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Hin-und-Her zwischen Entspannung und Krise: Griechisch-türkische Beziehungen | Türkei | bpb.de

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Hin-und-Her zwischen Entspannung und Krise: Griechisch-türkische Beziehungen

Ioannis N. Grigoriadis

/ 13 Minuten zu lesen

12 Februar 2023: Der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu (rechts) begrüßt seinen griechischen Amtskollegen Nikos Dendias nach dem Erdbeben in Adana. (© picture-alliance/AP)

Die Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei waren während des Kalten Krieges eines der größten Sicherheitsbedenken des Westens. Die sich verschlechternden Beziehungen zwischen zwei NATO-Verbündeten drohten, einen Konflikt auf Zypern auszulösen und die Sicherheitsarchitektur der NATO gegen die Sowjetunion auf dem Balkan, im östlichen Mittelmeerraum und im Kaukasus zu untergraben. Griechenland und die Türkei standen im Sommer 1974 kurz vor einem Krieg um Zypern, der Eindruck gegenseitiger Bedrohung verstärkte sich und legte in beiden Ländern den Grundstein für strategische Verteidigungsdoktrinen. Die türkische Invasion auf Zypern und die de-facto-Teilung der Insel wurden nicht nur zu einer schweren Belastung für die griechisch-türkischen Beziehungen, sondern auch für den regionalen Frieden und die Stabilität. Nach Griechenlands Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) knüpfte Athen seine Unterstützung für die Förderung der Beziehungen zwischen der EWG und der Türkei an eine griechisch-türkische Annäherung, die darauf abzielte, bilaterale Konflikte und die Zypernfrage zu lösen. Im Dezember 1999 beschloss Griechenland, die EU-Beitrittsbestrebungen der Türkei zu unterstützen, vorausgesetzt, es würde einen Verhandlungsrahmen geben, der zur Lösung des Zypernkonflikts über die Vereinten Nationen und zur Lösung der Seegrenzstreitigkeiten in der Ägäis durch eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) führen könnte. Eine seltene historische Gelegenheit, sowohl das Zypern- als auch das Ägäis-Problem zu lösen, wurde im Jahr 2004 auf dem Höhepunkt der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei jedoch vertan. Zum einen lehnten die Zyperngriechen den von den Vereinten Nationen vermittelten Annan-Plan im Referendum vom 24. April 2004 ab. Zum anderen verpasste es die griechische Regierung unter Karamanlis im Dezember 2004, als der Europäische Rat über den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entschied, von der Türkei zu verlangen, sich mit den ausstehenden griechisch-türkischen Seestreitigkeiten an den Internationalen Gerichtshof zu wenden. Dies war vom Europäischen Rat beim Gipfel von Helsinki im Dezember 1999 jedoch als Lösungsweg festgelegt worden, falls bilaterale Gespräche scheitern würden. Trotz dieser verpassten Chancen kam es in den nächsten 15 Jahren zu keiner Eskalation in den griechisch-türkischen Beziehungen, während der bilaterale Handel und die Zusammenarbeit der Zivilgesellschaften – besonders etwa nach den Erdbeben in der Türkei und in Griechenland 1999 - florierten. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern verschlechterten sich jedoch Ende 2019 und 2020 aus mehreren Gründen plötzlich und stark.

Gründe für die jüngste Eskalation des griechisch-türkischen Konflikts:

