bewegungen veröffentlicht.