Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Religionen in China | China | bpb.de

China Geschichte Das alte China China 1900-1949 China nach 1949 Chiang Kaishek Mythos Mao Deng Xiaoping Erinnerungskultur China – vom Sturz der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart Politik Chinas Umgang mit den Uiguren Instrumentalisierung einer Minderheit Rolle und Verständnis des chinesischen Staates Chinas Klimapolitik Klasse und soziale Ungleichheit in China 100 Jahre KPCh – Inszenierung einer Erfolgsgeschichte Chinas Außenpolitik – wie umgehen mit dem selbstbewussten Riesen? Chinas Verhältnis zu Russland und dem Krieg in der Ukraine Charakteristika des politischen Systems Chinas Staatschef Xi Jinping Xi Jinpings China – Eine Bilderstrecke Chinas Sicherheitspolitik Wen Jiabao Militär Finanzkrise Tibet Gesellschaft und Kultur Bildungssystem Chinas Olympische Winterspiele 2022 Proteste in China Ethnische Minderheiten Religion Literatur Musik Frauenrechte Gesellschaft im Umbruch Meinungsfreiheit Das Sportsystem im Reich der Mitte Die Olympischen Spiele in Peking Sportpolitik und Olympia Werden die Spiele China verändern? Randsportarten am olympischen Tropf Wirtschaft Chinas Außen- und Wirtschaftspolitik in der Xi-Ära Das chinesische Wirtschaftsmodell im Wandel Chinas Wirtschaftspolitik Deutschlands Wirtschaftsbeziehungen zur wachsenden digitalen Weltmacht Verschobene Machtverhältnisse: Handelskrieg zwischen China und den USA China als Advokat des Freihandels? Hongkong und Taiwan Hong Kong und Macau Taiwan und die geopolitische Neuordnung in Asien Taiwan Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Taiwan Experteninterview zu Taiwan Zahlen und Fakten FAQ zur Volksrepublik China Zahlen und Karten Redaktion

Religionen in China

Dr. Christian Meyer Christian Meyer

/ 6 Minuten zu lesen

Während der Kulturrevolution wurden Religionen in der Volksrepublik radikal verfolgt. Erst seit der Öffnung hin zu einer stärkeren Reformpolitik hat sich die Lage entspannt. Das Interesse am Buddhismus, Islam oder protestantischen Christentum ist enorm gestiegen, der Andrang in Kirchen und Tempeln spürbar. Dennoch bleibt die freie Ausübung der Religion eingeschränkt.

Ein Daoistischer Priester im Pekinger Baiyun guan "Tempel der Weißen Wolken". (© AP)

Seit dem Ende der Kulturrevolution und dem Beginn der jüngeren Reform- und Öffnungspolitik (ab 1978) sind auch Religionen in gesetzlich beschränktem Rahmen in der Volksrepublik (VR) China wieder zugelassen. Religionen und religionsähnliche Gruppen ganz unterschiedlichen Charakters erfahren seitdem enormen Zulauf. Man kann dabei von einem Religionsfieber sprechen, das beispielsweise auch ein Konfuzianismus- und Christentumsfieber umfasst. Parallel hierzu hat sich auch ein Kultur- oder Qigong-Fieber entwickelt. Zusammengenommen beschreiben sie das enorme Interesse an Religion und den spürbaren Andrang in Kirchen und Tempeln.

