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Stationen der Geschichte Venezuelas | Lateinamerika | bpb.de

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Stationen der Geschichte Venezuelas Diktatur, Parteienherrschaft und zivil-militärischer Populismus

Nikolaus Werz

/ 6 Minuten zu lesen

Präsident Chávez hat weitgehende Vorstellungen von einer "Transformation" Venezuelas. In seinen Reden spricht er gerne von mehr Beteiligung, einem "Parlamentarismus der Straße". Geht es in seinen Plänen wirklich um einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" oder eher um die Alleinherrschaft eines Militärpopulisten?

Präsident Hugo Chavez mit Tochter Rosa Virgina Chavez (links) und Frau Marisabel Chavez vor dem Präsidentenpalast in Caracas, Venezuela im Dezember 1999. (© AP)

Venezuela war nicht nur Vorreiter in Lateinamerika, als es sich im Jahre 1810 von Spanien unabhängig erklärte, seine Befreiungshelden Bolívar, Miranda und viele mehr waren auch politische Führer in anderen Ländern des Kontinents. Dennoch zeigt seine ganze weitere Geschichte den unvollendeten Charakter der Staatsbildung: Obwohl Venezuela als erstes lateinamerikanische Land eine nach föderalistischen Prinzipien organisierte Republik mit Teilung der Gewalten und einem gestuften Wahlrecht proklamierte, hat es bis 1958 nur acht Jahre ziviler Regierungen gegeben.

Das Erdöl gilt als ein Motor der venezolanischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Ab 1925 wurde das bis dahin arme, auf den Export von Kakao und Kaffee spezialisierte und von personalistischen Diktaturen beherrschte Land zu einem der wichtigsten Ölexporteure. In den Jahrzehnten zuvor hatten die so genannten Andinos, also Generäle aus der Andenregion, die Macht ausgeübt. Von 1908 bis 1935 herrschte Juan Vicente Gómez mit einer zentralisierenden Diktatur. Erste demokratische Impulse gingen von der Studentengeneration von 1928 und den Parteigründungen während einer dreijährigen demokratischen Zwischenphase (1945-48) aus.

Die "paktierte Demokratie" von 1958 bis 1998

1958 gelang durch ein Abkommen (Pacto de Punto Fijo) zwischen den wichtigsten Parteien des Landes, d.h. der sozialdemokratisch ausgerichteten Acción Democrática (AD) und der christlich-sozialen COPEI, für fast 40 Jahre die Konsolidierung einer präsidentiellen Demokratie. Der Unternehmerverband und wichtige Interessengruppen bis hin zum Militär waren an dem "Systempakt" beteiligt. Folgende Aufgaben wurden für die demokratisch gewählte Regierung postuliert: Ausarbeitung einer neuen Verfassung, was 1961 geschah, und langfristiger Entwicklungspläne, eine Agrar- und Steuerreform, eine Sozialgesetzgebung, die Verbesserung des Erziehungssystems und die Modernisierung der Streitkräfte. Mit Hilfe des "schwarzen Goldes" war es möglich, diese Ziele anzusteuern, auch wenn ein Teil der vor allem in den 1970er-Jahren fließenden Petrodollar unproduktiv versandete bzw. in privaten Taschen und/oder auf Auslandskonten landete. Politisch galt Venezuela zunächst als Erfolgsgeschichte: Der Pakt von Punto Fijo leitete eine Form des ausgleichenden Regierens zwischen AD und COPEI ein; er galt bis Ende der 1980er-Jahre als Beispiel für einen gelungenen Elitenkonsens. In den 1970er-Jahren nahm Venezuela großzügig politische Flüchtlinge aus den Nachbarländern auf.

Die Parteienentwicklung lässt sich folgendermaßen periodisieren:

  1. Die Phase nach dem Übergang zur Präsidialdemokratie 1958 bis 1968, die durch Parteienzersplitterung und Guerillaaktivität der radikalen Linken gekennzeichnet war, dennoch fanden freie Wahlen mit hoher Wahlbeteiligung statt.

  2. Die Phase des konsolidierten Zweiparteiensystems, des Bipartidismo 1969 bis 1988, in der sich AD und COPEI an der Regierung abwechselten.

