Lokaljournalismus in den neuen Bundesländern
Einblick: Freie Presse nach ‘89 – Die Wende im Lokalen?
Michael Haller
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Die Zeitungslandschaft im Osten sollte sich nach der Wende ändern: Die Leitungspositionen wurden ausgetauscht, neue freie Zeitungen gegründet, aber auch Zeitungen an Westverlage verkauft. Wie tief war der Einschnitt im Lokalen? Standpunkt und Bestandsaufnahme vom Medienwissenschaftler Michael Haller.
Als in Ostdeutschland in der zweiten Hälfte der 90er Jahre die Stimmenanteile für die CDU und die SPD plötzlich zurückgingen und die PDS an Zuspruch gewann, vertraten mehrere westdeutsche Medienforscher die These, dass dieser Meinungsumschwung das Werk der ostdeutschen Medien sei. Denn dort würden die zu DDR-Zeiten ausgebildeten Journalisten weiterhin als Meinungsmacher wirken und insgeheim "gegen" die bürgerlichen Werte und so auch gegen die (westdeutschen) Volksparteien schreiben. Auch die berühmte Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann vertrat noch zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Ansicht, dass bei den Ostdeutschen das Leitbild "soziale Gerechtigkeit" (wieder) mehr Geltung habe als das der "Freiheit", während es in Westdeutschland zum Glück genau umgekehrt sei. Offenbar hätten sich die Ostdeutschen "aus der Indoktrination der vierzig Jahre DDR-Zeit" (noch) nicht lösen können. Als Grund nannte Noelle-Neumann dies: "In Ostdeutschland hatte der totalitäre, nach 1945 errichtete Staat vierzig Jahre lang Zeit, ein gesinnungsfestes Mediensystem aufzubauen, und dieses blieb dann nach der Wiedervereinigung zu einem großen Teil erhalten." (FAZ vom 27. 9. 2000).
Wie zum Beweis publizierte das private Medieninstitut Medien Tenor im selben Jahr die Ergebnisse einer Inhaltsanalyse. Unter dem Titel "CDU und PDS Kopf an Kopf in Sachsen" wurde die These verbreitet, die Journalisten der Leipziger Volkszeitung und die der Sächsischen Zeitung würden der PDS mehr Aufmerksamkeit schenken, damit sie als Alternative zur Mehrheitspartei CDU regierungsfähig würde. Funktionierten demnach die ostdeutschen Journalisten auch ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der DDR als ewig-gestrige Sozialisten und Destabilisierer der bürgerlichen Ordnung?
Jene Thesen sind auch im historischen Rückblick aufschlussreich, weil sie viel über die in Westdeutschland verbreiteten Vorurteile und nur wenig über die Menschen in den neuen Bundesländern aussagen. Nicht nur, dass die Daten falsch waren (dem inzwischen umbenannten und ins Ausland abgewanderten Institut Medien Tenor wurde per Kölner Gerichtsurteil Datenmanipulation nachgewiesen; offen blieb, ob dies aus Gefälligkeit für Auftraggeber aus dem konservativen Lager geschehen war). Auffällig ist darüber hinaus, dass die Thesen der CDU-nahen Medienforscher der Überzeugung entstammten, die Westdeutschen (insb. Helmut Kohls Regierung) hätten doch alles getan, damit die Leute "drüben" die neu erworbene Freiheit genießen könnten. Und wie zum Dank würden die Ost-Journalisten, kaum hätten sie die Pressefreiheit, der alten sozialistischen Gleichmacherei das Wort reden. Dass die neuen Bundesländer – und mit ihnen die Journalisten als Beobachter der Verhältnisse – seit Mitte der 90er Jahre mit rasant steigenden Arbeitslosenquoten und einer neu einsetzenden Fluchtwelle vor allem der jungen, besser ausgebildeten Leute zu kämpfen hatten; dass die versprochenen blühenden Landschaften weiter auf sich warten ließen; dass vor allem westliche Unternehmen, insbesondere Baukonzerne am "Soli" verdienten, indem sie die ostdeutsche Infrastruktur reparierten; dass viele ostdeutsche Produktionsstätten von West-Firmen aufgekauft und Monate später stillgelegt wurden: Solche und andere Erfahrungen lösten bei vielen Ostdeutschen eine schwere Erwartungsenttäuschung aus, von der man rückblickend sagen muss: Überraschend war nicht das Anwachsen der PDS; erstaunlich ist vielmehr, dass es trotz dieser Depression in den neuen Bundesländern seit 1995 weitgehend ruhig geblieben ist (dass sich seit damals rechtsradikale Gruppen im ostdeutschen Untergrund formierten, erkannten viele Lokaljournalisten durchaus, sie unterschätzten aber deren kriminelle Energien oder fanden nicht die erforderliche publizistische Unterstützung).