Dabei muss zwischen ganz verschiedenen Formen unterschieden werden: Dazu gehören staatlich akzeptierte, tolerierte und verfolgte Gruppen, aber auch fest organisierte und institutionalisierte Gruppen sowie unter anderem die lokale oder Volksreligion. Statistiken mit Zahlen von Anhängern sind allein schon wegen des Charakters vieler Religionen in China schwierig, da sie nicht wie das Christentum eine feste Zugehörigkeit oder Zugangsrituale ("Taufe") besitzen (insbesondere die "Volksreligion"), aber auch wegen wenig verlässlicher und mindestens zum Teil ideologisch manipulierter Statistiken. Neuere Zahlen können aber zumindest einen Eindruck von den relativen Größenverhältnissen liefern. Neben den noch immer zahlenmäßig dominierenden Religionen indigenen Charakters (Buddhismus, Volksreligion, Daoismus) überrascht insbesondere das Wachstum der beiden christlichen Konfessionen. So hatte die protestantische Kirche trotz massiver Missionsbemühungen seit dem 19. Jahrhundert um 1949 nur rund 500.000 getaufte Anhänger. Heute kann sie nach dem Buddhismus als eine organisierte religiöse Richtung mit der zweithöchsten Anhängerzahl gelten. Hinzu kommt der bedeutende intellektuelle Einfluss des Christentums (s. unten).

QuellentextReligionsanhänger in China

Ungefähre Daten von Religionsanhängern nach offiziellen Daten von 2000 und Schätzung aufgrund von Umfragen von Prof. Liu Zhongyu (East China Normal University) und Prof. Tong Shijun (Shanghai Academy of Social Sciences) von 2005:

Insgesamt 31,4% Gläubige (also hochgerechnet ca. 300-400 Mio.),
davon:

  • Volksreligion ca. 130 Mio. (32,6% der Gläubigen)

  • Buddhismus (ca. 150-200 Mio.)

  • Protestantisches Christentum (25-35 Mio.)

  • Islam (11-18 Mio.)

  • Katholische Kirche (8,5-13 Mio.)

  • Daoismus (5,5 Mio.)

Quellen:

  • China heute 19 (2000), S. 3.

  • China heute 26 (2007), S. 2.

Gleichzeitig bleibt das Thema "Religion" in der Volksrepublik besonders sensibel. Religion ist Gegenstand einer besonderen Religionspolitik, durchgeführt und überwacht von staatlichen Religionsbüros. Verschiedene Faktoren, die mit der wirtschaftlich motivierten Reform- und Öffnungspolitik zu tun haben, aber auch weitere außen- oder innenpolitischen Faktoren spielen hier eine Rolle und sollen im Folgenden vorgestellt werden.

Religionspolitik, rechtlicher Rahmen und Betätigungsmöglichkeiten von Religionen

Laut gültiger Verfassung von 1982 "genießen die Bürger der Volksrepublik China Glaubensfreiheit" (§ 36). Nach der radikalen Verfolgung jeglicher Religion während der Kulturrevolution (1966 bis 1976) wurden Religionsvereinigungen im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik (ab 1978) zwar wieder zugelassen. Von einer "ungestörten Religionsausübung", wie sie das deutsche Grundgesetz (§ 4 (2)) vorsieht, ist jedoch nicht zu sprechen. Insgesamt lässt sich die religiöse Lage in drei Hinsichten beschreiben: 1) mit einem Blick auf die offiziellen Rahmensetzungen der kommunistischen Führung und ihre ideologischen Hintergründe, 2) deren Umsetzung in der Realität und 3) die sich ergebenden Möglichkeiten von offiziell anerkannten und inoffiziell operierenden Religionsgruppen im gesellschaftlichen Leben.

China ist trotz einer immer stärker marktwirtschaftlichen Orientierung offiziell auch heute eine "sozialistische Volksrepublik". Die um Maoismus und neuere Ergänzungen erweiterte kommunistische Ideologie und damit legitimierte Führungsrolle der Kommunistischen Partei (KP) Chinas sind in der Präambel der Verfassung festgeschrieben. Bis zum Erreichen des Kommunismus sind nun auch Religionen wieder zugelassen. Im Sinne einer Einheitsfront sollen sie Teile der Massen gewinnen, die der kommunistischen Ideologie fern stehen. Schon in der zitierten Verfassung werden die Möglichkeiten der religiösen Betätigung allerdings wieder eingeschränkt.