Erweiterung des Zypernkonflikts auf das östliche Mittelmeer

Einer der Gründe für die Eskalation war der Zypernkonflikt. Die Entdeckung bedeutender Erdgasressourcen unter dem Meeresboden im östlichen Mittelmeer hatte bei der EU und in der Region Hoffnungen geweckt, dass Energie als Katalysator zur Lösung des Problems beitragen könnte. Doch gescheiterte Verhandlungen bei der von den Vereinten Nationen vermittelten Zypern-Konferenz in Crans-Montana im Juli 2017 zeigten, dass die Suche nach Erdgas eher zur Destabilisierung der Region beitrug. Die Türkei erkennt die Republik Zypern nicht an, sondern nur die international nicht anerkannte “Türkische Republik Nordzypern” (TRNZ). Ankara bestreitet zudem das Recht der Republik Zypern, ihre Seegrenzen zu definieren und innerhalb dieser, nach Gasfeldern suchen zu dürfen. Ankara behauptet, im Namen der Zyperntürken zu handeln, die nicht an den Entscheidungen der Republik Zypern beteiligt sind. Darüber hinaus argumentiert die Türkei, dass die Erkundung der Erdgasvorkommen durch die Republik Zypern die Hoheitsrechte der Türkei verletzen würden, da die Republik Zypern damit in die ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) der Türkei eindringe. Kriegsschiffe der Türkei unterbrachen daher Erkundungen internationaler Energieunternehmen, die diese im Auftrag der Republik Zypern durchführten. Gleichzeitig jedoch führte die Türkei selbst eigene Forschungsbohrungen innerhalb der AWZ der Republik Zypern durch. Die Suche nach Erdgas heizte auch den Streit Griechenlands mit der Türkei um die Seegrenzen in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer an. Somit vermengten sich die Streitigkeiten zwischen Zypern und der Türkei sowie zwischen Griechenland und der Türkei zu einem schwer lösbaren Knoten.

Dispute über Meereszonen

Innenpolitische Veränderungen nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 in der Türkei hatten erhebliche Auswirkungen auf die griechisch-türkischen Beziehungen. Präsident Erdoğan, AKP, festigte die rechtsaußen stehende Regierungskoalition durch eine Partnerschaft seiner Partei mit der Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung) und eine Zusammenarbeit mit anti-westlichen, auf Russland und China orientierten Bürokraten. Eine bis dahin politisch unbedeutende Gruppe von Marineoffizieren, die für ihre anti-westlichen Ansichten bekannt war, schloss sich der von der AKP geführten Regierungskoalition an und schaffte es, Unterstützung für ihr Hauptanliegen, eine Militärdoktrin namens “Blaues Heimatland” (Mavi Vatan), zu gewinnen. Ziel dieses Projekts war es, eine hegemoniale Vormachtstellung der Türkei im gesamten östlichen Mittelmeer zu etablieren, indem sie Griechenland und Zypern ihre Hoheitsrechte über die Ägäis und das östliche Mittelmeer absprachen. Am 27. November 2019 unterzeichneten die Türkei und die Regierung der Nationalen Einheit Libyens (GNA) in Tripolis ein Memorandum, das die Abgrenzung der libyschen und türkischen „Ausschließlichen Wirtschafts-Zonen“ (AWZ) regelte und dabei die griechischen AWZ-Rechte im östlichen Mittelmeer ignorierte. Dies beendete ein langes Moratorium zwischen Griechenland und der Türkei bei den Streitigkeiten um Meereszonen, währenddessen beide Seiten auf neue Initiativen, die eine weitere Eskalation auslösen könnten, verzichtet hatten.

Nach der Unterzeichnung des Tripolis-Ankara-Memorandums engagierte sich Griechenland jedoch nun stärker im libyschen Bürgerkrieg auf der Seite der Libyschen Nationalarmee (LNA) und des Parlaments (House of Representatives, HoR) mit Sitz in Tobruk, welches mit Tripolis um die Macht in Libyen konkurrierten. Griechenland unterzeichnete zudem mit Italien eine Vereinbarung zur Abgrenzung der jeweiligen AWZ in der seine in den 1970er-Jahren vereinbarte Linie des Festlandssockels bestätigt wurde. Athen unterzeichnete weiterhin eine AWZ-Abgrenzungsvereinbarung mit Ägypten, die auch jene Region betraf, die sich Libyen und die Türkei in ihrem Memorandum aufgeteilt hatten.