"Offiziell hielt man die Klappe"
Tatsächlich hat sich der ostdeutsche Journalismus mit und seit der Wende deutlich anders entwickelt, als es einige westdeutsche Beobachter aus ihrer allzu großen Distanz haben sehen wollen. Denn die Wende setzte in mehreren ostdeutschen Zeitungsredaktionen bereits im Laufe des Spätsommers 1989 ein – nicht als Protestrevolte, sondern durch den wachsenden Widerstand gegen die Parteidoktrin. Und dieser kam im Feld des Lokaljournalismus zu Wort, indem er sich den Sorgen und Nöten – und Fragen – der Bevölkerung zuwandte.
Werfen wir einen Blick zurück in das Jahr 1989, als in der Sowjetunion ein neuer Partei- und Staatschef namens Gorbatschow mit "Glasnost" und "Perestroika" den Staatssozialismus zu reformieren versuchte, ein Unterfangen, dass vom SED-Zentralkomitee schroff abgelehnt wurde und das zu der grotesken Situation führte, dass die DDR das sowjetische Jugendmagazin "Sputnik" verbot. Im Herbst 1989 erschienen in der DDR 38 Tageszeitungen. Von diesen gab die Staatspartei 17 heraus, darunter 14 Bezirkszeitungen mit 218 unterschiedlichen Lokalteilen für die 218 Verwaltungskreise – eine flächendeckende, auf die politische Organisationsstruktur haarklein zugeschnittene Versorgung mit Ideologie. Diese Bezirkszeitungen hatten sehr hohe Auflagen, die Freie Presse in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) etwa wurde mit 680.000 Exemplaren täglich verbreitet. Die übrigen 18 Tageszeitungen gehörten den Blockparteien (wie zum Beispiel die Neue Zeit der Ost-CDU); sie erhielten aber so wenig Papier zugeteilt, dass alle zusammen unterhalb der Millionengrenze blieben. Im SED-eigenen Berliner Verlag erschien zudem noch die Stadtzeitung Berliner Zeitung und die BZ am Abend: das einzige Boulevardblatt der DDR.
