Die „chinesische Diaspora“ zählt mit etwa 60 Millionen Menschen in 130 Ländern zu den größten der Welt. Die Zahl beruht auf einer ethnischen Definition und inkludiert nicht nur die geschätzten 11 Millionen chinesischen Staatsbürger, die heute außerhalb Chinas leben, sondern alle chinastämmigen Menschen weltweit. Entsprechend problematisch ist der Begriff: Zwar reicht die Herkunft all dieser Menschen (häufig über Generationen hinweg) nach China zurück. Doch längst nicht alle definieren sich deswegen als „chinesisch“. Zugleich suggeriert „Diaspora“ eine Zugehörigkeit zu einem Mutterland, die der Vielgestaltigkeit der Auslandschinesen kaum gerecht wird. Ihre Heterogenität – geprägt von unterschiedlichen Migrationsgeschichten, Zielregionen, Integrationsverläufen oder gesellschaftlichen Positionen – bildet ihr wesentliches Kennzeichen. Gleichwohl entfaltet die Rede von „der Diaspora“ politische Wirkung. Die Volksrepublik beansprucht Auslandschinesen als Teil der chinesischen Nation – und auch in ihren Aufnahmeländern sehen sich Menschen chinesischer Herkunft immer wieder dem Klischee der Vaterlandstreue ausgesetzt. Spannungsfelder und Ambivalenzen wie diese stehen im Mittelpunkt der folgenden Darstellung.
1. Geschichte
Zwar lässt sich die Geschichte chinesischer Auswanderung über 2000 Jahre zurückverfolgen, als sich die ersten Händler aus dem Süden des Landes in Südostasien ansiedelten, allerdings setzte erst Interner Link: mit dem europäischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert eine globale chinesische Auswanderungswelle ein. Viele Chinesen ließen sich im Gefolge der Kolonialmächte in Südostasien als Händler nieder und fungierten häufig als Vermittler und Partner der europäischen Kolonialisten. Noch mehr verließen ihre Heimat aufgrund von wirtschaftlichem Druck oder politischer Instabilität; sie fanden in den europäischen Kolonien – wo Immigration von Chinesen aktiv gefördert wurde – Arbeit als Tischler, Schneider, Schmiede oder als Betreiber von Wäscherein und Restaurants. Im Gegensatz zu dieser selbstorganisierten, meist auf Klan- und Familiennetzwerke gestützten Arbeitsmigration war die Lage der sogenannten Kulis – Kontrakt- oder Zwangsarbeiter – oft weit drastischer: Sie wurden nach Südostasien, aber auch nach Amerika und Afrika verschifft, um dort nach dem Verbot der Sklaverei auf dem Wiener Kongress 1814-1815 die weggefallenen Arbeitskräfte zu ersetzten. Nicht wenige von ihnen fielen den unmenschlichen Arbeitsbedingungen auf Plantagen oder im Eisenbahnbau zum Opfer. Über die Zahl dieser Kulis herrscht keine Einigkeit. Schätzungen reichen von 3 Millionen bis zu 7 Millionen Personen.
Die meisten Auswanderer waren bäuerlicher Herkunft aus den südöstlichen Küstenregionen. In dieser Zeit entstanden große chinesische Gemeinden in Singapur, Malaysia oder Thailand, aber auch, in kleinerer Zahl, in den USA, Peru und selbst auf Madagaskar. Zwischen den 1840er und den 1920er Jahren (nach anderen Schätzungen bis in die 1940er) verließen bis zu 20 Millionen Chinesen ihre Heimat; etwa 40 Prozent von ihnen blieben dauerhaft im Ausland. Auch in der Zwischenkriegszeit riss die Auswanderung vor allem nach Südostasien nicht ab, da das Wirtschaftswachstum in der Region den Bedarf an billigen Arbeitskräften weiter steigerte. In den 1940er Jahren sollen bereits zwischen 8 und 9 Millionen Chinesen außerhalb Chinas gelebt haben.
Erst der Zweite Weltkrieg und die Gründung der Volksrepublik China 1949 veränderten diese Wanderungsbewegungen nachhaltig. Zwar gab es weiterhin Flucht und Emigration, vor allem nach Interner Link: Hongkong oder Taiwan. Jenseits dessen kamen die großen Emigrationsbewegungen nun aber zum Erliegen.
