Deutsche in der Türkei 1933 - 1945
Mehr als eine Exilgeschichte und einseitiger Modernisierungstransfer
Die Türkei diente in den Jahren 1933-1945 zahlreichen deutschen Wissenschaftlern und Künstlern als Exil. Sie stellten jedoch nur einen Teil der auslandsdeutschen Gemeinde in der Türkei dar, die auch nach 1933 ein Abbild der politisch gespaltenen deutschen Gesellschaft blieb. Denn die türkische Regierung suchte bereits seit Mitte der 1920er-Jahre Hilfe bei deutschen Experten zu Modernisierung ihres Landes, unabhängig von parteipolitischen Werten.
Es gehört noch immer zu den geschichtspolitisch in Deutschland wie in der Türkei gerne gepflegten Mythen, die Türkei neben Großbritannien und den Vereinigten Staaten als rettendes Ziel deutscher, vor allem jüdischer Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus zu feiern. Insbesondere die Wissenschaftler, Künstler und Intellektuellen, die ihre Exilzeit nach 1933 in der Türkei verbrachten, glaubten auf diese Weise ihre nachvollziehbare Dankesschuld gegenüber der Türkischen Republik ableisten zu müssen.[1] Was menschlich verständlich ist und sich daher jeder Kritik entzieht, hält einer historischen Prüfung jedoch nicht stand. Die Geschichte der Deutschen in der Türkei in den Jahren 1933-1945 hat mehr Kapitel als nur jenes, das mit dem Schlagwort "haymatloz"[2] überschrieben wird und die Türkei als "wohltätiges Asylland"[3] interpretiert. Die Türkei als Exilland deutscher jüdischer und politischer Flüchtlinge ist zwar Teil dieser Geschichte, daneben muss jedoch daran erinnert werden, dass die Gesellschaft der Auslandsdeutschen in der Türkei das Abbild der damaligen Gesellschaft im Deutschen Reich war: In Istanbul, Ankara, Bursa, Eskişehir und anderen türkischen Städten lebten auch nach 1933 neben deutschen Juden, Liberalen, Kommunisten und Sozialdemokraten, stets Nicht-Juden, Diplomaten, Wirtschaftsmigranten, Glücksritter, Missionare, Konservative, Nationalsozialisten sowie politisch Desinteressierte. Zugleich begriff sich die Türkei, die die deutschen Flüchtlinge aufnahm, politisch gerade nicht "als nazi- und/oder deutschlandfeindlich" und beschäftigte "parallel zu den ‚Flüchtlingen’ auch sogenannte ‚Reichsdeutsche’ in Universitäten und staatlichen Betrieben".[4] Dass die Türkei nach 1933 kein grundsätzlich sicherer Hort für Juden war, hat die Historikerin Corry Guttstadt akribisch und detailliert nachgewiesen.[5]
Es kommt daher darauf an, die Vielgestaltigkeit der deutschen Anwesenheit in der Türkei nach dem Ersten Weltkrieg im Blick zu haben und die Exilanten der Jahre 1933 bis 1945 zudem in die längerfristige Geschichte der "Türkeideutschen" einzuordnen. Die Anwesenheit der Deutschen in der Türkei nach 1918 diente dabei keineswegs nur einem einseitigen Modernisierungstransfer von westlich-europäischem Know-how, sondern beeinflusste auch die Arbeit der Migranten und Exilanten und durch ihre spätere Rückkehr auch die deutsche Nachkriegsgesellschaft.