Die während Jahrzehnten fest eingespielte, auf Anpassung getrimmte Überwachung der Bezirkszeitungen durch parteilinientreue Redaktionsleiter, die von linientreuen SED-Bezirkssekretären kontrolliert wurden, denen wiederum Mitarbeiter der Staatssicherheit zur Seite standen: Dieses rigide Indoktrinationssystem wurde nicht in der Zentrale in Berlin, sondern an den Rändern aufgeweicht. Zum Beispiel in Erfurt, wo die SED-Bezirkszeitung Das Volk erschien. "Glasnost und Perestroika hatten die Welt elektrisiert. Die alte Chefredaktion war verunsichert, aber blieb überzeugt, dass es zur Parteizeitung keine Alternative gäbe", erinnert sich Sergej Lochthofen, der mit anderen jungen Redakteuren im Sommer 1989 damit begann, Themen in die Zeitung zu bringen, die von den Alltagsproblemen der Leute handelten. "Wie auf den Straßen in Leipzig, so kam auch in der Zeitung die Bewegung von unten nach oben in Gang." Nachdem im Dezember 1989 die Führungsrolle der SED aus der Verfassung getilgt worden war, sagte sich die Redaktion im Januar 1990 von der SED los, wählte einen siebenköpfigen Redaktionsrat, machte den damals erst 37-jährigen Lochthofen zum Redaktionsleiter und nannte das Blatt fortan Thüringer Allgemeine. Während zwei Jahrzehnten blieb Lochthofen ihr Chefredakteur; er kümmerte sich anfangs auch um das Verlagsgeschäft und fädelte den Verkauf an den WAZ-Konzern in Essen ("Westdeutsche Allgemeine") ein, stets mit dem Ziel, politisch unabhängig bleiben zu wollen. In einem längeren Interview im Frühjahr 2010 erinnerte sich Lochthofen an jene Wendezeit: "Das Leben war damals anders, als es die Propaganda den Menschen weiß machen wollte. Auch in den Redaktionen. Es gab nur wenige, die vorbehaltslos den ganzen Unsinn glaubten. Aus Angst hielt man dennoch offiziell die Klappe. So war es nur logisch, dass wir dann die erste Enthüllungsgeschichte, die in einer Ostzeitung stand, brachten. Es ging um den Ersten Bezirkssekretär und sein Jagdhäuschen, das er auf dubiose Weise an sich gebracht hatte. Ein klarer Fall von Amtsmissbrauch. (…) Uns war ganz schön mulmig. Dann griff das Fernsehen die Sache auf. Weitere Enthüllungen über Honecker & Co. folgten. So kam auch hier der erste Anstoß aus der Provinz." (alle Zitate aus: Sergej Lochthofen: "Wir haben uns tastend vorwärts bewegt". Ein Gespräch. In: Message, Internationale Zeitschrift für Journalismus, Nr. 2/2010, S. 26-35).
Westdeutsche Zeitungen tasten sich vor
Andere Bezirkszeitungen blieben bis zu den ersten Wahlen im Frühjahr 1990 unter der Knute der SED-Bezirkssekretäre; und in mancher Bezirkszeitung hielt sich auch die SED-Ideologie als Wahrheitsglaube noch bis in den Frühsommer 1990 – doch länger nicht. In jenen Monaten gingen auch die Eigentumsrechte praktisch aller Bezirkszeitungen für vergleichsweise wenig Geld an westdeutsche Zeitungsverleger über. Manche dieser Zeitungen wurden über die Treuhand ausgeschrieben, manche aber auch nicht (so wurde die Freie Presse in Chemnitz für umgerechnet 100 Millionen Euro an die Medien-Union GmbH mit Sitz in Ludwigshafen übereignet, die wiederum einem Freund des Bundeskanzlers Kohl, Dieter Schaub, gehörte) (Externer Link: http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1991-11.html).
Die Übernahme der Zeitungen durch westdeutsche Verlage erlaubte die dringend erforderliche technische Erneuerung in den Redaktionen wie im Druckbereich und im Vertrieb; sie verhinderte indessen die strukturellen Reformen, ohne die eine Pressevielfalt nicht herzustellen war. Denn auch nach der Verwaltungsreform 1991-1994 (Kreisgebiete) blieben die riesigen Verbreitungsgebiete der früheren Bezirkszeitungen bestehen, die den Blättern eine wirtschaftlich uneinnehmbare Monopolstellung in ihren Gebieten sicherstellten. Die Verkaufspolitik der Treuhand wurde von mehreren Medienwissenschaftlern scharf kritisiert Denn sie missachtete alle Grundsätze, die dem Mediensystem in einer demokratischen Gesellschaft normativ zugrunde gelegt werden. Statt die großen Bezirke zu zergliedern in lokale Räume und dort eigene publizistische Einheiten zu schaffen und Konkurrenzzeitungen zu ermöglichen, wurden viele Titel und Druckereien nach politischen Opportunitäten, andere an die Meistbietenden verkauft (wie: Gruner+Jahr, Bauer Verlag Hamburg, Axel Springer Verlag). Die Großverlage konnten mit ihrer geballten Wirtschaftskraft die Zeitungsneugründungen vor allem der Bürgerbewegungen aus der Phase der Wende schachmatt setzen: Anzeigendumping, Abo-Preise absenken, Werbegeschenke an Neu-Abonnenten und anderes mehr. Diesem Marktkrieg waren die kleinen Unternehmen nicht gewachsen, zumal die Großverleger neben wertvollen Immobilien auch die Druckereien besaßen.