Mit der Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping – sowie der Aufhebung restriktiver Einwanderungsgesetze in Ländern wie den USA – setzte ab Ende der 1970er Jahre dann eine neue Emigrationswelle ein, bei der erstmals der Westen das Hauptziel chinesischer Migranten wurde. Millionen Studierende und Fachkräfte aus allen Teilen des Landes gingen nach Nordamerika, Europa und Australien und kehrten häufig – sehr zum Leidwesen Chinas – nicht mehr in ihre Heimat zurück. Gleichzeitig blieb das alte Muster der „Kettenmigration“, bei der Chinesen überwiegend aus Südchina das Land verließen, um sich mit Landsleuten im Ausland zu vernetzen, weiter intakt. Hier waren es vor allem Menschen, die zunächst nicht von den Wirtschaftsreformen in China profitierten, die ihr Glück nun in den Industrienationen suchten. Gerade nach dem Interner Link: Massaker am Tian’anmen-Platz 1989 blieben viele auch aufgrund größerer politischer Freiheit im Westen.
Neben der klassischen Arbeitsmigration sowie der weiter wachsenden Zahl an Studierenden und Fachkräften wanderten in den vergangenen zwei Jahrzehnten zunehmend auch wohlhabende Mittelschichtsfamilien aus, die im Ausland bessere Bildungs- und Lebensbedingungen suchen. Gleichzeitig steigt die Zahl derer, die aus politischen Gründen China verlassen – was sich insbesondere in der seit Interner Link: Xi Jinpings Amtsantritt kontinuierlich wachsenden Zahl chinesischer Asylanträge in westlichen Staaten widerspiegelt: Seit 2012 haben mehr als eine Million chinesische Staatsbürger Asylanträge gestellt. Im Zuge der globalen Ausbreitung der chinesischen Wirtschaft strebten in den letzten beiden Jahrzehnten Chinesen erstmals auch in größerer Zahl als Arbeitsmigranten oder Unternehmer nach Zentralasien, Afrika und Südamerika.
Seit 1978 haben nach chinesischen Angaben etwa 10 Millionen, nach Schätzungen der Vereinten Nationen gar über 14 Millionen Chinesen ihr Land verlassen. Eine historische Konstante verbindet sie mit ihren Vorgängern: Die „Diaspora“ war immer eng mit den sich wandelnden wirtschaftlichen Chancen im Ausland, politischen Umschwüngen in China und globalen Verflechtungsprozessen verbunden.
2. Verteilung und Zahlen
Die Zahl der Auslandschinesen lässt sich nur schwer erfassen, da es in den meisten Ländern keine ethnischen Bevölkerungsstatistiken gibt. Schätzungen zufolge leben die meisten Auslandschinesen heute in Südostasien, darunter jeweils etwa 7 Millionen Menschen in Malaysia und Thailand und 11 Millionen in Indonesien. Auch in Nordamerika hat die „chinesische Diaspora“ stark zugenommen: Insgesamt leben etwa 7,5 Millionen Menschen chinesischer Abstammung dort, 5,8 Millionen alleine in den USA. In Europa lebten 2015 rund 2,8 Millionen chinesische Staatsangehörige – was einer Verdreifachung seit 2001 entspricht –, die meisten von ihnen in Frankreich, Großbritannien, Italien und Russland. Deutschland ist heute das Zuhause von etwa 230.000 Menschen chinesischer Herkunft, die überwiegend als Studierende, Fachkräfte oder Selbstständige tätig sind. Etwa 80.000 von ihnen besitzt die chinesische Staatsbürgerschaft. Sie stammen größtenteils aus der städtischen Mittelschicht Chinas. In Australien leben etwa 1,5 Millionen Chinastämmige, in Südamerika 1,8 Millionen und in Afrika bis zu 2 Millionen.
3. Die „Diaspora“ und China
So heterogen die „Diaspora“ ist – für Peking bleibt ihre Zugehörigkeit unzweifelhaft: Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping erklärte Auslandschinesen zu „Mitgliedern der großen chinesischen Familie“, die nie „das Blut der chinesischen Nation in ihren Körpern verleugnet“ haben. Die Geschichte der Beziehung zwischen China und seinen Emigranten ist freilich weit wechselvoller als Xis Zitat glauben machen will.
Auch wenn Chinesen über die Jahrhunderte emigrierten: Auswanderung war phasenweise politisch stark eingeschränkt oder gar verboten. Im Jahre 1712 etwa stellte der Qing-Kaiserhof Auswanderung unter Todesstrafe. Auch war Emigration aufgrund der konfuzianischen Wertordnung verpönt, da sie die Verpflichtung gegenüber Heimat und Familie über individuelle Mobilität stellte. Ein schrittweises Umdenken setzte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, als militärische Niederlagen die politische und ökonomische Lage des Qing-Reichs grundlegend veränderten. Die Qing-Regierung begann Auswanderung nun schrittweise zu tolerieren und sogar zu fördern, da sie zunehmend als Ressource für Handel und den Transfer modernen Know-hows gesehen wurde. Gerade das sollte sich ironischerweise bald als Bumerang erweisen: Überseechinesen wie Sun Yat-sen nutzten ihre transnationalen Freiheiten nun auch, um Aufstände zu finanzieren und die Revolution von 1911 aktiv zu unterstützen, die letztlich zum Interner Link: Sturz der Dynastie führte.
