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Wie fair und frei sind die kommenden Wahlen in der Türkei?

Jürgen Gottschlich

/ 10 Minuten zu lesen

In einem Punkt sind sich alle Parteien in der Türkei einig: die kommenden Wahlen am 14. Mai 2023 werden zu einer historischen Entscheidung über die Zukunft des Landes. Zur Abstimmung stehen nicht nur Parteien und Personen, sondern die Bürgerinnen und Bürger werden darüber entscheiden, ob die Türkei ein autokratisches Präsidialsystem bleibt oder zu einer parlamentarischen Demokratie zurückkehrt.

Wahlhelfer beim Auszählen der Stimmzettel zur Parlamentswahl 2018 in Istanbul. (© picture-alliance/dpa, Oliver Weiken)

In einem Punkt sind sich alle Parteien in der Türkei einig: die kommenden Wahlen am 14. Mai 2023 werden zu einer historischen Entscheidung über die Zukunft des Landes. Zur Abstimmung stehen nicht nur Parteien und Personen, sondern die Bürgerinnen und Bürger werden darüber entscheiden, ob die Türkei ein autokratisches Präsidialsystem bleibt oder zu einer parlamentarischen Demokratie zurückkehrt. Ausgerechnet im Jahr des 100jährigen Bestehens der Republik findet am 14. Mai eine Weichenstellung statt, welche die Zukunft des Landes nicht nur für eine Legislaturperiode, sondern wahrscheinlich für Jahrzehnte bestimmen wird. Gewählt werden sowohl der Präsident wie auch das Parlament, das allerdings in der geltenden Präsidialverfassung nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Auch wenn die Opposition angekündigt hat, nach einem Wahlsieg die Macht des Präsidentenamtes wieder zu beschneiden, bei diesen Wahlen kommt es noch entscheidend darauf an, wer zum Präsidenten gewählt wird.

Um bei den Präsidentschaftswahlen eine Chance zu haben, hat die Opposition sich zu einem Sechs-Parteien-Bündnis zusammengeschlossen, die sogenannten Nationale Allianz. Diese Allianz besteht aus der Cumhuriyet Halk Partisi (CHP, deutsch: Republikanische Volkspartei), İyi Parti (İyi, Gute Partei), Demokrasi ve Atılım Partisi (DEVA, Partei für Demokratie und Fortschritt), Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit), Gelecek Partisi (GP, Zukunftspartei) und Demokrat Parti (DP, Demokratisch Partei).

Obgleich nicht Teil des Bündnisses wird dieses auch von der linken-kurdischen Halkların Demokratik Partisi (HDP, Demokratischen Partei der Völker) unterstützt: Nach langen Debatten mit dem Oppositionsführer Kemal Kılıcdaroğlu, Vorsitzenden der CHP, hat sich die HDP entschlossen, keinen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaft ins Rennen zu schicken. Dieses ist als Unterstützung der Kurden für Kılıçdaroğlu zu werten, auf den sich das Sechs-Parteien-Bündnis als gemeinsamen Kandidaten geeinigt hat.

Nur einer droht die Front gegen Erdoğan zu spalten: Ausgerechnet der frühere Präsidentschaftskandidat der CHP, Muharrem Ince, der 2018 die Wahl gegen den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verloren hat, kandidiert nun mit einer eigenen Partei, der Millet Partisi (MILLET, Nationspartei) für die Wahl zum Präsidenten.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan steht nun bereits seit 21 Jahren an der Spitze der türkischen Regierung. Erst war er Ministerpräsident, dann ließ er sich zum Staatspräsidenten wählen. 2017 setzte er eine Verfassungsreform durch, die aus dem früher stark symbolischen Amt des Staatspräsidenten nicht nur das Zentrum der Exekutive machte, sondern seinem Inhaber auch die Möglichkeit eröffnete, die Entscheidungen der Justiz und des Parlaments zu beeinflussen und die Gewaltenteilung zu unterminieren. Um angesichts sinkender Zustimmungswerte für sich und seine Partei die Wiederwahl zu sichern hat Erdoğan die sogenannte "Volksallianz" begründet: Diese besteht neben seiner Partei, der AKP und dem aktuellen Koalitionspartner, der rechtsradikalen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung) aus drei weiteren rechtsradikalen und/oder islamistischen Kleinparteien, der Büyük Birlik Partisi (BBP, Große Einheitspartei), der Yeniden Refah Partisi (YRP, Neue Wohlfahrtspartei) und der Hüda Par (Partei der gerechten Sache) einer radikal islamistischen kurdischen Partei. Sie alle unterstützen seine Kandidatur.