Die Frage, ob und gegebenenfalls wie ihre ostdeutschen Redaktionen für die Rolle des neutralen Berichterstatters und kritischen Kommentators gestärkt und wie sie mit Recherchekompetenz ausgestattet werden könnten, beschäftigte nur wenige der westdeutschen Eigentümer. Um Umschulungen und Weiterbildungskurse kümmerten sich die Berufsverbände, auch die Bundeszentrale für Politische Bildung half mit. Manche Verleger bezweifelten im Übrigen den Erfolg der Ostzeitungen; sie fanden es klüger, den eigenen Titel zu exportieren (wie zum Beispiel die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine (HNA) aus Kassel, die Westthüringen zu vereinnahmen suchte und scheiterte). Wiederum andere starteten zusätzliche Neugründungen, im Bestreben, den ostdeutschen Lesermarkt gewinnbringend zu erobern (zum Beispiel der Hannoveraner Madsack-Konzern mit der Neuen Presse in Halle und der Verlag Gruner+Jahr mit der Morgenpost in Chemnitz und Dresden – auch diese Initiativen blieben überwiegend erfolglos). Publizistisch aktiv waren auch lokale Drucker und die Bürgerrechtsbewegung, die mit großem Elan – aber nur geringer Professionalität - neue Zeitungen im Geiste des "demokratischen Aufbruchs" auf den Markt brachten, im Glauben, die neuen Zeiten würden auch neue Informationswünsche hervorbringen. Dem war aber nicht so. Von den elf in der Wendezeit gegründeten Regionalzeitungen ging eine nach der anderen wieder ein (zumal den meisten Neugründungen das erforderliche journalistische Knowhow fehlte); nach zehn Jahren waren mit dem 1990 gegründeten Oranienburger Generalanzeiger, der in Salzwedel verlegten Altmark Zeitung und der Südthüringer Zeitung nur noch drei Lokalblätter übrig. Die letztere wurde wenig später vom Süddeutschen Verlag übernommen und mit dem Freien Wort in Suhl per Mantelkonzept fusioniert. Der Oranienburger Generalanzeiger erscheint zwar noch unter diesem Namen, wurde aber zum Januar 2011 vom Verlag der Märkischen Oderzeitung (Frankfurt/Oder) gekauft und ist im Besitz der Stuttgarter und Ulmer Zeitungsverleger. Die Altmark Zeitung schließlich gehört zu einem Kopfblattsystem im Eigentum der Verlagsgruppe Dirk Ippen in München.
Identifikation mit den "alt-neuen" Regionalzeitungen
Von den DDR-Tageszeitungen schrumpften zunächst nur die überregionalen Blätter dahin. Die verkaufte Auflage des SED-Zentralorgans Neues Deutschland, die zur Wendezeit noch bei einer Million Exemplare lag, sank während der 90er Jahre rapide und bewegt sich heute bei 34.000 Exemplaren. Die Neue Zeit, einstiges Zentralorgan der Ost-CDU, das die Frankfurter Allgemeine übernommen und auf liberalbürgerlichen Kurs gebracht hatte, musste 1994 mangels Lesern eingestellt werden. Noch merkwürdiger war der Untergang der dritten überregionalen Tageszeitung Der Morgen (zu DDR-Zeiten das Organ der liberaldemokratischen Blockpartei); die vom Axel Springer Verlag erworbene Zeitung glänzte mit einem (von Westjournalisten betriebenen) Enthüllungsjournalismus, wurde aber im Juni 1991 vom Markt genommen.