Die frühe Republik unterstützten Auslandschinesen vor allem finanziell. In den 1920er und 1930er Jahren stellten sie Kapital für Infrastruktur, Schulen oder die erste moderne chinesische Bank bereit und trugen so zur wirtschaftlichen Konsolidierung des Landes bei. Andere unterstützten die Kommunistische Partei (Interner Link: KPCh). Namhafte Mitglieder wie Deng Xiaoping lebten selbst zeitweise in Europa und engagierten sich dort für die Partei. Während der japanischen Invasionen in den 1930er und 1940er Jahren engagierten sich viele Auslandschinesen aktiv im Widerstand, indem sie Gelder sammelten oder als Freiwillige für den Krieg zurückkehrten.
Auch nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 wurden Auslandschinesen zunächst als Unterstützer für den Aufbau Chinas willkommen geheißen, doch schon in den späten 1950er Jahren wandelte sich die Haltung: Misstrauen gegenüber „kapitalistischen“ Einflüssen führte dazu, dass viele Auslandschinesen als ideologische Gegner betrachtet wurden. Einige fanden sich in Arbeitslagern wieder. Diese Phase des Argwohns endete erst mit Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping. Ähnlich wie die späten Qing sah nun auch die KPCh Auslandschinesen als strategische Ressource für Chinas Entwicklung an.
Mit ihrer Diasporapolitik versucht China seither Auslandschinesen für wirtschaftliche, technologische und politische Zwecke einzubinden und ihre Loyalität gegenüber dem Parteistaat zu stärken. Die chinesische Regierung fördert Landsmannschaften, Unternehmervereine oder studentische Organisationen im Ausland und appelliert an den Patriotismus der „Landsleute“ – gleich, welche Staatsbürgerschaft sie besitzen. Insbesondere in den USA und Australien wurden in den vergangenen Jahren restriktive Maßnahmen gegen derartige Einflussversuche ergriffen.
Die „Diaspora“ selbst freilich folgt bei ihren China-Kontakten meist eigenen Logiken und Interessen, die nicht automatisch mit den Zielsetzungen der chinesischen Regierung übereinstimmen müssen. Nichtsdestotrotz waren Auslandschinesen immer wieder entscheidende Impulsgeber für Chinas Reformpolitik: Sie spendeten und investierten große Summen und brachten modernes Fachwissen ins Land. Einige verbreiteten, etwa während der Tibet-Unruhen 2008, in transnationalen Protestaktionen Pekings Narrative im Ausland. Trotzdem: Pekings Behauptung, alle Auslandschinesen seien Chinesen, ist kaum mehr als ein politisches Schlagwort und verkennt die Vielfalt rechtlicher Statuslagen, Herkunftsgeschichten, Zugehörigkeiten und Selbstverständnisse innerhalb der „Diaspora“, die eine direkte Einflussnahme erschweren.
4. Lebenswelten und Identitäten
Über Auslandschinesen halten sich hartnäckige Stereotype. Die einen sehen in ihnen eine chinatreue „fünfte Kolonne“, andere feiern sie als asiatische „Vorzeigeminderheit“. Hilfreich sind solche Zuschreibungen nicht, bewegen sich Auslands-„Chinesen“ doch an der Schnittstelle diverser identitätsstiftender Bezugspunkte und verschiedener Lebenswelten, in denen sich Zugehörigkeiten ganz unterschiedlich entfalten können.
China als ewige Heimat?
China kann für viele weiterhin von großer Bedeutung bleiben – sei es durch Familie, Freundschaften, digitale Medien, wirtschaftliche Kontakte oder auch politische Überzeugungen. Gerade für viele Handeltreibende und Investoren chinesischer Abstammung spielt das Land eine wichtige Rolle. Auch Diskriminierung und Rassismus, der in der Vergangenheit sogar zu Gewalt und anti-chinesischen Unruhen – etwa den Plünderungen und Brandanschlägen gegen Chinastämmige nach dem Zusammenbruch des Suharto-Regimes im Mai 1998 in Indonesien – führen konnte, kann dazu beitragen, dass Menschen emotionalen Halt in der alten Heimat suchen.
Neue Heimat in der Ferne?