Nur "normale religiöse Tätigkeiten" werden vom Staat geschützt. Explizit ausgenommen sind außerdem "Aktivitäten, die die öffentliche Ordnung stören, der körperlichen Gesundheit von Bürgern schaden oder das Erziehungssystem des Staates beeinträchtigen". Außerdem dürfen "die religiösen Organisationen und Angelegenheiten von keiner ausländischen Kraft beherrscht werden". Schon die sehr offene Formulierung "normale religiöse Tätigkeiten" lässt dem Staat und seinen Organen einen großen Ermessensspielraum, der typisch ist für viele gesetzliche Regeln in der VR und je nach religionspolitischer Lage der religiösen Gruppe oder der lokalen Situation sehr unterschiedlich genutzt wird.

Die Zahl der landesweit zugelassenen Religionen ist zunächst auf nur fünf begrenzt: Buddhismus, Daoismus, Islam sowie die protestantische und katholische Kirche. Nur deren "patriotische" Religionsvereinigungen dürfen nach den detaillierten Verwaltungsvorschriften innerhalb ihrer Tempel, Kirchen, Moscheen und registrierten Versammlungsorte legal aktiv werden. Sie werden vom Staat gefördert, altes Eigentum wurde zum Teil erstattet. Dafür müssen sie sich an den sozialistischen Staat anpassen. Gleichzeitig gibt es aber religiöse Gruppen, deren Gläubige einer Kontrolle unter anderem aus biografischen Erfahrungen während der Kulturrevolution kritisch gegenüber stehen oder Einschränkungen in ihrer Karriere fürchten. Eine Mitgliedschaft in der KP China und damit Teilhabe an der politischen Entscheidungsfindung ist zudem für Gläubige prinzipiell ausgeschlossen.

Aus diesem Grund gibt es neben den offiziellen Vereinigungen auch sogenannte Untergrundkirchen, die oft toleriert werden, aber in einer prekären Grauzone leben. Andere Gruppen wie Falun Gong werden dagegen sogar als "evil cults" (chines.: xiejiao) verfolgt und ihre aktiven Anhänger in Umerziehungslager gebracht. Der Religionssoziologe Yang Fenggang spricht in diesem Zusammenhang von einem tolerierten "grauen" gegenüber einem staatlich privilegierten "roten" und einem verbotenen "schwarzen Markt".

Die Möglichkeiten offizieller wie inoffizieller Religionsgruppen sind somit begrenzt. Insbesondere der wichtige Bereich der Erziehung und der öffentlichen Meinungsbildung durch Medien und Propaganda bleiben dem Staat und der kommunistischen Führung vorbehalten. In neuester Zeit wird unter dem Stichwort der "sozialistischen harmonischen Gesellschaft" allerdings nicht nur eine Anpassung an die sozialistische Gesellschaft gefordert, sondern verstärkt auch ein konstruktiver sozialer Beitrag der Religionen honoriert. Karitatives Engagement in Kooperation mit dem Staat ist darum der Bereich, in dem Religionen neben ihrer werte- und sinnvermittelnden Lehre für den Einzelnen am ehesten in zivilgesellschaftlicher Rolle wirken können.

Intellektuelles Interesse an Religion

Ein weiteres Phänomen ist die gesteigerte intellektuelle Beschäftigung mit Religion im Allgemeinen oder einzelnen Religionen im Besonderen. Dies kann das individuelle Bedürfnis Einzelner betreffen, aber auch eine Rolle von Religion für die Gesellschaft implizieren. Ein besonderes Beispiel bildet hierbei das Phänomen der sogenannten Kulturchristen in China und der "Sino-Christian Theology" (chines.: Hanyu shenxue). Es beschreibt das Phänomen eines intellektuellen akademischen Interesses am Christentum, meist aber verbunden mit einem persönlichen Interesse am christlichen Glauben selbst, dessen Rolle für die chinesische Gesellschaft, die Erneuerung und Fundierung einer sozialen und persönlichen Ethik gesehen wird, oft sogar mit Betonung des Gedankens der Transzendenz für die Ethikbegründung. Diese akademische Forschung findet an staatlichen Universitäten, besonders im Rahmen der seit den 1980er-Jahren entstandenen Religionswissenschaften und an Religionsforschungszentren statt.