Mit dem Untergang der DDR verschwand auch die künstlich erzeugte Staatsidentität. In den neuen Bundesländern gab es keine spezifisch ostdeutschen Informationswünsche (im Unterschied zu den Ostalgie-Gefühlen, die vom Dritten Programm des MDR und dem Magazin Super-Illu bedient wurden). An deren Stelle trat die Rückbesinnung auf die viel älteren lokal-regionalen Traditionen als Quasi-Heimat. Diesen Trend übernahmen die ehemaligen SED-Bezirkszeitungen, die seit 1990 ihre Lokalteile massiv ausgebauten. Sie waren für die Menschen zum wichtigsten Begleiter auf dem unsicheren Weg vom alten ins neue System geworden. Diese Überleitung gelang auch deshalb, weil in den meisten Lokalredaktionen noch dieselben Leute saßen, die ja auch dieselbe Sprache sprachen wie ihr Publikum. Ende 1991 bestanden die Zeitungsredaktionen noch zu mehr als 90 Prozent aus ostdeutschen Journalisten; mehr als zwei Drittel aller Redaktionen wurden von ostdeutschen Chefs geleitet. Das heißt: Die Redaktionen wurden zwar ausgedünnt, aber nicht erneuert – Erst in der zweiten Hälfte der 90er Jahre setzte dann die systematische IM-Enthüllungspublizistik und die Stasi-Überprüfung ein.
Im Rückblick bestätigt sich, dass die alt-neuen Regionalzeitungen während der Wendezeit die einzige Mediengattung waren, mit dem sich die Einwohner identifizieren konnten. Denn gerade die Journalisten jener 218 Lokalausgaben hatten dasselbe durchlebt, was ihre Leser erlebten: den radikalen Systemwechsel mit seinem Freudentaumel und seinen Ängsten, seinen Erwartungen und auch Enttäuschungen.
Man kann nicht behaupten, dass die Lokaljournalisten der Wendezeit durchwegs Enthüllungsrecherchen, hautnahe Erzählstücke und porentiefe Strukturanalysen gebracht hätten. Sie sahen sich vielmehr als neutrale Chronisten, die sich den Umgang mit Auskunftsrechten, die Kriterien für die Nachrichtenauswahl und die ungewohnte Mühe der eigenen Meinungsbildung (zumal über Vorgänge, die nur schwer zu durchschauen waren) meist selbst angeeignet hatten. So erbrachten die noch in der DDR ausgebildeten Lokaljournalisten eine beeindruckende Anpassungsleistung an die westdeutschen Standards.
Im Jahr 1992 führte die Forschungsgruppe "Journalismus in Deutschland" an der Universität Münster in beiden Teilen Deutschland eine Repräsentativerhebung unter den Journalisten durch. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Einstellungsunterschiede zwischen ost- und westdeutschen Journalisten überraschend gering seien: Hüben wie drüben dominiere der sachliche Informationsjournalismus, der Parteilichkeit ablehne und publizistische Lebenshilfe gut fände. Die ostdeutschen Journalisten hätten sich dem westdeutschen Typ mehr und mehr angepasst, folgerten die Forscher. Was diese standardisierte Fragebogenerhebung nicht erfassen konnte, betraf die subtileren Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Journalisten. Im Rahmen eines Forschungsprogramms am Lehrstuhl Journalistik der Universität Leipzig äußerten viele ostdeutsche Lokalredakteure, die in leitenden Stellungen arbeiteten, in den Tiefeninterviews eine tiefgehende Erwartungsenttäuschung: Den Journalismus, den sie in der informationsoffenen, demokratisch organisierten Gesellschaft erwartet hatten, konnten sie de facto nicht verwirklichen. Zwar gab es keine Parteiideologie zu befolgen; dafür existierte ein hoher ökonomischer Anpassungsdruck; viele befragte Lokaljournalisten äußerten sich skeptisch, wenn nach ihrer Einstellung zu westdeutschen Kollegen gefragt wurde; auch gaben sie sich enttäuscht darüber, wie stark der Journalismus jetzt in wirtschaftliche Interessen eingebunden sei.
