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"Politisches Handeln auch im digitalen Raum ermöglichen und fördern" | Politische Bildung in einer digitalen Welt | bpb.de

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"Politisches Handeln auch im digitalen Raum ermöglichen und fördern"

Monika Oberle

/ 8 Minuten zu lesen

Im Interview erklärt Monika Oberle, was politische Medienkompetenz im digitalen Zeitalter auszeichnet und welche Leerstellen sie in der Ausbildung von Lehrkräften und in der politikdidaktischen Forschung feststellt. Sie betont, dass die fachdidaktischen Grundlagen der politischen Bildung auch im Digitalen nicht ihre Bedeutung und Aktualität verlieren, aber an die Gegebenheiten angepasst werden müssen.

"Politisches Handeln auch im digitalen Raum ermöglichen und fördern" – Interview mit Monika Oberle

Ein Transkript des Interviews können Sie hier nachlesen:

bpb.de: Frau Oberle, als ein zentrales Ziel der politischen Bildung gilt ja die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger. Was bedeutet denn für Sie Mündigkeit in der digitalen Welt? Und was macht sie aus?

Monika Oberle: Mündigkeit ist im Grunde ja nicht nur Ziel der politischen Bildung, sondern generell der Bildung, der schulischen und außerschulischen Bildung und bedeutet, mit Kant gesprochen, der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, zu der wir durch Bildung einen Beitrag leisten wollen, dass man eben fähig dazu ist, sich ein eigenes Urteil zu bilden und nach eigenen Maximen zu handeln.

In der digitalen Welt trägt auch wieder die gesamte Bildung zur Mündigkeit bei. Aber es gibt eben auch eine politische Mündigkeit in der digitalen Welt. Generell gehören dazu sowohl eine kritisch-reflexive Fähigkeit als auch instrumentelle Fähigkeiten. Diese beiden Seiten sind immer zu bedenken und keine gegen die andere auszuspielen. Also man muss Fähigkeiten haben, sich zurechtzufinden und sich ein Urteil zu bilden und entsprechend zu handeln. Man muss aber auch kritisch reflektieren, was man tut und was man vielleicht auch, obwohl man es könnte, unterlässt zu tun.

Das wird sicher noch konkreter, wenn wir über die politische Medienkompetenz sprechen, zu der ja auch immer die instrumentelle und die kritisch-reflexive Seite gehört.

Dann lassen Sie uns doch gleich zur medienpolitischen Kompetenz übergehen. Welche Kompetenzen, oder welche Medienkompetenz bzw. die Begriffe werden ja unterschiedlich benutzt: Es gibt den Begriff Medienkompetenzen, medienpolitische Kompetenzen... Welche braucht man denn heute, um gesellschaftliche und politische Entwicklungen zu verstehen und das nicht nur heute, sondern auch in Zukunft?

Genau, ich würde es tatsächlich politische Medienkompetenz nennen. Aber da kann man sicher auch andere Begriffe finden.

Eine politische Medienkompetenz war schon wichtig im analogen Zeitalter, aber ist eben unter veränderten Vorzeichen sehr relevant im digitalen Zeitalter. Welche Bestandteile hat die politische Medienkompetenz? Einmal ein Verständnis für die Rolle der Massenmedien als vierte Gewalt in der modernen Demokratie, das heißt Verständnis dafür, dass diese Medien ein relevantes intermediäres System sind und eine wertvolle politische Kontrollfunktion ausüben, jetzt eben unter veränderten Bedingungen der Digitalisierung.

Die Fähigkeit zur kritischen Analyse des Verhältnisses von Politik und Medien in dieser Mediendemokratie, das heißt, zu verstehen, wie die Selektions- und Darstellungslogik des Mediensystems funktioniert und wie Politik und Medien miteinander interagieren, mit den Gefahren eines Politainments, einer Mediokratie oder sogar einer Algorithmokratie heute.

Dann die Fähigkeit, Medien zur eigenen Informationsgewinnung und politischen Meinungsbildung zu nutzen. Das heißt Recherchefähigkeiten, die in der digitalen Welt eben bedeuten, dass ich weiß um die Interner Link: Funktion von Algorithmen und algorithmenbasierter Bereitstellung von Informationen, dass ich weiß um die Gefahr von Fake News und der Verbreitung von Interner Link: Fake News und mit Hate Speech im Netz auch umgehen kann.

