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Nur magere Ergebnisse für die Türkei als Vermittlerin zwischen Russland und der Ukraine | Türkei | bpb.de

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Nur magere Ergebnisse für die Türkei als Vermittlerin zwischen Russland und der Ukraine Aus Erdoğans ehrgeizigen Plänen ist bisher nichts geworden

Thomas Seibert

/ 9 Minuten zu lesen

Auf Vermittlungsmission in Russland: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan trifft den russischen Präsidenten Wladimir Putin in Sotschi, 05.08.2022. (© picture-alliance/AP, Vyacheslav Prokofyev)

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte als Vermittler im Krieg zwischen Russland und der Ukraine große Pläne. Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 strebt er ein Gipfeltreffen mit den Staatschefs Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj an, um einen Waffenstillstand auszuhandeln. Anhänger des 69jährigen türkischen Staatschefs schlugen ihn bereits für den Friedensnobelpreis vor. Doch trotz einiger Erfolge hat Erdoğan nach mehr als einem Jahr Krieg nur magere Ergebnisse vorzuweisen. Jetzt könnten die Wahlen am 14. Mai die türkische Position im Ukraine-Krieg verändern und die Vermittlerrolle Ankaras beenden.

Unter Erdoğan fährt die Türkei im Ukraine-Krieg einen Kurs zwischen Ost und West. Ankara verurteilt zwar den russischen Angriff auf das Nachbarland; auch die russische Annexion der Halbinsel Krim erkennt die Türkei nicht an. Erdoğan hat den Bosporus und die Dardanellen und damit den Zugang zum Schwarzen Meer für alle ausländischen Kriegsschiffe sperren lassen, was Russland daran hindert, seine Schwarzmeer-Flotte für Angriffe auf die ukrainische Küste zu verstärken. Mit der Sperre habe die Türkei die Hafenstadt Odessa gerettet, sagte ein hochrangiger ukrainischer Diplomat in Ankara im April vergangenen Jahres. Türkische Kampfdrohnen verhalfen der ukrainischen Armee zu Erfolgen gegen die russischen Angreifer.

Doch das Nato-Mitglied Türkei beteiligt sich nicht an den westlichen Sanktionen gegen Moskau. Russische Flugzeuge können nach wie vor auf türkischen Flughäfen landen. Der Handel zwischen beiden Ländern floriert. Mehr als einmal in den vergangenen Monaten zeigte Erdoğan viel Verständnis für Putins Sicht der Dinge. So warf er im September dem Westen vor, Russland zu provozieren. In der Debatte um die Ausfuhr von Getreide aus dem Schwarzen Meer zu den Weltmärkten unterstützt Erdoğan die Moskauer Forderung nach einer Lockerung westlicher Sanktionen. Der türkische Präsident ist der einzige Staatschef eines Nato-Landes, der nicht nur regelmäßig mit Putin spricht, sondern auch mit ihm zusammenarbeitet.

Erdoğan nutzte die Ausnahmestellung der Türkei im Ukraine-Krieg für diplomatische Initiativen. Wenige Wochen nach Ausbruch der Kämpfe brachte er im März 2022 russische und ukrainische Unterhändler zu zwei Gesprächsrunden in der Türkei zusammen. Greifbare Ergebnisse gab es nicht, doch die Treffen brachten der Türkei das Renommee einer potentiellen Vermittlerin ein. Im Juli handelten Erdoğans Berater zusammen mit UN-Experten das Istanbuler Getreideabkommen aus, das den Export von russischem und ukrainischem Getreide ermöglicht und die Versorgungskrise in Ländern des Nahen Ostens und Afrikas lindert. Die Ukraine und Russland sind zwei der wichtigsten Getreide-Exporteure der Welt und schickten bis zu diesem Frühjahr rund 25 Millionen Tonnen Getreide an ausländische Abnehmer. Der Getreidedeal wurde im März nach Vermittlung durch die Türkei und die UNO um mindestens zwei weitere Monate verlängert.

Die türkische Haltung im Ukraine-Krieg bringt dem Land aber nicht nur Lob ein. Politiker in den USA und in Europa werfen der Türkei vor, die internationalen Sanktionen gegen Russland zu umgehen und so die russische Kriegsmaschinerie zu unterstützen. Washington schickte mehrmals Gesandte nach Ankara, um die türkische Regierung und türkische Unternehmen vor dem Risiko zu warnen, von westlichen Sekundär-Sanktionen erfasst zu werden.