Deutsche Wirtschaftsmigration und Auslandsdeutschtum in der jungen Türkischen Republik 1918-1933

Trotz dieses erzwungenen Exodus kehrten nach der Gründung der Türkischen Republik 1923 und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Weimarer Republik bald wieder Deutsche in die Türkei zurück. Mitglieder der ehemaligen deutschen "Kolonie" fanden sich nur wenige darunter; gemeinsam war jedoch allen die Hoffnung, aufgrund ihrer zurückliegenden "Erfahrungen und Beziehungen einen günstigen Boden für den Aufbau einer Lebensstellung zu finden".[7] Und so kamen neben erfolgreichen Geschäftsleuten, die an etablierte Strukturen aus der Vorkriegszeit anknüpfen konnten, auch eine ganze Reihe Glücksritter und Wirtschaftsflüchtlinge, die vor Inflation und Wirtschaftskrise in der Weimar Republik davongelaufen waren.[8] Selbst junge Frauen aus der unteren Mittelschicht, die oft als "Heiratsmigrantinnen" ins Land kamen, suchten in der Türkei ihr Glück.[9] Schließlich begann die Türkische Republik ebenfalls bereits in den 1920er-Jahren, gezielt deutsche Wissenschaftler, Künstler und Architekten für den Aufbau moderner Bildungs- und Kultureinrichtungen, Bürokratiestrukturen und den Städtebau anzuwerben.[10]
Rechtlich profitierten die Deutschen dabei zunächst vom 1927 abgeschlossenen deutsch-türkischen Niederlassungsvertrag. Allerdings unterlagen sie wie alle Ausländer einem strikten Verbot zur politischen Betätigung und seit 1932 auch weitreichenden Berufsbeschränkungen, die nur für jene zu umgehen waren, die spezielle, staatlich genehmigte Verträge erhielten.
Politisch war die deutsche Gemeinde zumindest in Istanbul vor 1933 das Abbild der politisch gespaltenen deutschen Republik. Botschafter Rudolf Nadolny lud zwischen 1924 und 1932 gleich an zwei Tagen – dem 18. Januar (Reichsgründung 1871) und dem 11. August (Verabschiedung der Weimarer Verfassung 1919) – zum Nationalfeiertag. Wie er sich erinnerte, kamen anfangs "nur die Republikaner zum 11. August und die anderen erschienen zum 18. Januar". Trotzdem gelang es ihm, dass "mit der Zeit (...) beide Teile zu beiden Festen" kamen.[11] Nicht anders als in Deutschland selbst blieb also bis 1933 offen, ob sich die deutsche Auslandskolonie in der Türkei politisch spalten oder in einem demokratischen Kompromiss arrangieren würde.
Deutsche in der Türkei zwischen Exil und Auslandspropaganda 1933 -1945
Diese politische Spaltung der Türkeideutschen vertiefte und verschärfte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933. Denn nunmehr traten aus der eingesessenen Kolonie der Diplomaten, Wirtschaftsmigranten und sendungsbewussten bildungsbürgerlichen Auslandsdeutschen, auch die Anhänger der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) immer deutlicher hervor und übten einen Anpassungsdruck auf die übrigen Mitglieder der Kolonie aus. Infolge dessen bildeten die jüdischen und liberalen Türkeideutschen zusehends eine gesonderte Subkolonie, die sich selbstironisch als "Kolonie B" (im Gegensatz zur "Kolonie A" der sogenannten Reichsdeutschen) bezeichnete, und die seit dem Herbst 1933 von den in die Türkei berufenen zumeist jüdischen Wissenschaftlern, Künstlern und Intellektuellen verstärkt wurde, die in Istanbul (wie auch in Ankara, der neuen Hauptstadt) das türkische akademische Bildungssystem aufbauen sollten.Um das türkische Exil dieser insgesamt rund 650 verfolgten Wissenschaftler, ihrer Angehörigen und Mitarbeiter angemessen zu interpretieren, kann die zufällige zeitliche Übereinstimmung von nationalsozialistischem Machtantritt und türkischer Suche nach geeigneten Experten für die neu gegründete Universität in Istanbul und das 1932 eingerichtete Yüksek Ziraat Enstitüsü – also die Landwirtschaftliche Hochschule – in Ankara nicht deutlich genug betont werden. Voraussetzung für die erfolgreiche Vermittlungsarbeit des Frankfurter Pathologen Philipp Schwartz, der selbst zu den Opfern des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums"[12] gehörte, war die seit 1932 andauernde Beratung der türkischen Regierung durch den Schweizer Pädagogen Albert Malche, der seinen Auftraggebern bevorzugt jüdische und politisch verfolgte deutsche Gelehrte zur Berufung vorschlug. Denn es ging der Türkei nicht darum, Juden und andere Verfolgte des NS-Regimes zu retten. Der Politikwissenschaftler Kemal Bozay betont in seiner Studie zum "Exil Türkei" zurecht die "technokratische Orientierung"[13] der türkischen Regierung, die rein funktional nach Experten für das kemalistische Modernisierungsprogramm suchte und dabei ebenso auf jüdische und liberale wie auf konservative und nationalsozialistische Wissenschaftler zurückgriff. Die jüdischen Emigranten hatten "Seite an Seite mit Nazi-Gelehrten zu arbeiten".[14]
Unter politisch funktionalen Überlegungen waren ursprünglich auch die ersten deutschen Wissenschaftler bereits in den 1920er-Jahren in die Türkei gewechselt. Mehr noch als die individuelle Überzeugung, deutsche Wissenschaft in der Welt zu verbreiten, spielten dabei außenkulturpolitische Ambitionen des deutschen Auswärtigen Amtes eine Rolle. Durchaus in Fortsetzung der republikanischen Außenkulturpolitik[15] bildeten die deutschen Wissenschaftsemigranten auch aus Sicht des neuen nationalsozialistischen Staates zunächst einen Teil der erfolgreichen deutschen Auslandspropaganda in der Türkei.