Außerdem die Fähigkeit, Medien zur aktiven politischen Partizipation zu nutzen. Dazu gehört auch wieder instrumentell-technisches, nämlich Blogs verfassen, an E-Petitionen teilnehmen zu können oder diese sogar zu starten, politische Fragen mitzudiskutieren im Netz, aber eben auch kritisch-reflexiv, was dann auch bedeuten kann, dass ich einen Tweet gerade nicht nochmal teile, wenn ich ihn vorher nicht geprüft habe, und genau reflektiere, wie ich partizipieren möchte und auch mit welchen Worten.

Und schließlich eine Fähigkeit, das Mediensystem zu regulieren bzw. auf seine Rahmenbedingungen Einfluss zu nehmen. Das heißt, Urteilsfähigkeit und Handlungsfähigkeit mit Blick auf Netzpolitik. Man könnte es netzpolitische Kompetenz nennen. Früher wäre es eine medienpolitische Kompetenz gewesen, das heißt das Policy-Feld der Interner Link: Medienpolitik oder jetzt eben der Netzpolitik beurteilen und beeinflussen zu können. Das heißt eben nicht nur wissen, unter welchen Rahmenbedingungen geschieht Partizipation, öffentlicher Diskurs, Informationsverbreitung, sondern: Wie kann ich diese Rahmenbedingungen beeinflussen? Beispielsweise das Interner Link: Netzwerk-Durchsetzungsgesetz. Egal ob ich das jetzt positiv oder negativ finde, brauche ich eine reflektierte Urteilsbildung, welche Policy ich hier in diesem Bereich gerne verfolgt sehen möchte, und brauche Fähigkeiten, das voranzutreiben.

Zu politischer Medienkompetenz gehört auch ein Verständnis für die Rolle der Massenmedien als vierte Gewalt. (Illustration: Johanna Benz und Tiziana Beck/graphicrecording.cool) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de

Gibt es über diese netzpolitische Kompetenz, die Sie gerade angesprochen haben, hinaus auch noch andere Kompetenzen, die in Ihren Augen für die politische Bildung speziell besonders an Bedeutung gewinnen durch die Digitalisierung?

Ja, ich denke, dass tatsächlich die Bedeutung der Vorstellungen von Wissensproduktion ganz generell, also die epistemologischen Überzeugungen der Menschen, wichtiger werden. Das sehen wir jetzt zum Beispiel in der Debatte um die sogenannte Corona-Krise. Das zeigte sich aber auch schon vorher, nicht nur in den USA unter Donald Trump, sondern auch bei uns, z.B. wenn es um Klimapolitik geht: Wie gehe ich um mit Informationen im Netz? Wenn die Qualitätsmedien, die bisher auch als Gatekeeper fungiert haben, wenn die wegfallen, dann erreicht mich eine Flut ungeordneter Informationen. Und wie gehe ich jetzt damit um, wie kann ich feststellen, welchen Informationen ich trauen und welchen ich nicht trauen kann?

Ein Grundverständnis, auch ein Grundvertrauen in Wissenschaft ist hier ein wichtiger Bestandteil. Daran denkt man vielleicht sonst nicht sofort, wenn man an politische Bildung denkt. Aber es wird im Moment eben augenfällig, wie wichtig es ist zu verstehen: Woher kommt das Wissen? Was verstehen wir unter "Wahrheit“? Wie wird Wissen, dem wir vertrauen, produziert? Und dann ein kritisches Vertrauen in Qualitätsmedien und ein kritisches Vertrauen in die Wissenschaft.

Nun gibt es ja immer wieder Publikationen, die fordern, dass die Fachdidaktik auch reagieren muss auf die Digitalisierung oder die dem nachgehen, inwieweit sie darauf reagieren muss oder nicht. Müssen sich fachdidaktische Grundlagen aus Ihrer Sicht jetzt ändern, also vor dem Hintergrund dieser ganz neuen medialen Bedingungen? Brauchen wir einen neuen Beutelsbacher Konsens? Brauchen wir geänderte fachdidaktische Prinzipien, oder kann das so bleiben, wie es ist?