Theologische Seminare in der VR China selbst dienten dabei kaum als geeignetes Gegenüber des Dialogs und konnten das intellektuelle Interesse nicht adäquat befriedigen. Hongkong mit theologischen Seminaren und religionswissenschaftlichen "Departments" sowie insbesondere dem Externer Link: Institute of Sino-Christian Studies bildet darüber hinaus einen besonderen Ort mit Freiräumen für Publikationen und Diskussionen sowie eine Drehscheibe, die China mit der theologischen Wissenschaft im Westen wie im weiteren chinesischen Sprachraum (Taiwan, Hongkong und Auslandschinesen) verbindet.

Parallel zum Phänomen der Kulturchristen ließe sich wohl auch von Kulturbuddhisten sprechen. Ein weiteres Phänomen bildet ein Interesse am Konfuzianismus: Während lange Zeit ein moderner Neu-Konfuzianismus vor allem in akademischen Zirkeln in Hongkong und Taiwan überlebte, zeigt sich in Festlandchina neuerdings neben einem intellektuellen Interesse und staatlicher Vereinnahmung im Zuge eines neuen Nationalismus auch ein Graswurzel-Interesse mit Gründung von Privatschulen zur Einübung der Klassiker für Erwachsene und Kinder (vgl. besonders Bell, 2008 und Billioud/Thoraval, 2007).

Globalisierung und Transformation des religiösen Feldes

Gegenüber der Rückbesinnung auf die eigene nationale Identität und parallel zum Erfolg des westlichen Christentums in China finden sich auch andere Tendenzen, die eine Transformation und besonders auch Globalisierung des religiösen Feldes für China zeigen. Die Ausbreitung beispielsweise der in der Volksrepublik verfolgten Falun-Gong-Gruppe unter Auslandschinesen, aber auch zu nicht geringen Teilen unter Nichtchinesen zeigt eine im Zuge der Verfolgung forcierte Globalisierung auch von chinesischer Religiosität außerhalb Chinas. Im Buddhismus gibt es insbesondere Verbindungen u.a. nach Taiwan, auch am tibetischen Buddhismus besteht Interesse, selbst wenn politisch der Dalai Lama als Staatsfeind betrachtet wird, der die Einheit des Landes zerstören will. Diese Verbindungen wie auch der neue Einfluss des Christentums in China spiegeln eine wachsende Vernetzung mit der weiteren Welt, die jedoch auch Anpassungen an die spezielle lokale Situation mit einschließen.

Insgesamt lässt sich von einer grundlegenden Transformierung des religiösen Feldes in China seit dem 19. Jahrhundert reden. Die besonderen Entwicklungen der Volksrepublik seit 1949 waren zum Teil mit radikaler Religionsverfolgung unter anderem in der Kulturrevolution (1966 bis 1976) verbunden und führten im Anschluss zu einer Wiederbelebung und Rekonstruktion traditioneller Religiosität im neuen politischen, soziologischen und intellektuellen Kontext, jedoch auch zu einem bisher in China unbekannten Wachstum besonders christlicher Kirchen.

Weitere Inhalte

Dr. phil. Christian Meyer, Studium der Sinologie, Religonswissenschaft und Ev. Theologie in Marburg, Göttingen. Promotion in Sinologie an der Universität Erlangen 2003, anschl. Wissenschaftlicher Assistent am Ostasiatischen Institut der Universität Leipzig. Diverse Forschungsaufenthalte u.a. an der Academia Sinica, Taipeh, und der Chinese University of Hong Kong. Forschungsschwerpunkte: Song-Dynastie, Konfuzianismus, Religionen in China.