Auf diese Schritte antwortete die Türkei damit, dass sie ihr Forschungsschiff Oruç Reis in die von Griechenland beanspruchten AWZ der griechischen Insel Kastellorizo (Megisti) im östlichen Mittelmeer und Kretas entsandte, um Erkundungen von Gasvorkommen durchzuführen. Griechenland schickte daraufhin Schiffe seiner Kriegsmarine, um die Operationen von Oruç Reis zu unterbinden, woraufhin die Türkei ebenfalls Schlachtschiffe entsandte. Ein Unfall, bei dem eine griechische Fregatte auf die türkische Fregatte Kemal Reis auflief, führte glücklicher Weise nicht zu einer weiteren Eskalation und die Krise deeskalierte schließlich durch die Vermittlung der deutschen Regierung.

Migration als neues Konfrontationsthema

Migration entwickelte sich von einem sekundären zu einem zentralen Problem in den griechisch-türkischen Beziehungen, da es eine Schlüsselrolle auf der europäischen politischen Agenda einnahm. Die sich verschlechternde EU-Beitrittsperspektive der Türkei, der Ausbruch der EU-Schuldenkrise und der Bürgerkrieg in Syrien erhöhten die internationalen Spannungen. Die politische Sensibilität der Migrationsfrage innerhalb der Europäischen Union nahm ebenso zu, wie die Anzahl der Menschen, die aus Syrien und anderen Ländern in die EU flohen. Als im Frühjahr 2016 Tausende von Flüchtlingen die griechisch-türkischen Land- und Seegrenzen überquerten, in der Hoffnung, zunächst Griechenland und dann West- und Mitteleuropa zu erreichen, wurde eine schnelle Lösung notwendig. Die EU-Türkei-Kooperation vom 18. März 2016 war ein stark umstrittener, aber pragmatischer Versuch, ein komplexes Problem zu lösen. Obwohl daraufhin die Migration in der EU zurückging, blieb das Problem an den Grenzen Griechenlands bestehen. Die türkische Regierung engagierte sich in einer anti-westlichen und anti-europäischen Rhetorik, die mit einer Verschlechterung der griechisch-türkischen Beziehungen einherging und den Weg für die Nutzung von Migration durch die Türkei als Instrument oder Waffe ebnete. Im Februar 2020 erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dass die Türkei die Grenze für alle öffnen würde, die in die Europäische Union einwandern wollten. Regierungsnahe türkische Kreise transportierten Tausende von Flüchtlingen zur griechisch-türkischen Landgrenze. In der Nähe der türkischen Grenzstadt Edirne kam es zu Zusammenstößen zwischen griechischen Sicherheitskräften und Tausenden von Menschen, die versuchten, auf griechisches Gebiet zu gelangen. Mehrere Beobachter interpretierten diese Maßnahmen als “hybriden Angriff” gegen die griechische Souveränität. Diese Ereignisse brachten die griechisch-türkischen Beziehungen auf einen neuen Tiefpunkt.

Regionale strategische Veränderungen und das Wiedererscheinen Griechenlands in der türkischen öffentlichen Diskussion