  3. Die Zeit der politischen Krise in der Folge des Caracazo, d.h. der Unruhen und Plünderungen vom Februar 1989 vor allem in der Hauptstadt nach der überstürzten Einführung eines wirtschaftlichen Anpassungsprogramms. Nach einem Putschversuch jüngerer Offiziere um Oberstleutnant Hugo Chávez 1992 entstand ein fragmentiertes Mehrparteiensystem, gleichzeitig sank die Wahlbeteiligung.

  4. Die mit dem Wahlsieg von Chávez 1998 einsetzende Phase, die durch einen Bedeutungsverlust der traditionellen Parteien und das Aufkommen eines personalistisch-plebiszitären Führungsstils gekennzeichnet ist.

Wegen seiner Abhängigkeit von den Ölexporten wurde Venezuela auch als "Schönwetterdemokratie" bezeichnet, zumal die Bevölkerung eine angemessene Beteiligung an der Ölrente erwartet. Die demokratisch gewählten Regierungen haben den staatlichen Anteil erhöht, 1976 erfolgte die Nationalisierung der Ölindustrie.

Trotz demokratischer Wahlen wies das System Schwächen und soziale Ungerechtigkeiten auf: Privatisierung öffentlicher Gelder, Korruption innerhalb der politischen Klasse, Rechtsunsicherheit und staatliche Ineffizienz. Versuche zur Korrektur, unter anderem durch eine 1984 eingesetzte Kommission zur Staatsreform und eine Dezentralisierung, blieben erfolglos bzw. förderten sogar den Niedergang des nicht zuletzt auf klientelistischen Strukturen der beiden großen Parteien beruhenden Systems. Von der auch in den venezolanischen Medien vorgetragenen Kritik an der Partidocracia profitierten nicht zuletzt die 1992 aufgetretenen Militärrebellen. Chávez musste für zwei Jahre ins Gefängnis und kandidierte 1998 für die Präsidentschaftswahlen, wobei er eine politische Totalreform versprach, die er nach seinem Amtsantritt 1999 zielstrebig umsetzte.

Von der IV. zur V. Republik

Präsident Chávez hat plebiszitäre und schein-plebiszitäre Formen der Demokratie gefördert und eine Machtkonzentration eingeleitet. Dagegen formierte sich 2001 der Protest der Ober- und Mittelschichten sowie der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter, der sich unter anderem in Autobahnbesetzungen, Sitzstreiks, Märschen und Steuerverweigerung niederschlug. Nachdem die Traditionsparteien in einen Verfallsprozess gerieten, hat sich keine einheitliche Opposition formieren können. Als Sprecher der Regierungsgegner traten der Chef des Unternehmer- und des Gewerkschaftsdachverbandes (FEDECAMARAS bzw. CTV) auf, die privatwirtschaftlich organisierten Medien fungierten als eine Art Parteienersatz. Chávez wiederum organisierte seine Gefolgschaft 2001 in so genannten Bolivarianischen Zirkeln, die kubanischen Vorbildern nachempfunden und dem Präsidialamt zugeordnet wurden.

Mit dem Übergang von der alten IV. zur "neuen" V. Republik hat er eine Personalisierung und Re-Zentralisierung durchgesetzt. Es erfolgte der Wechsel vom Zweikammer- zum Einkammerparlament, die Exekutive wurde gestärkt, die Legislative geschwächt. Die Bolivarianische Verfassung von 1999 führte die "Bürgergewalt" und die "Wählergewalt" ein, gleichzeitig stärkte sie den Staatspräsidenten, der den Vizepräsidenten sowie die Minister benennen kann, und verlängerte sein Mandat auf sechs Jahre mit der Möglichkeit zur sofortigen Wiederwahl. Justiz, Verfassungsgericht und Oberste Wahlbehörde sind im Prinzip unabhängig, dem Präsidenten gelang es jedoch, seinen Einfluss auszubauen. Zunächst begnügte er sich mit der verbalen Beschimpfung seiner Kritiker und Gegner als "Oligarchen" und "Faschisten", im April 2002 spitzte sich schließlich die Situation zu, es gab Tote auf beiden Seiten. Nach einem Staatsstreichversuch des reaktionären Flügels der Opposition wurde Chávez kurzfristig abgesetzt, schon nach zwei Tagen war er dank der Unterstützung von Teilen der Armee und der ärmeren Bevölkerung wieder im Amt.