Genauso kann das Ankunftsland Lebensmittelpunkt werden: Arbeit, Sprache, Freundschaften oder politische Rechte öffnen die Türen in die Ankunftsgesellschaften, zu deren integrativem Teil Neuankömmlinge werden können. Viel ist in der Forschung über die Beiträge der Auslandschinesen zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung ihrer neuen Aufenthaltsländer geschrieben worden: In Südostasien spielen sie eine wichtige Rolle für Handel, Handwerk und städtische Wirtschaftszweige. Sie prägten regionale Geschäftskulturen und trugen mit der Einführung von Seidenzucht oder Teeproduktion zu Landwirtschaftsreformen bei. In vielen Ländern wie Indonesien oder Thailand etablierten sie Handelsniederlassungen, die durch ihre weitreichenden Netzwerke auch einen intensiven interregionalen Austausch beförderten.
In Nordamerika und Australien spielten sie als Arbeitskräfte wichtige Rollen im Bergbau oder beim Eisenbahnbau. In Europa wirkten chinesische Migranten vor allem im Handel, in der Gastronomie und im Dienstleistungssektor und förderten den kulturellen Austausch zwischen alter und neuer Heimat – etwa durch chinesische Neujahrsfeste oder die Verbreitung der chinesischen Küche. Heute sind viele Chinastämmige als Forscher an Universitäten im Westen tätig. In Madagaskar und anderen europäischen Kolonien Afrikas waren es vor allem chinesische Arbeiter – viele von ihnen Kulis –, die im 19. Jahrhundert die ersten Eisenbahnstrecken bauten und damit wichtige Pionierarbeiten leisteten. In den letzten Jahren sind es wiederum chinesische Investoren, Unternehmer und Arbeiter, die in vielen Ländern des Globalen Südens große Infrastrukturprojekte anstoßen und realisieren – und sich nicht selten selbst dem Vorwurf des Neokolonialismus ausgesetzt sehen.
Weder hier noch dort – ein Leben in „dritten Räumen”?
Neben dem Herkunfts- und dem Ankunftsland können andere Bezugspunkte entstehen, die in der Forschung „dritte Räume“ oder „liminal spaces“ genannt werden: So können sich im Ankunftsland parallelgesellschaftlich geprägte „ethnische Enklaven“ entwickeln, etwa in Form von informellen Netzwerken oder einem ethnisch geprägten Wirtschaftssektor. Solche Strukturen bieten Unterstützung, die gerade Neuankömmlingen den Einstieg erleichtern, aber auch langfristig als „Mobilitätsfallen“ integrationshindernd wirken können. Dort, wo der informelle Sektor mit dem Schlepperwesen verbunden ist, das Chinesen etwa über Südosteuropa nach Zentraleuropa einschleust, fristen manche Chinesen in jahrelanger Schuldknechtschaft und Illegalität ihr Dasein – ohne Kontakt zur Ankunftsgesellschaft. Die Zahl dieser Chinesen soll weltweit in die Millionen gehen.
Während diese Menschen im Laufe der Jahre ihre Verbindung zum Herkunftsland verlieren können, zugleich aber nie Zugang ins neue Land finden, bewegen sich andere selbstverständlich und souverän zwischen beiden Welten. Transnationale Identitäten verbinden Elemente aus Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft und bringen hybride Kulturen hervor, die chinesische Wurzeln mit lokalen Lebenswelten verknüpfen. Diese Menschen sind mehrsprachig, interkulturell und pendeln beruflich oder privat zwischen alter und neuer Heimat.
Welche dieser vier Bezugspunkte für eine Person im Vordergrund steht, variiert je nach Individuum und Kontext. Nicht immer ist das eine Frage der freien Wahl. Dissidenten werden von Chinas Regierung abgelehnt; sie identifizieren sich zwar als Chinesen, aber nicht mit dem chinesischen Parteistaat. Wieder andere stoßen auf verschlossene Ankunftsgesellschaften, auf Diskriminierung oder auf ein rigides Einwanderungsrecht, das gesellschaftliche Marginalisierung befördert. Ethnische Netzwerke vor Ort können dialektgeprägt und exklusiv sein. Und Transnationalität ist voraussetzungsvoll und verlangt ein hohes Maß an interkultureller Kompetenz.
So oder so: Die Lebenswelten der „chinesischen Diaspora“ sind divers und heterogen und müssen – im Wechselspiel mit lokalen, nationalen genauso wie globalen Entwicklungen – immer wieder neu ausgehandelt werden. Dieses Bild widerspricht einfachen Zuschreibungen, wie man sie oft in politischen oder medialen Debatten findet. Wer nun zur „Diaspora“ dazugehört und wer nicht? Jedes Individuum chinesischer Abstammung gibt darauf seine eigene Antwort.