Beiden Seiten ist klar, dass es dieses Mal um Alles geht. Die AKP ist auf die Person Erdogans ausgerichtet und würde eine Niederlage des Präsidenten wohl nicht lange überleben. Sollte Erdoğan und die Volksallianz verlieren, könnte die regierende AKP auseinanderbrechen und die islamistische Rechte auf längere Zeit die Macht in der Türkei verlieren.

Verliert dagegen die Opposition auch dieses Mal, wird die mühsam geschmiedete Nationale Allianz wohl keinen Bestand haben und die Macht Erdoğans auf unabsehbare Zeit gesichert sein. Die vielleicht letzte Chance, die Türkei wieder auf einen demokratischen Weg zu bringen, wäre vertan.

Angesichts dieser außergewöhnlichen Relevanz stellt sich die Frage, ob die Opposition überhaupt eine reelle Chance hat, zu gewinnen. Präsident Erdoğan hat schon in der Vergangenheit mehrmals deutlich gemacht, dass ihm fast jedes Mittel recht ist, um seine Macht zu sichern. Insbesondere seit die AKP im Frühjahr 2015 das erste Mal seit 2002 ihre absolute Mehrheit im Parlament verloren hatte, häuften sich bei den folgenden Abstimmungen die Klagen der Opposition über Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug.

Auch jetzt hat Erdoğan schon im Vorfeld der Wahl Vorkehrungen getroffen, die seine Wiederwahl sichern sollen. Bereits vor einem Jahr, im März 2022, wurde im Parlament eine Wahlrechtsreform verabschiedet, die jetzt im April 2023, rechtzeitig vor den Wahlen, in Kraft trat. Sie bringt drei wichtige Neuerungen:

Zum einen wurde die Hürde für den Einzug einer Partei ins Parlament von zehn auf sieben Prozent abgesenkt. Diese Gesetzesänderung hatte die AKP zusammen mit ihrem Bündnispartner, der rechtsradikalen MHP durchgesetzt, denn diese drohte an einer hohen Hürde zu scheitern und somit die gemeinsame Parlamentsmehrheit zu gefährden.

Zum anderen wurde ein Externer Link: neues Verhältniswahlrecht eingeführt, das die großen Parteien, wie etwa AKP und CHP, begünstigt und die Wahlkreise auf dem dünn besiedelten Land gegenüber den Wahlkreisen in den Großstädten aufwertet. Die AKP setzt darauf, dass sie in Anatolien in vielen Wahlbezirken an erster Stelle liegt und dann mehr Abgeordnete bekommt, als ihr nach dem alten Wahlrecht zugestanden hätten.

Der dritte Punkt der Änderung betrifft die Rolle der Wahlallianzen. Bei den Kommunalwahlen 2019 hatte die Wahlallianz der CHP und der rechtsnationalen İyi Parti in fast allen modernen Metropolen des Landes gewonnen. Um einen solchen Erfolg der Opposition bei den jetzt anstehenden Wahlen zu vermeiden, wurde das Wahlrecht so geändert, dass jetzt wieder jede Partei auf sich allein gestellt, mindestens sieben Prozent der Stimmen erreichen muss, um ins Parlament einzuziehen. Das verschlechtert die Gewinnchancen der Opposition, in deren Allianz vier kleine Parteien vertreten sind.