Erdoğan betonte, die Türkei beteilige sich grundsätzlich nur an Sanktionen, die vom UN-Sicherheitsrat beschlossen worden seien. So können russische Oligarchen ihre Superjachten in türkischen Häfen parken, um sie vor der Beschlagnahmung durch die Behörden in westlichen Ländern zu schützen. Geschäftsleute aus Russland gründeten 2022 mehr als 1.300 Firmen in der Türkei – ein Anstieg um 670 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Fast jede vierte Immobilie, die im ersten Kriegsjahr in der Türkei an Ausländer verkauft wurde, ging an einen russischen Abnehmer. Mehr als fünf Millionen russische Urlauber verbrachten 2022 ihre Ferien an türkischen Stränden und konnten lange das russische Zahlungssystem Mir benutzen.

Die türkischen Exporte nach Russland stiegen auf 9,3 Milliarden Dollar; ein Jahr zuvor waren es nur 5,7 Milliarden Dollar. Russland rückte auf der Liste der wichtigsten Abnehmer türkischer Ausfuhren von Platz zehn auf Platz acht auf. Umgekehrt konnte Russland nach Angaben von Beobachtern wie dem Istanbuler Sicherheitsexperten Yörük Işık gestohlenes ukrainisches Getreide und Waffen durch den Bosporus transportieren.

Der Westen kritisierte, dass sanktionierte Güter, z.B. Produkte, die auch militärisch nutzbar sind, über die Türkei nach Russland gelangten. Doch für die türkische Wirtschaft war dieser Extrahandel mit Russland ein willkommener Lichtblick. Denn in der Türkei ging die Schere zwischen Importen und Exporten immer weiter auseinander, und die Inflation kletterte 2022 vorübergehend auf offiziell über 80 Prozent. Das Handelsbilanzdefizit wuchs – nicht zuletzt wegen der stark gestiegenen Energiepreise – auf rund 110 Milliarden Dollar im Jahr 2022 an. Die schlechte Wirtschaftslage ließ die Umfragewerte für Erdoğan und seine regierende Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) sinken. Umso wichtiger waren für Erdoğan die Impulse, die vom Russland-Geschäft ausgingen. Die wachsenden Ausfuhren der Türkei nach Russland halfen Spediteuren und Reedern; die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr stiegen wegen der vielen russischen Urlauber im Jahr 2022 auf 46 Milliarden Dollar - 2019, dem letzten Jahr vor der Pandemie, waren es 35 Milliarden gewesen.

Diese Entwicklungen ließ den Ärger westlicher Staaten über die Türkei anwachsen. Bereits in den Jahren zuvor hatte sich der türkische Präsident in der Nato unbeliebt gemacht, indem er das russisches Flugabwehrsystem S-400 kaufte. Die USA schlossen die Türkei darauf aus der Produktion des modernen Kampfflugzeuges F-35 aus, an der Ankara bis dahin als Zulieferer beteiligt war. Erdoğans persönliche Nähe zu Putin weckte ebenfalls Misstrauen.

Im Oktober 2022 verstärkte ein russisches Angebot an die Türkei den westlichen Unmut: Putin schlug vor, die Türkei zum regionalen Verteilzentrum für russisches Erdgas zu machen. Der Kreml wollte so über die Türkei europäische Käufer für russisches Gas erreichen, die wegen des Ukraine-Krieges direkte Importe aus Russland heruntergefahren oder ganz eingestellt haben. Erdoğan unterstützte das Vorhaben. Er verfolgt schon lange das Ziel, die Türkei zu einem Transitzentrum für Energielieferungen aus Russland, Zentralasien und Nahost nach Europa zu machen.

Aus den Plänen der beiden Präsidenten ist bisher nichts geworden. Ein in Istanbul angesetztes Gas-Gipfeltreffen von Lieferländern und europäischen Importnationen, bei dem über das russische Angebot und die türkischen Ambitionen gesprochen werden sollte, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Solche Dinge seien kompliziert und brauchten ihre Zeit, erklärte der Kreml dazu. Niemand weiß genau, wie Putins Vorhaben funktionieren soll. Selbst wenn russisches Gas künftig eventuell sogar über mehrere türkische Pipelines nach Europa gepumpt wird, kommt es immer noch aus Russland und wird deshalb von westlichen Ländern gemieden. Hinzu kommen technische Fragen wie die nach den Kapazitäten der vorhandenen Gaspipelines, die beide Länder verbinden. Eine neue Pipeline durch das Schwarze Meer in die Türkei zu bauen, würde Jahre dauern.