Obwohl der Parteiableger der NSDAP in Istanbul darauf hinwirkte, auch in der Türkei Kontakte zwischen "Reichsdeutschen" und vor dem NS-Regime Geflohenen zu unterbinden bzw. sich die Mitglieder der Kolonie B selbst möglichst von diesen fernhielten, gab es im Alltag durchaus Räume der Begegnung: Der 1924 wiedereröffnete deutsche Klub, die Teutonia, bot dafür in Istanbul ebenso Gelegenheit wie das Lokal des Gastwirts Hans Fischer.[17] Zudem war der Übergang zwischen den beiden deutschen "Communities" für einige Personen fließend, die – wie z. B. der im türkischen Landwirtschaftsministerium tätige Friedrich Christiansen-Weniger – als "Reichsdeutsche" Kontakt zu Exilanten unterhielten.
Auch wenn viele der in die Türkei berufenen Wissenschaftler ihr Exil in der Türkei als schwierig und belastend empfanden, bildeten sie letztlich doch eine Gruppe von Eliten-Emigranten, deren Leben nicht mehr fundamental bedroht war. Ihre Arbeitsverträge garantierten ihnen nicht nur ein festes Einkommen, sondern vor allem ein – wenn auch zeitlich begrenztes – Aufenthaltsrecht, das sie durch die Annahme der türkischen Staatsbürgerschaft verstetigen konnten. Deutlich prekärer war dagegen bereits die Lage ihrer Mitarbeiter und Laborleiter – unter ihnen viele Frauen – die keine festen Arbeitsverträge erhielten und daher praktisch permanent von der Arbeitslosigkeit und damit der Abschiebung bedroht waren.[18]
Oft vergessen werden zudem die vielen deutschen Flüchtlinge, die nicht offiziell in die Türkei eingeladen wurden, sondern sich mehr oder weniger illegal in der Türkei verdingten, weil sie offiziell keine Arbeitsgenehmigung erhielten oder nur überlebten, weil sie zum Islam konvertierten, um aufenthaltsberechtigt zu werden.
Wissenschaftstransfer, Rückwirkungen auf die Exilanten und das deutsche Türkeibild nach 1945
Und was blieb von dieser freiwilligen und unfreiwilligen Migration von Deutschen aller politischen, sozialen und religiösen Herkunft? Die junge Türkische Republik erwartete von der Wissenschaftsmigration von Anfang an, dass sie sich selbst überflüssig machen sollte: Deutsche Wissenschaftler, die in die Türkei gingen, sollten Wissensbestände und disziplinspezifische Methoden an ihre türkischen Studenten weitergeben und auf diese Weise zur Modernisierung des Landes beitragen. Wie zahlreiche Einzelstudien gezeigt haben, gelang das im Allgemeinen, jedoch nur unter den in der Migrations- und Transfergeschichte mittlerweile als selbstverständlich angesehenen Anpassungs- und jeweils spezifischen Adaptionsleistungen der Geber- wie der Empfängerseite. Einigen der