Ursprünglich wurde die hohe Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament eingeführt, um kleine und besonders die kurdischen Parteien auszuschließen. Da die HDP nach aktuellen Hochrechnungen die jetzige Sieben-Prozent-Hürde deutlich überwinden würde, spielt es der AKP in die Hände, dass das seit Februar 2021 eingeleitete Verbotsverfahren gegen die HDP noch vor der Wahl durch das türkische Verfassungsgericht entschieden werden soll und die Partei somit aus dem Rennen wäre. Allerdings haben die kurdischen Parteien bereits Erfahrung mit Parteiverboten und die HDP hat entsprechend vorgesorgt. Mit der Yeşil Sol Parti (YSP, Grüne Linke Partei) hat die HDP eine Kleinstpartei, die bereits mit ihr zusammengearbeitet hat, organisatorisch so ausgebaut, dass sie in mehr als 40 Provinzen präsent ist und damit für die Wahlen zugelassen wurde. Die Parlamentskandidaten der HDP werden nun auf der Liste der YSP antreten. Dennoch wäre die HDP bei einem Verbot geschwächt, da damit auch ein Politikverbot für mehr als 500 ihrer bekanntesten Politiker verbunden wäre. Ihr populärster Vertreter, der frühere Ko-Parteivorsitzende Selahattin Demirtaş, sitzt seit mehr als fünf Jahren in Haft. Gemäß eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2020 ist Demirtaş aus politischen Gründen inhaftiert und daher sofort freizulassen. Die Türkei hat dieses Urteil bisher jedoch noch nicht umgesetzt und hält Demirtaş weiter unrechtmäßig gefangen.

Doch im Vorfeld der Wahl setzt die Regierung die Justiz nicht nur gegen die HDP ein. Wichtige Politiker der CHP, die größte Oppositionspartei, sind mit fingierten Vorwürfen angeklagt und manche bereits verurteilt wurden. Dass betrifft vor allem den stärksten CHP-Bezirk Istanbul. Erdoğan hat es nie verwunden, dass seine Partei bei den Kommunalwahlen 2019 Istanbul verloren hat. Am Sieg der CHP in Istanbul hatte ihre Vorsitzende Canan Kaftancıoğlu entscheidenden Anteil. Sie wurde aufgrund einiger Tweeds, die jahrelang zurückliegen, wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung verurteilt und mit einem Politikverbot belegt.

Ende letzten Jahres geschah Ähnliches mit Ekrem Imamoğlu von der CHP, der bei der Kommunalwahl 2019 zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt wurde, nachdem zuvor 25 Jahre lang Politiker der AKP das Amt inne hatten. Der weit über Istanbul hinaus populäre Imamoğlu, war in den letzten Jahren immer wieder als möglicher Präsidentschaftskandidat der Opposition ins Spiel gebracht worden. In Umfragen lag er regelmäßig vor Erdoğan und galt als dessen aussichtsreichster Herausforderer. In einem ebenso fadenscheinigen Prozess wie dem gegen Kaftancıoğlu wurde Imamoğlu im Dezember 2022 in erster Instanz wegen Beleidigung des Hohen Wahlrates verurteilt. Wird dieses Urteil rechtskräftig, kommt wie bei Kaftancıoğlu ein langjähriges Politikverbot dazu. Bereits das Urteil in der ersten Instanz führte dazu, dass Imamoğlu als Präsidentschaftskandidat nicht mehr infrage kam, da das Risiko bestand, dass noch vor der Wahl eine rechtskräftige Verurteilung erfolgt und die Opposition dann am Wahltag ohne Kandidaten dasteht.

