Wie fern ist Europa?
Europäische Öffentlichkeit in der Regionalzeitung
In der Diskussion um europäische Öffentlichkeit geht es fast immer um überregionale Medien. Das eigentliche Massenmedium wird dabei häufig vergessen: Zwei Drittel aller Deutschen nutzen Lokal- und Regionalblätter und deren Onlineangebote. Dass Europa in dieser Berichterstattung noch eine geringe Rolle spielt, liegt jedoch nicht unbedingt am mangelnden Willen der Journalisten, zeigt eine Studie über Regionalzeitungs-Redaktionen.
Die Debatte um die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit hat sich rasant entwickelt: Viele Forschungsprojekte wurden in den vergangenen Jahren abgeschlossen, immer neue Arbeiten und Studien kommen hinzu. Fast überall ist aber nur von überregionalen Medien die Rede, wenn es um den Zustand der EU-Berichterstattung geht. Vergessen wird, dass vor allem Regionalzeitungen die Masse der Menschen erreichen: Zwei Drittel der Deutschen informieren sich über ihr Regional- und Lokalblatt und dessen Online-Dienste, wie Studien zeigen.
Wie berichten also das eigentliche Massenmedium, die Regionalzeitung, und damit auch ihre lokalen Ableger über Europa? Diese Frage wurde bislang kaum gestellt. Wenige Arbeiten zeigen, dass die regionale EU-Berichterstattung ähnliche Schwächen hat wie die überregionale Berichterstattung. Dazu kommen andere Defizite, die verhindern, dass ein breiter Mediendiskurs über europäische Politik entsteht - wenn nicht gerade ein "Megathema" wie die Schuldenkrise Europa zum Dauerbrenner macht.
In normalen Zeiten wird, gemessen an ihrer innenpolitischen Bedeutung, zu wenig über die EU berichtet. Dies liegt insbesondere am fehlenden Engagement regionaler Medien, die europäischen Bezüge regionaler Themen sichtbar zu machen. Ein Beispiel: Wer über die Auswahl von NATURA 2000-Gebiete berichtet, dürfte eigentlich nicht nur von einem örtlichen Naturschutzgebiet sprechen. Auch die Hintergründe der EU-Richtlinien, die die Grundlage dieses europaweiten Netzwerks von Naturschutzgebieten schaffen, müssten erklärt werden. Allerdings geschieht dies kaum, wie die wenigen vorliegenden Studien zeigen.
Regionale Bezüge hat die EU-Politik viele – nur kommen sie in der Berichterstattung kaum vor. "Die EU als Förder- und Ausgleichsmotor innerhalb Europas wirkt vielfach gerade in den Regionen. Dort werden Straßenbauten, Museumsprojekte, Festivals, Jugendprogramme und vieles mehr direkt aus EU-Töpfen finanziert", stellt der Dortmunder Journalistik-Professor Gerd G. Kopper fest. "Nur scheint es eher die Ausnahme zu sein, dass solche Aktivitäten mit ihren Entscheidungsmechanismen und dahinter stehenden Personen in lesbares, vielleicht sogar unterhaltsames Alltagsformat gegossen werden."
Regionalzeitungen warten zumeist auf die EU-Berichte, die ihnen die Nachrichtenagenturen anbieten. Oder aber ihr Brüssel-Korrespondent, sofern sie einen haben. Rund die Hälfte der Lokal- und Regionalblätter hat keinen Mitarbeiter in Brüssel. Diese Personalsituation wird von Wissenschaftlern immer wieder kritisiert. Hat eine Zeitung einen Korrespondenten, bekommt sie eigene EU-Geschichten, lernt das sperrige "Brüssel" über den persönlichen Kontakt besser kennen, öffnet sie sich insgesamt und wird europäischer. Das zeigen Redaktionsbefragungen wie etwa die des Autors, der für seine Doktorarbeit 24 Regionalzeitungen in allen Bundesländern besuchte. Bei Blättern, die keinen Korrespondenten haben, fallen all diese Vorteile weg.
Die Regionalkorrespondenten in Brüssel arbeiten allerdings meist für mehrere Blätter, mehr als zehn Zeitungen können es sein. Bei dieser breiten Streuung ist ein Korrespondent oft nur zum bundesweiten Rundumschlag fähig. Eine stete Berichterstattung über die speziellen Themen einer Region – wie etwa die Hafenrichtlinie für Norddeutschland oder die Weinmarktreform für Rheinland-Pfalz – kann er aus zeitlichen Gründen nicht immer leisten.
Einen Überblick zur Organisation der Berichterstattung gibt diese Grafik:

Diese Berichterstattung müsste vor allem aus der Region selbst kommen. Dort fehlt es aber an Eigeninitiative, weil viele EU-Themen gegenüber rein deutschem Stoff als nicht zwingend angesehen werden. Ein anderer, damit zusammenhängender Grund für ausbleibende Berichte ist die Struktur vieler Blätter: Auf drei Politikseiten gibt es kaum Platz für EU- und Auslandsthemen - vor allem, wenn diese Seiten konsequent mit regionalen und lokalen Artikeln bestückt werden. Nachrichten aus der Region und der eigenen Stadt sind das exklusive Pfund, mit dem die Redaktionen im Kampf um Leser und Auflage wuchern. Dabei laufen sie aber Gefahr, über die Kommune als abgeschlossenen Komplex zu berichten und die Zeitung als "Fenster zur Welt" ein Stück weit zu verschließen.
Platzmangel, das sagen interviewte Redakteure selbst, verhindere also auch, dass über EU-Themen überhaupt berichtet wird - und auch, dass über sie ausführlicher berichtet wird. Tatsächlich wird der hochkomplexe EU-Stoff oft bis zur Unverständlichkeit verkürzt. Beim Kürzen geht oft der Hinweis verloren, dass die EU eine Rolle spielt – und es kommt zur verdeckten EU-Berichterstattung: Gesetze und Verordnungen werden mit rein deutschem Hintergrund berichtet, obwohl sie ihren Vorlauf in Brüssel genommen haben. Dass das Anti-Diskriminierungsgesetz Ergebnis von europäischen Richtlinien ist, muss gesagt werden. Andernfalls erscheint die Politik immer nur national, obwohl sie europäisch ist.
Die EU kann auch aus einem anderen Grund vergessen werden: fehlendes Sachwissen. Ein Problem, das sich in mehrfacher Hinsicht auf die Berichterstattung auswirkt. Viele Redakteure fühlen sich mit der komplexen EU-Politik überfordert, weshalb sie selten von sich aus eine Recherche beginnen. Langwierige Gesetzgebungsverfahren verwirren sie, die nur schwer erkennen lassen, in welchem Stadium eine Regelung oder ein Entwurf gerade ist. Oder sie fragen sich, an wem sie ein kompliziertes Thema aufhängen können: Wer auf der Straße kennt schon EU-Währungskommissar Olli Rehn, den eigentlich zuständigen Mann für den Euro?