Generell herrscht eine starke Asymmetrie in der Art und Weise, wie griechisch-türkische Beziehungen in der öffentlichen Debatte beider Staaten dargestellt werden. Während in Griechenland griechisch-türkische Beziehungen einen großen Teil der öffentlichen Debatte einnehmen, ist dies in der Türkei nicht der Fall, da dort griechisch-türkische Beziehungen ein Thema von geringer Bedeutung sind. Dies begann sich mit der jüngsten Verschlechterung der griechisch-türkischen Beziehungen zu ändern. Darüber hinaus isolierte die oft unvorhersehbare und anmaßende Außenpolitik der Türkei Ankara in der Region und erhöhte die Bedeutung Griechenlands für seine Nachbarn Israel und Ägypten, aber auch für die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Saudi-Arabien. Griechenland nahm nur zehn Jahre nach dem Ausbruch einer großen Wirtschaftskrise, die Athen die meisten Möglichkeiten und Ressourcen für eine erfolgreiche Außenpolitik genommen hatte, wieder eine größere Rolle als regionaler Akteur ein. Gleichzeitig führte die Annäherung der Türkei an Moskau zu einer Aufwertung des Status Griechenlands in der NATO und den Vereinigten Staaten. Da die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei aufgrund von Vertrauensproblemen problematisch wurden, stieg Griechenland zur Position des glaubwürdigen regionalen Partners für Washington auf. Die Aufwertung der griechisch-amerikanischen Beziehungen war vielschichtig und umfasste die diplomatische, militärische und politische Ebene. In Syrien führte die Weigerung der Türkei, sich eindeutig auf die Seite der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten im Kampf gegen den Islamischen Staat und andere Dschihadisten zu stellen, dazu, dass die USA beschlossen, dort mit kurdischen Milizen zusammenzuarbeiten. Für die türkische Regierung und viele Türken bestätigte diese Politik der USA die weit verbreitete Verschwörungstheorie, dass die Vereinigten Staaten beabsichtigen würden, die Türkei zu spalten und die Unterstützung der langjährigen Feinde der Türkei, einschließlich der Kurden und Griechen, zu gewinnen. Griechenland wurde als Agent des Westens, insbesondere der USA dargestellt, die versuchten, die Türkei einzukreisen. Somit rückte Griechenland in den Mittelpunkt der türkischen politischen Debatte, wobei türkische Beobachter Athen jegliche eigene Handlungsfähigkeit und eine unabhängige Strategie absprachen.

Mit ihrer Entscheidung, das russische S-400-Luftverteidigungssystem anstelle der US-amerikanischen Patriots zu erwerben, unterminierte die Türkei nicht nur die gemeinsame militärische Planung der NATO in der Region. Sie signalisierte auch, dass die Türkei kein vertrauenswürdiger Verbündeter und Verteidiger der NATO-Interessen in der Region mehr ist. Als Folge davon schloss die USA die Türkei aus dem F-35-Militärflugzeug-Produktionsprogramm aus. Heute hat Ankara sogar Schwierigkeiten, von den USA neue F-16-Militärflugzeuge zu erwerben und seine vorhandene F-16-Flotte zu modernisieren. Darüber hinaus unterliegt Ankara dem CAATSA-Gesetz (Countering America's Adversaries Through Sanctions Act) Washingtons, einem System von Sanktionen gegen Staaten, welche US-Interessen untergraben. Dies führte zu einer bizarren Situation, da die Türkei im Gegensatz zu anderen Staaten, die vom CAATSA betroffen sind, wie Iran, Nordkorea und Russland, ein NATO-Mitglied und ein nomineller Verbündeter der USA ist.

Die ambivalente Position der Türkei bezüglich des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine verstärkte die Bedenken des Westens. Ein Treffen zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dem griechischen Premierminister Kyriakos Mitsotakis am 13. März 2022 in Istanbul, zu Beginn des russischen Angriffskrieges, sollte den Weg für eine neue Entspannung und die Wiederaufnahme von Sondierungsgesprächen ebnen.

Allerdings löste ein Besuch von Mitsotakis in den Vereinigten Staaten wenige Wochen später eine signifikante Verschlechterung der bilateralen Beziehungen aus. Während der türkische Präsident Schwierigkeiten hatte, einen Termin bei US-Präsident Joe Biden zu bekommen, wurde der griechische Premierminister sehr herzlich empfangen und erhielt sogar die Ehre, auf einer gemeinsamen Sitzung des US-Repräsentantenhauses und des Senats zu sprechen - ein Novum in der Geschichte der griechisch-amerikanischen Beziehungen. Mitsotakis' indirekte Hinweise auf die Türkei und seine Aufforderung an den US-Kongress, den Verkauf neuer F-16-Kampfplugzeuge oder die Modernisierung älterer Modelle nicht zu billigen, führten zu einer deutlichen Reaktion Erdoğans. Der türkische Präsident behauptete, Mitsotakis habe sein Vertrauen missbraucht. Dies führte zur Verhärtung der türkischen Positionen und zur Eröffnung einer Debatte über die Demilitarisierung griechischer Inseln in der östlichen Ägäis.