Ich wüsste nicht, warum die tradierten fachdidaktischen Prinzipien jetzt ausgetauscht werden sollten aufgrund der Digitalisierung. Nehmen wir Schülerorientierung, Handlungsorientierung, Problemorientierung, Konfliktorientierung. Das gilt weiterhin als Maxime. Sie müssen eben angepasst werden. Beispiel Schülerorientierung: Wenn es ein neues Informationsverhalten der Schüler und Schülerinnen gibt oder der Lernenden, dann muss sich politische Bildung hier anpassen und dort anknüpfen, wo sich die Lebensrealität der Jugendlichen oder der Lernenden befindet. Für Handlungsorientierung bedeutet das: Zum einen sollte man auf der Gestaltungsebene politischer Bildung auch digitale Medien in interaktive Lehr-Lern-Settings integrieren. Auf der Zielebene geht es um die Förderung der politischen Urteils- und Partizipationsfähigkeit in der digitalen Welt, also eine politische Bildung, die politisches Handeln auch im digitalen Raum ermöglicht und fördert. Auch Problemorientierung, wie gesagt, bleibt weiterhin ein wichtiges Prinzip der politischen Bildung.

Das Stichwort "gendersensible politische Bildung“ ist ganz spannend. Hier fehlt es uns, denke ich, noch an Forschung, um zu sehen, welche Chancen, aber auch Probleme es vielleicht mit sich bringt, wenn man sehr stark auf digitale Medien im Unterricht setzt. Sind es mehr die Chancen, sind es mehr die Herausforderungen? Weil wir ja sehen, dass es ein geschlechtsspezifisches Nutzungsverhalten von digitalen Medien in der Freizeit gibt. Aber an sich die gleichen Prinzipien.

Kommen wir noch zum Beutelsbacher Konsens – auch hier sehe ich keine Notwendigkeit, ihn auf Grund der Digitalisierung zu überarbeiten oder umzuschreiben. Was wir sehen ist, dass der Beutelsbacher Konsens manchmal missverstanden wird. Das galt aber schon in der analogen Zeit, dass die Annahme verbreitet war, der Beutelsbacher Konsens würde ein Neutralitätsgebot beinhalten, das Lehrkräften verbietet, ihre eigene Meinung zu sagen, oder er würde bedeuten, dass man auch extremistische Ansichten als gleichberechtigt behandeln muss. Das war schon vorher ein Missverständnis, und das gilt auch im digitalen Raum. Hate Speech im Netz ist keine Meinung, die ich gleichberechtigt mit anderen Meinungsäußerungen behandeln muss, sondern ich muss klarstellen, dass menschenverachtende Positionen nicht im tolerierten Spektrum der Meinungsvielfalt sind. Und die eigene politische Meinung, wie gesagt, die darf eine Lehrkraft den Lernenden mitteilen, in analogen und digitalen Zeiten.

Dann lassen Sie uns jetzt noch auf die inhaltliche Ebene schauen. Welche Themen gewinnen denn Ihrer Meinung nach Bedeutung und welche Themen sollte politische Bildung stärker aufgreifen?

Zum einen denke ich, es sind die digitalisierungsgetriebenen Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das Stichwort "Arbeitswelt 4.0“ ist etwas, was sicher Thema sein muss auch im Politikunterricht und in der politischen Bildung. Phänomene wie eine algorithmische Diskriminierung, die ja durchaus kein fernes Schreckgespenst ist, dass also Menschen aufgrund sozialer, soziodemographischer Merkmale diskriminiert werden, weil man vermutet, dass sie teurer werden, wenn man sie versichert oder dass sie ihre Miete nicht zahlen können. Solche Auswahlprozesse sind Policy Felder, die man heute in der politischen Bildung thematisieren muss, genauso wie Hate Speech im Netz und Fragen des Interner Link: Datenschutzes bzw. der Datensouveränität. Das wären jetzt direkt mit der Digitalisierung verbundene Themen.