Doch so wie die HDP mit ihrer "Partnerpartei" der Grünen Linken Partei eine Lösung gefunden hat, so ist auch die Sechser-Allianz auf eine Verurteilung Imamoğlus vorbereitet. Der Istanbuler Bürgermeister und sein CHP-Amtskollege aus Ankara, Mansur Yavaş sollen im Falle eines Wahlsieges der Opposition zu Stellvertretenden Staatspräsidenten werden. Entsprechend prominent werden die beiden Oberbürgermeister von Istanbul und Ankara bereits jetzt in den Wahlkampf eingebunden.

Vor der jüngsten Reform des Wahlrechts hatten kleinere Parteien die Möglichkeit, mit größeren Parteien eine Allianz für die Wahl zu schließen. Über eine solche Wahlallianz konnten kleinere Parteien auch dann ins Parlament einzuziehen, wenn sie selbst unter der damaligen Zehn-Prozent-Hürde blieben. Die Wahlrechtsreform hat diesen Weg verbaut, weshalb die kleinen Parteien nun anders in Bündnisse eingebunden werden müssen. Kilicdaroğlu, von der CHP, hat deshalb allen Vorsitzenden der fünf ihn unterstützenden Parteien der Nationalen Allianz zugesichert, dass sie neben Imamoğlu und Yavaş - beide CHP, ebenso Vizepräsidenten werden und ihre Parteien entsprechend ihrer Wählerstimmen mit Ministerposten im zukünftigen Kabinett vertreten sein werden. Außerdem hat die CHP insgesamt 60 Vertreterinnen und Vertreter der vier kleinen Parteien als Kandidaten auf ihre Liste gesetzt.

Um die Wahlen so kurz nach dem verheerenden Erdbeben vom 6. Februar 2023 überhaupt abhalten zu können, hat Erdoğan per Dekret noch eine weitere Wahlrechtsänderung verkündet. Millionen Erdbebenopfer, welche die Katastrophenregion verlassen mussten, dürfen an ihrem neuen Wohnort abstimmen. Kritiker sehen darin einen weiteren taktischen Schachzug des Präsidenten. Schließlich gilt die Mehrheit der vom Beben betroffenen Regionen als Hochburgen der AKP. Die Opposition befürchtet jedoch, dass damit Wahlbetrug ermöglicht wird, wenn etwa die Namen von Toten und Vermissten genutzt werden, um zweimal oder dreimal Stimmen abzugeben.

Angesichts seines Verhaltens bei den letzten Urnengängen, ist zu befürchten, dass der amtierende Präsident auch in diesem Wahlkampf alle staatlichen Ressourcen für seinen Vorteil nutzt. So leert er die ohnehin knappe Staatskasse, um die Wähler durch Rentenerhöhungen, Senkung des Renteneintrittsalters und drastische Erhöhungen des Mindestlohnes gewogen zu stimmen. Nicht wenige Rentnerinnen und Rentner befürchten nun, dass eine neue Regierung diese Wohltaten wieder zurücknehmen könnte, weil sie nicht finanzierbar sind. Denn Teile des versprochenen Geldes haben mit Erdoğan befreundete Staatschefs wie der Emir von Katar zur Verfügung gestellt oder auch Russlands Präsident Wladimir Putin, der Erdoğan Öl und Gas zu Vorzugspreisen liefert und darüber hinaus auch noch einen Zahlungsaufschub gewährt hat.

Neben diesen Schritten im Vorfeld der Wahlen, die deutlich machen, dass die Wahl nicht unter fairen Bedingungen stattfinden wird, kommen noch eine Reihe weiterer möglicher Manöver am Wahltag und dem Tag danach, mit denen der Präsident versuchen könnte, eine Niederlage in einen Sieg zu verwandeln.