Die Debatte über die Entmilitarisierung

Die Frage der Entmilitarisierung der östlichen Ägäisinseln ist eine der offenen Streitigkeiten, die beide Seiten während offizieller Treffen meist vermeiden, da dies katastrophale Auswirkungen auf jeden Dialogprozess hätte. Das Thema erregte 2021 und 2022 aufgrund einer Reihe von Briefen der griechischen und auch türkischen Delegationen an den UN-Generalsekretär eine enorme Aufmerksamkeit und stellte eine bedeutende Eskalation der Beziehungen dar. Zum ersten Mal brachte die türkische Seite das Argument vor, die Inseln seien Griechenland nur unter der Voraussetzung überlassen worden, dass Griechenland dort kein Militär stationiere.

Dies war ein weiterer Schritt der türkischen Regierung gegen griechische Hoheitsrechte und Souveränität in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer. Zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren hatte Ankara die griechische Souveränität über die Ägäis-Insel nicht in Frage gestellt. Die Türkei argumentierte nun, dass die Grenze der Festlandssockel von Griechenland und der Türkei in der Ägäis genau in der Mitte der griechischen und türkischen Küste verlaufe und dass die griechischen Inseln in der östlichen Ägäis keinen Einfluss auf die Grenzziehung haben sollten. Die Position der Türkei änderte sich im Jahr 1996 mit dem Konflikt um die unbewohnte Insel Imia/Kardak, als die Türkei die griechische Souveränität über diese und diverse weitere Inseln und Felsen in der Ägäis und im Mittelmeer anzweifelte. Ankara hatte jedoch nie die griechische Souveränität über die großen Inseln in der östlichen Ägäis in Frage gestellt, obwohl die Türkei gefordert hatte, dass die griechischen Inseln in der östlichen Ägäis demilitarisiert werden müssten. Die oben erwähnte Zunahme der Bedeutung Griechenlands in der regionalen und globalen Sicherheitspolitik brachte die Türkei dazu, sich erneut auf die Frage der Entmilitarisierung zu konzentrieren und den Konflikt bis zum Grad unverhohlener Provokationen zu eskalieren. So drohten Präsident Erdoğan und sein Verteidigungsminister Hulusi Akar im Oktober 2022 damit, die Türkei könne "eines Nachts ganz unvermittelt kommen", sprich: auf eine griechische Insel einnehmen. Erdogan sprach außerdem von jederzeit möglichen Raketenangriffen auf Athen.

Das Erdbeben als Scheideweg: Eine Bewegung hin zu Deeskalation und Entspannung?

Die Tatsache, dass 2023 sowohl in Griechenland als auch in der Türkei ein Wahljahr ist, löste die Besorgnis aus, die Regierungen beider Seiten könnten ihre Rhetorik noch weiter eskalieren, um die jeweilige Wählerschaft im eigenen Land fest an sich zu binden. Doch die katastrophalen Erdbeben vom 6. Februar 2023 hatten eine katharische Wirkung. So sehr das libysch-türkische Memorandum vom 27. November 2019 die griechisch-türkischen Beziehungen in Aufruhr versetzte, so sehr führten die verheerenden Erdbeben im Südosten und Süden der Türkei zu Entspannung und Deeskalation. Die verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen des Erdbebens, die dadurch entstehende finanzielle Belastung und die zutage tretende arg begrenzte Fähigkeit der Türkei schnell Rettung und Hilfe zu organisieren, machten die Schwäche der Türkei deutlich. Gleichzeitig sorgte die schnelle und umfangreiche Lieferung von Hilfe aus Griechenland an die Türkei sowie die Solidarität der griechischen Öffentlichkeit für eine Neubewertung der bilateralen Beziehungen. Die Erholung des Klimas der türkisch-griechischen Beziehungen war angesichts des Niveaus der verbalen Auseinandersetzungen nur wenige Wochen zuvor bemerkenswert. Die bilateralen Gespräche über vertrauensbildende Maßnahmen und wirtschaftliche Zusammenarbeit wurden wieder aufgenommen.