Darüber hinaus denke ich, dass Verschwörungstheorien etwas sind, was im Moment ein sehr relevantes Thema für die politische Bildung ist. Auch wiederum vorangetrieben natürlich durch die digitalen Medien. Schließlich die Themen Populismus und Extremismus sowie Demokratietheorien an sich. Denn die Digitalisierung bringt Herausforderungen, aber natürlich auch Chancen für die Demokratie und damit muss man sich fundamental auseinandersetzen: Was verstehe ich unter Demokratisierung der Gesellschaft und der Politik? Welche Ziele habe ich in Richtung mehr Partizipation? Welche Chancen und aber auch Probleme ergeben sich hierfür durch die Digitalisierung? Damit muss man sich auch theoretisch auseinandersetzen.

Jetzt haben wir uns ja diesen gesamten Komplex Digitalisierung und politische Bildung angesehen, welche Kompetenzen braucht man und so weiter. Wir haben uns auch viel mit dem beschäftigt, was Schülerinnen und Schüler brauchen oder Teilnehmende brauchen der politischen Bildung. Wenn wir jetzt nochmal die Lehrerinnen und Lehrer in den Fokus nehmen: Welche Leerstellen sehen Sie denn im Bereich der Lehrerbildung? Oder gibt es Wünsche, die Sie haben, also was sich im Bereich Lehrerbildung verändern soll?

Ich denke, die Lehrerausbildung oder universitäre Lehrerbildung und die Lehrerfortbildung müssen sich dem Thema digitale Medien widmen und zwar dem Thema Neue Medien oder digitale Medien im doppelten Sinne. Einmal der Frage der Nutzung digitaler Medien in der politischen Bildung, im Politikunterricht. Das wären beispielsweise Interner Link: Online-Planspiele, Interner Link: Digital Game Based Learning, wie der Externer Link: Kanzler-Simulator, wie man so etwas im Unterricht sinnvoll einsetzen kann. Aber auch andere Tools, die man für das Interner Link: Flipped Classroom nutzen kann, indem man nicht nur in Corona-Zeiten, sondern auch sonst es nutzt, dass auch zu Hause interaktiv mit digitalen Tools politische Bildung betrieben werden kann.

Das ist die eine Seite, die andere ist die inhaltliche Seite, also tatsächlich die Thematisierung der Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft durch die Digitalisierung. Hier brauchen wir eine fachwissenschaftliche Aus- und Fortbildung und eine fachdidaktische Aus- und Fortbildung, wie man diese politische Medienkompetenz in der digitalen Welt fördern kann. Ich bin überzeugt, dass in der Praxis einige Lehrkräfte schon zehn Schritte voran sind. Die sind weiter als wir an den Universitäten. Aber insgesamt ist es dennoch Aufgabe der Lehrerbildung und Lehrerfortbildung, die Lehrkräfte zu professionalisieren dafür. Und das geschieht bisher nicht systematisch. Wir beginnen an vielen Orten damit, mit Zertifikaten, mit Integration in die Seminare, aber das muss eben systematisch verstärkt geschehen.

Dafür brauchen wir aber natürlich auch mehr Forschung. Denn es gibt momentan nicht viel, was man forschungsbasiert hier vermitteln kann. Wir haben natürlich politikwissenschaftliche Forschung, wirtschaftswissenschaftliche, soziologische Forschung zum digitalen Wandel, aber fachdidaktische Forschung, politikdidaktische Forschung zu Fragen der politischen Bildung in der digitalen Welt, die ist noch rar. Das gilt sowohl für den Einsatz digitaler Medien in der politischen Bildung als auch für Fragen der Förderung der politischen Medienkompetenz in der digitalen Welt. Da passiert einiges im Moment, aber da brauchen wir noch verstärkte Bemühungen.

Dann sage ich schon mal vielen Dank für das Gespräch.

Danke für Ihr Interesse.

Interview: Lea Schrenk, Redaktion: Tim Schmalfeldt

Prof. Dr. Monika Oberle ist Professorin für Politikwissenschaft und Didaktik der Politik an der Universität Göttingen. Außerdem ist sie Sprecherin der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der bpb. Sie forscht vor allem zu politischen Kompetenzen sowie zur politischen EU-Bildung und Ausbildung von Lehrenden.