Ohne Zweifel erfolgte die lokale Berichterstattung – im Vergleich zu den vergangenen Zeiten – aus parteipolitisch ungebundener und staatsunabhängiger Sicht. Doch gemessen an der Idee des kritisch nachfragenden, um Aufklärung bemühten Journalismus bewegten sich die ostdeutschen Zeitungen mehr und mehr auf der bequemen Straße des Mainstream, wo man übergeht und verschweigt, was die kommunalen Eliten nicht lesen möchten. Wenn man nach Parallelen zum DDR-Journalismus der späten 80er Jahre sucht, dann traten diese am Ende der 90er Jahre durchaus hervor – doch nicht im Plädoyer für sozialistische "Gerechtigkeit", wie Noelle-Neumann meinte, sondern in der kritiklosen Subordination unter den politischen und wirtschaftlichen Status quo. Verstärkt wurde diese Tendenz durch die neu installierten und mit einstigen Stasi-Kaderleuten durchsetzten lokalen Machtkartelle, die sich Posten und Fördergelder zuschoben – Man nannte sie jetzt Seilschaften, weil sie sich wechselseitig absicherten und stützten. Dort, wo Lokalzeitungen derartige Missstände aufdeckten, wurden sie meist harsch kritisiert; konsequente Recherchen wie beispielsweise von Simone Wendler in der Externer Link: Lausitzer Rundschau blieben die Ausnahme. Auch die erstarkende Rolle der PDS auf der einen Seite und der rechtsextremen Parteien auf der anderen wurden zunächst tabuisiert. "Wir wollen die doch nicht aufwerten", sagten Lokalchefs Anfang des neuen Jahrhunderts auf die Frage, warum sie die in die Stadtparlamente gewählten Vertreter der NPD mit Schweigen übergingen; der von Westjournalisten aufgeblasene Skandal um den "Fall Sebnitz" hatte diese Einstellung massiv befördert. Freilich nahm dann aufgrund der Wahlerfolge der NPD in Sachsen (2004) die kritische, auch differenzierte Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus in den ostdeutschen Regionalzeitungen wieder zu. Die anfangs "wenig inhaltlich argumentierende Ablehnung der NPD wurde zunehmend durch eine faktenbasierte, auch rechercheintensivere Berichterstattung abgelöst", urteilte eine Studie, die knapp tausend Berichte untersuchte und die zuständigen Zeitungsredakteure befragte.
Wandel in der Zeitungsbranche
Inzwischen haben sich die politischen Verhältnisse keineswegs beruhigt, und auch im Lokalen gibt es weiterhin großen Informationsbedarf - und doch haben die ostdeutschen Lokalausgaben in den vergangenen zwei Jahrzehnten massiv an Geltung und an Reichweite verloren. Die verkaufte Auflage so mancher Regionalzeitung hat sich seit der Wende sogar halbiert. Die Leipziger Volkszeitung zum Beispiel, deren Verbreitungsgebiet noch zu den strukturstärkeren gehört und die Ende 1989 noch 483.000 Exemplare absetzte, verkaufte Ende 2011 nur noch 211.000 Exemplare (IVW-beglaubigte verkaufte Gesamtauflage) – mit weiter fallender Tendenz.