Die unmittelbare Reaktion Griechenlands auf die humanitäre Krise erinnerte an die Erdbeben, von 1999, die die Türkei am 17. August und Griechenland am 7. September getroffen hatten. In beiden Fällen führten die gezeigte und gelebte Solidarität der Nachbarn zu einer Entspannung der Lage. 1999 kam hinzu, dass in Deutschland eine neue Regierung ihr Amt antrat, die sich für die Förderung der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei einsetzte. Beides ermöglichte im Dezember 1999, die Entscheidung des Europäischen Rates von Helsinki, der Türkei den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu verleihen. Bilaterale Bemühungen zur Verbesserung der griechisch-türkischen Beziehungen folgten. Ganz ähnlich folgte auf die Erdbeben von 2023 der Entschluss der türkischen Regierung vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai 2023, die Anzahl der außenpolitischen Konflikte zu reduzieren und sich auf die Herausforderungen der Innenpolitik, die Stärkung der Wirtschaft des Landes und die Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen nach dem Erdbeben zu konzentrieren. In einem beispiellosen Schritt wurde beschlossen, dass Athen die Kandidatur der Türkei für die Führung der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO) unterstützt und Ankara sich für die Kandidatur Griechenlands für einen nicht-ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat ausspricht.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die griechisch-türkischen Beziehungen zwischen 2019 und 2023 eine langwierige Eskalationsphase durchliefen, die zuweilen das Risiko einer militärischen Eskalation in sich barg. Diese Eskalation war jedoch nicht durch strukturelle Veränderungen im bilateralen Verhältnis begründet. Wie eine Reihe von gemeinsamen Meinungsumfragen in Griechenland und der Türkei gezeigt hat, unterstützt die öffentliche Meinung beider Länder beharrlich gewaltlose Methoden zur Lösung bilateraler Streitigkeiten und glaubt nicht an die Unlösbarkeit der Konflikte. Mit anderen Worten: aggressive öffentliche Diskurse und Kriegstreiberei haben keine Wurzeln geschlagen. Der Verlauf der inländischen politischen Entwicklungen in der Türkei wird einen starken Einfluss auf die Zukunft der griechisch-türkischen Beziehungen haben. Eine längere Periode politischer und wirtschaftlicher Stabilität und eine Verbesserung der Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen würden es den Regierungen beider Staaten erleichtern, die Trägheit und den Status quo infrage zu stellen und die notwendigen Schritte zur Konfliktlösung zu unternehmen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ihre Ideologie wird von der Heimat-Partei (Vatan Partisi) vertreten, siehe https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/265912/die-tuerkei-im-nahen-osten-mit-dem-eurasismus-ins-naechste-abenteuer/

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Ioannis Grigoriadis ist seit 2016 als Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU/Europa im Rahmen des IPC-Stiftung Mercator Fellowship an der Stiftung Wissenschaft und Politik tätig. Zuvor war er Associate Professor an der Bilkent University, Ankara und Lehrbeauftragter an der Universität Athen. Als Research Fellow war er an der Hellenic Foundation for European & Foreign Policy tätig und hat an der School of Oriental and African Studies (SOAS), University of London in Politikwissenschaften promoviert. Seinen Master hat er 2002 an der Columbia Universität, New York im Fach Internationale Beziehungen abgeschlossen.