Militärpopulismus und "Sozialismus des 21. Jahrhunderts"

Alle politischen Institutionen erfuhren in den vergangenen Jahren einen rasanten Wandel und Elitenwechsel. Nach der zunächst als Lösung propagierten Verfassung von 1999 ist mittlerweile vom Aufbau des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" die Rede. Präsident Chávez hat weitgehende Vorstellungen von einer "Transformation" des Landes. Die Auseinandersetzung hat sich größtenteils aus den Institutionen verlagert und findet in den privaten Medien sowie in Form von Protestbewegungen im öffentlichen Raum statt, die nach einem von der Opposition verlorenen Referendum zur Absetzung von Chávez und seiner erneuten Wiederwahl 2006 nachgelassen haben. Die für Venezuela nach 1958 charakteristische Konsens- und Proporzdemokratie wurde damit aufgekündigt. Viele Positionen in Staat und Verwaltung werden von Militärs eingenommen.

Seit 1998 haben insgesamt neun Wahlgänge stattgefunden, das bedeutet fünf Wahlen und zwei Referenden. Die Regierung bindet die Bewohner der Armutsviertel mit Sozialprogrammen ein. Seit 2006 forciert Chávez den Aufbau der "Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas" (PUSV). Bis Ende 2007 soll den Venezolanern eine Verfassungsreform zur Abstimmung vorgelegt werden, die auch die "kontinuierliche" Wiederwahl des jeweils auf sieben Jahre gewählten Präsidenten zulässt, die Unabhängigkeit der Zentralbank aufhebt und die Enteignung von Privateigentum gestattet.

Der Präsident hat mehrfach verlauten lassen, er wolle eventuell bis 2021 regieren. Mittlerweile spricht er von einer "revolutionären Regierung", die im Interesse des Volkes verteidigt werden müsse. Die Regierung hat sich außen- und innenpolitisch Kuba angenähert, während sich die Mittelschicht und die Mehrheit der Venezolaner stark an den USA orientieren. Chávez reist häufig nach Kuba, Fidel Castro ist wiederholt in Venezuela gewesen. Seine Kontakte zu arabischen Machthabern, zur kolumbianischen Guerilla und seine Geldgeschenke für "antiimperialistisch-nationalistisch auftretende Kräfte" in Lateinamerika haben das Misstrauen der USA und einiger westlicher Regierungen hervorgerufen. Chávez spricht dagegen von einer partizipativen Demokratie, einem Parlamentarismus der Straße und einem endogenen Entwicklungsmodell. Der Ausgang des Proceso, wie die chavistische Transformation von ihren Anhängern genannt wird, liegt zwischen einem nebulösen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" und der Alleinherrschaft eines Militärpopulisten.

Literatur

Schulz, Wolfram (1997): Parteiensystem und Wahlverhalten in Venezuela: Entstehung und Verfall eines Zweiparteiensystems, Wiesbaden.

Sevilla, Rafael/Boeckh, Andreas (Hrsg.) (2005): Venezuela. Die Bolivarische Republik, Bad Honnef.

Welsch, Friedrich/Werz, Nikolaus (1990): Venezuela: Wahlen und Politik zum Ausgang der 80er Jahre, Freiburg i.Br.

Werz, Nikolaus (1983): Parteien, Staat und Entwicklung in Venezuela, München.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Nikolaus Werz, geb. 1952 in Bonn, Studium an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, 1980/81 Mitarbeiter im CENDES Caracas, 1983 Promotion über "Parteien, Staat und Entwicklung in Venezuela", 1991 Habilitationsthema: "Das neuere politische und sozialwissenschaftliche Denken in Lateinamerika". Seit 1994 Lehrstuhl für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Rostock, Tätigkeit im Beirat der Zeitschriften "Lateinamerika-Analysen", "Iberoamericana". Jüngste Veröffentlichung: Lateinamerika – Eine Einführung, 2. erw. Aufl. erscheint Ende 2007.