Dieser Abwärtstrend geht auf verschiedene Ursachen und Umstände zurück. Zu diesen zählen die wachsende Konkurrenz durch die kostenlosen Online-Angebote und der personelle Abbau in den Redaktionen. Hinzu kommt die Abwanderung der formal besser ausgebildeten jungen Leute insbesondere in den strukturschwachen Regionen in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern mit hoher Arbeitslosenquote. Vielerorts haben die Lokalausgaben im Laufe der letzten zehn Jahre aber auch deshalb an Reputation verloren, weil sie – Studien des Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung (IPJ) in Leipzig zufolge – als Repräsentanten einer vermeintlich heilen und vor allem an Freizeit und Schnäppchen interessierten Alltagswelt agieren. Vor allem jüngere Erwachsene halten den real existierenden Lokaljournalismus der Tageszeitungen in Bezug auf ihre eigene Lebenswelt für irrelevant. Die jungen Leute haben ein ausgeprägtes Gefühl für Nutzwertigkeit entwickelt. Und wenn ihnen das Informationsangebot der Zeitung nichts nützt, weil es zu sehr auf die Interessen der lokalen Eliten und auf die biedere Weltsicht der Über-50-Jährigen ausgerichtet ist, dann interessieren sie sich nicht dafür, zumal ihnen das Abonnement als kostspielig erscheint – ein Trend, den man deutlich schwächer auch in den alten Bundesländern beobachten kann.
Verbirgt sich hinter dieser Verweigerung die Ignoranz der jungen Leute, die lesefaul geworden sind? Oder kommt darin das Missmanagement vieler Chefredaktionen und Zeitungsverleger zum Ausdruck? Oder die konservative Grundhaltung der Lokaljournalisten, die sich im Fortgang eines langwierigen Anpassungsprozesses mit dem herrschenden Status quo arrangiert hat und keine Innovationen zu leisten imstande ist? Sind es Ermüdungserscheinungen in den – infolge von Sparmaßnahmen personell ausgedünnten – Redaktionen, die ihre Lokalteile mehr oder weniger lustlos mit Berichterstattungen abfüllen und statt Eigenrecherche überwiegend Textmanagement betreiben? Antworten sind nicht leicht zu finden, zumal die Leserforschung wie die "Allensbacher Werbeträger-Analyse" oder das Externer Link: Leserpanel des IPJ immer aufs Neue ermittelt, dass sich die Erwachsenen, wenn sie journalistische Medien konsumieren, am meisten fürs Lokale interessieren. Wie also müsste ein erfolgreicher Lokaljournalismus gemacht sein? Die Antwort fällt deshalb schwer, weil die Krise – wie oben beschrieben – auf viele Faktoren zurückgeht. Der Medienwandel ist ein komplexer Prozess: der sich nicht mit einfachen Rezepten behandeln lässt. Diese Erfahrung machen nicht nur die Zeitungsjournalisten, sondern auch die Onlinebetreiber, deren Lokalauftritte bislang nur kleine Minderheiten erreichen. Im Laufe des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts experimentierten verschiedene Gruppen junger Leute – überwiegend Studierende – in Leipzig, Dresden, Chemnitz, Mittweida und Halle mit einem munteren, auf die Interessen und Bedürfnisse der Gleichaltrigen zugeschnittenen Journalismus, der die urbane Lebenswelt der jungen Erwachsenen zum Thema nahm und eher den Online-Dialogforen der Social Media ähnelte als dem tradierten Zeitungsjournalismus. Doch die meisten dieser zum Teil originellen Experimente hatten nur eine kurze Lebenszeit, nicht zuletzt, weil sie mangels Reichweite keine tragfähige Finanzierungsbasis fanden Es wird also noch einige Zeit dauern, ehe ein veränderter Lokaljournalismus in den neuen Bundesländern neue Wirkkraft entfalten wird. Als Anregung hilft vielleicht die Erinnerung an den Winter 1989,als Lokaljournalisten mit etwas Mut und viel Experimentierfreude angetreten waren, die herrschende Staatsideologie durch die Bedürfnisse und Interessen der Bürger zu ersetzen.
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Michael Haller ist Herausgeber der Internationalen Zeitschrift für Journalismus "message". Zu den Schwerpunkten des emeritierten Professors für Allgemeine und Spezielle Journalistik an der Universität Leipzig gehören im Bereich des Printjournalismus insbesondere Tageszeitungen, sowie Medienethik und Qualitätssicherung. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen unter anderem zur journalistischen Praxis und zur medienkulturellen Entwicklung.