Während des Wahltages sind Vertreter aller Parteien in den Wahllokalen präsent, um die Stimmabgabe zu beobachten und anschließend bei der Auszählung dabei zu sein. Sind im Wahllokal alle Stimmen ausgezählt, unterschreiben auch die Repräsentanten der Parteien das Ergebnis. Es kommt jedoch immer wieder vor, dass Wahlregister manipuliert werden. So wurde vor den letzten Wahlen berichtet, dass Personen im Wahlregister fehlten, die aber eingetragen sein müssten und darüber hinaus Verstorbene in den Registern standen. Bei den letzten Wahlen wurden viel mehr Wahlzettel gedruckt als Wähler registriert waren, und der Verdacht kam auf, dass Anhängerinnen und Anhänger der Regierung mehrfach Stimmen abgeben. Einige Vertreter der Opposition haben deshalb gefordert, nicht abwaschbare Fingerfarbe zu benutzten, um all jene zu kennzeichnen, die ihre Stimme bereits abgeben haben. Gerade angesichts der Situation nach dem Erdbeben wäre das eine Methode, um Manipulationen auszuschließen, doch die Regierung plant dieses nicht.

Während die Wahlbeobachtung in den westlichen Metropolen des Landes gut funktioniert, sieht es in Zentral- und Ostanatolien anders aus. In Zentralanatolien fehlt es der CHP und anderen Oppositionsparteien oft an Leuten, um in jedem Wahllokal präsent zu sein. Im Osten, vorzugsweise in den überwiegend kurdisch besiedelten Gebieten, gibt es ein weiteres Problem. Dort werden die Wahlurnen "aus Sicherheitsgründen" oft in Kasernen und Polizei-Stationen aufgestellt. Angesichts der Spannungen zwischen den Sicherheitskräften und den Einwohnern in den kurdisch-besiedelten Provinzen kann dies durchaus dazu führen, dass Oppositionelle darauf verzichten, ihre Stimme abzugeben.

Zudem fürchten Politiker der Opposition, dass nach der Abstimmung Wahlurnen einfach ausgetauscht werden oder Stimmzettel auf dem Weg vom Wahllokal ins Wahlzentrum, von wo sie dann nach Ankara gemeldet werden, "verloren" gehen. Insbesondere bei den Abstimmungen der Auslandstürken in Europa ist die Furcht weit verbreitet, dass die Stimmzettel auf dem Weg in die Türkei manipuliert werden.

Für die korrekte Durchführung der Wahl ist der so genannte "Hohe Wahlrat" (Yüksek Seçim Kurulu, YSK) zuständig. Das Gremium überwacht die Wahl, gibt die Ergebnisse bekannt und verwirft oder akzeptiert Beschwerden. Die Entscheidungen des YSK sind gerichtlich nicht anfechtbar. Zwar sind alle Parteien im Hohen Wahlrat vertreten, Erdoğan hat aber längst dafür gesorgt, dass die Mehrheit der hauptamtlichen Richter im Hohen Wahlrat durch Neubesetzungen in den letzten Jahren ihm verpflichtet sind. Wie sehr der Hohe Wahlrat unter Erdoğans Einfluss steht, wurde nach der Kommunalwahl 2019 in Istanbul deutlich. Nachdem die AKP dort die Wahl verloren hatte, ordnete der Hohe Wahlrat auf Drängen Erdoğans die Wiederholung der Wahl an. Dass die AKP die Wiederholungswahl mit noch größerem Abstand als beim ersten Mal verlor, lag an der Wut der Leute, die sich die Wahl nicht stehlen lassen wollten.

Auf diese Wut der Wählerinnen und Wähler hofft die Opposition auch bei den kommenden Wahlen. Denn je größer der Abstand zwischen dem Kandidaten der Opposition, Kemal Kilicdaroğlu und dem amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan bereits im ersten Wahlgang der Präsidentenwahl ist, umso weniger besteht die Möglichkeit, durch Manipulationen am Ergebnis noch etwas zu ändern. Doch die Stimmung ist angespannt, viele befürchten noch unliebsame Überraschungen vor oder während der Wahl und nach aktuellen Hochrechnungen ist die Türkei gespalten.

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Jürgen Gottschlich studierte Philosophie und Publizistik und ist Journalist und Publizist. Seit 1998 lebt er in Istanbul und schreibt dort als Korrespondent für mehrere deutsche Zeitungen.