Vergessene Themen
Einblick: Defizite und Initiativen
Die Gesellschaft hat viele Gesichter. Kommen sie alle in der Lokalberichterstattung vor? Oder wird der Blick für die relevanten Themen durch Terminjournalismus verstellt? Wie lassen sich thematische Leerstellen verhindern?Als die tägliche Zeitung im Briefkasten noch konkurrenzlos war, gestaltete sich die Informationslage eindeutig: Wer wissen wollte, was in seiner Stadt oder im Nachbardorf passierte, musste in die Lokalzeitung schauen. Im schlechtesten Fall bedeutete das: Was der Redakteur vor Ort nicht schrieb, das fand öffentlich nicht statt. Heute hat sich die Gruppe derer, die Themen öffentlich machen und Debatten anstoßen, vergrößert. Überall posten, twittern und bloggen Menschen, die sich in ihrem Fachgebiet oder ihrem Stadtviertel auskennen - manchmal besser als der noch so gut vernetzte Journalist.
Sie bieten ihren Lesern, was diese (nach Ansicht der Blogbetreiber) von den etablierten lokalen Medien nicht bekommen: Unabhängige Recherche, Kritik und Themen, die zu kurz kommen. Im Prinzip also genau das, was – Leserbefragungen untermauern das – ein Lokalblatt leisten soll und allzu oft tatsächlich nicht leistet: Es gibt diese Exemplare, gefüllt mit austauschbaren Berichten über Vereinsversammlungen inklusive akribisch geführter Liste der Geehrten, Pressemitteilungen aus dem Rathaus und Ergebnisberichten aus der Kreisliga. Allesamt verpackt in eine eintönige Berichtsform und statische Fotomotive, während man nach Kommentaren und Features lange suchen muss. Woran es neben der Darstellungsvielfalt mangelt, sind die schwierigen und sperrigen Themen. Geboten wird, was die Termine hergeben, eine langweilige Mischung aus Hofberichterstattung und "Bratwurstjournalismus", wie Lokalblogger Hardy Prothmann 2009 einen Journalismus titulierte, der sich lediglich auf die Chronistenpflicht versteife.
Keine Recherche, kein Bericht
Der Vorwurf hinter dem Begriff ist wesentlich älter. Seit den 60er Jahren analysiert die Kommunikationsforschung die lokalen Inhalte von Zeitungen, die Ergebnisse wiederholen sich: Es dominiere Termin- und Verlautbarungsjournalismus, die lokalen Eliten seien überrepräsentiert, Hintergründe und Zusammenhänge würden zu wenig erklärt, der Lokalteil sei zu unkritisch und unpolitisch. Themen, die mehr Recherche erfordern, als brisant oder unbequem eingeschätzt werden, kämen zu kurz. Daraus kann ein folgenschwerer Kreislauf entstehen: Keine Recherche, kein Bericht; und weil nicht berichtet wird, bleiben Probleme in der Öffentlichkeit lange unbekannt, die man frühzeitig hätte bearbeiten können, bevor sie gravierende Folgen provoziert haben. Die Frage etwa nach gleichen Bildungschancen für alle wurde erst zum Top-Thema, als Pisa-Studien bereits grobe Defizite im Bildungsbereich dokumentieren mussten. Der Medienwissenschaftler Horst Pöttker nennt diesen Effekt eine Art Schweigespirale und konstatiert: "Öffentliche Vernachlässigung bringt sich selbst hervor."Dass manche Themen so schwer Eingang in die Berichterstattung finden, hat wesentlich damit zu tun, wie Lokalredakteure Themen auswählen. Wie bei allen Journalisten spielen dabei klassische Nachrichtenfaktoren eine Rolle, etwa Aktualität, geografische Nähe, Neuigkeitswert – und Lesernähe. Oft haben Lokaljournalisten dabei allerdings diejenigen vor Augen, mit denen sie tagtäglich zu tun haben. Und das sind in der Regel: die lokalen Eliten wie Kommunalpolitiker, Sportfunktionäre, Kulturarbeiter, Vereinsvertreter, Unternehmer und nicht zuletzt die eigenen Kollegen in der Redaktion. Ihre Themen sind es dann auch, die in den Spalten vieler Lokalzeitungen dominieren.
Initiativen gegen blinde Flecken
Wohlgemerkt: Sie alle sind Gestalter des Gemeinwesens und damit wichtige Informanten. Problematisch, aus journalistischer und demokratischer Sicht, wird es, wenn deren Sichtweisen zu viel Raum einnehmen und unreflektiert und unkritisch in der Zeitung abgebildet werden. Wenn Themen der Menschen, die nicht qua Funktion im öffentlichen Leben stehen, in der Zeitung nicht stattfinden.So betrifft das Thema Integration vordergründig nur eine Minderheit, die noch dazu mangels Sprachkenntnissen kaum deutsche Lokalzeitungen liest bzw. weniger Möglichkeiten hat, ihre Anliegen in die Redaktionen zu tragen. Die Folge: Meist wird über sie gesprochen, nicht mit ihnen, die Berichterstattung kratzt an der Oberfläche. Mit der Serie "Lebenswelt(en) LU" ist die Rheinpfalz in Ludwigshafen, eine Stadt mit rund 20 Prozent Ausländeranteil, 2008 und 2009 von vornherein einen anderen Weg gegangen. Denn der Anlass wog schwer: Das Konzept hat die Redaktion gemeinsam mit ausländischen Mitbürgern entwickelt, Themen waren unter anderen: Bildung, Vereine, Apotheken, Sprachförderung, Arbeitsleben, ausdrücklich auch aus Sicht von Migranten betrachtet. Parallel ließ die Zeitung eine wissenschaftliche Studie zum Stand der Integration erstellen. Aufgrund der großen Resonanz wurden alle Artikel in einem Sonderdruck zusammengefasst, der Schulen für Projektarbeit angeboten wurde – so kann eine Tageszeitung Wirkung über den Tag hinaus entfalten.
Journalisten müssen einen unverstellten Blick für diese Informationen haben und sie publizieren. Das ist ihr Auftrag, der sich aus Artikel 5 des Grundgesetzes ergibt, in dem die Presse- und Meinungsfreiheit garantiert ist. Dass es gerade im lokalen Bereich so schwer fällt, diesen Auftrag adäquat zu erfüllen, liegt auch an den besonderen Rahmenbedingungen, unter denen Journalisten arbeiten. So brauchen zum Beispiel fundierte Recherchen Zeit, die bei der Arbeitsbelastung in dünn besetzten Redaktionen fehlt.