Auch in der Frage der türkischen Exporte nach Russland haben sich Erdoğans Erwartungen nicht ganz erfüllt. Unter dem Druck der USA verbot die türkische Regierung vor wenigen Wochen den Transit von sanktionierten Produkten. Nach Angaben türkischer Exporteure hat Ankara den Unternehmern eine Liste der Güter übermittelt, die unter amerikanischen und europäischen Sanktionen stehen. Bereits zuvor soll die türkische Regierung der Europäischen Union versprochen haben, die Exporte strittiger Produkte nach Russland zu beenden. Unter Berufung auf die Logistikbranche des Landes meldeten russische Medien, der türkische Zoll habe plötzlich die Ausfuhr bestimmter Güter nach Russland verboten. Auch türkische Banken stellten ihre Zusammenarbeit mit dem russischen Mir-Zahlungssystem ein, um nicht in den Bannstrahl sogenannter sekundärer Sanktionen des Westens zu geraten.

Der wohl wichtigste Grund für das plötzliche Einlenken Ankaras ist die Erdbebenkatastrophe vom 6. Februar mit mehr als 50.000 Toten. Für den Wiederaufbau des zerstörten Gebietes ist die Türkei auf ausländische Hilfe angewiesen: Die Schäden durch das Unglück werden auf rund 100 Milliarden Dollar geschätzt. Russland ist wirtschaftlich nicht in der Lage, der Türkei bei der Bewältigung der Katastrophe zu helfen; dagegen organisierte die EU eine Geberkonferenz für die Türkei und Syrien, bei der Hilfszusagen in Höhe von sieben Milliarden Euro zusammenkamen.

Für Erdoğan ist der Wiederaufbau des Erdbebengebietes vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai zum wichtigsten Thema geworden. Seine Regierung steht innenpolitisch in der Kritik, weil sie vor dem Beben in großem Stil Pfusch am Bau zuließ und unmittelbar nach der Katastrophe bei der Hilfe versagte. In den wenigen Wochen bis zum Wahltag muss dem türkischen Präsidenten die Lage im eigenen Land wichtiger sein als das Verhältnis zu seinem russischen Amtskollegen.

Die Wahlen könnten zu einem Wendepunkt der türkischen Politik werden - auch in Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Sollte Erdoğan am 14. Mai abgewählt werden, ist eine drastische Kursänderung der Türkei möglich. Erstens bildet das enge persönliche Verhältnis zwischen Erdoğan und Putin, das sich über Jahre entwickelt hat, eine wichtige Grundlage der bisherigen türkischen Russlandpolitik. Putin und Erdogan verbindet außerdem die Ablehnung westlicher Vorstellungen von Staatsführung und Demokratie. Bei einem neuen türkischen Präsidenten, etwa dem Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu, wäre das anders.

Zweitens verspricht Kılıçdaroğlu für den Fall eines Wahlsiegs eine außenpolitische Neuorientierung der Türkei. Sein außenpolitischer Berater Ünal Ceviköz sagte dem Magazin „Politico“, bei einem Regierungswechsel werde die Türkei pro-europäischer, als sie es unter Erdoğan gewesen sei. So würde eine Regierung der aktuellen Opposition das türkische Veto gegen den Nato-Beitritt Schwedens aufheben. In den Beziehungen zu Russland sei die Türkei bisher wegen ihrer Energie-Einfuhren von Moskau abhängig, kritisierte Ceviköz: Nach der Wahl werde die Türkei politische Beziehungen mit Russland auf Augenhöhe anstreben und Moskau daran erinnern, „dass die Türkei Mitglied der Nato ist“.

Putin ist deshalb am Sieg von Erdoğan gelegen.Um den türkischen Präsidenten im Wahlkampf zu unterstützen, wurde der Kremlchef bei der Einweihungsfeier des ersten türkischen Atomkraftwerks, das die russischen Firma Rosatom im südtürkischen Akkuyu gebaut hat, Ende April live per Video zugeschaltet. Die 20 Milliarden Dollar teure Anlage ist die größte russische Investition in der Türkei. Bei dem Besuch soll der erste Block des ersten türkischen Atomkraftwerks eingeweiht werden, das die russischen Firma Rosatom im südtürkischen Akkuyu gebaut hat. Die 20 Milliarden Dollar teure Anlage ist die größte russische Investition in der Türkei.

Doch auch wenn Erdoğan die Wahl gewinnen sollte, wird sein außenpolitischer Spielraum enger werden. Wegen der nötigen Hilfen zur Bewältigung der Erdbebenschäden wird er die Nähe zum Westen suchen müssen. Seine Zustimmung zum Nato-Beitritt von Finnland und die jüngste Annäherung an den Nachbarn Griechenland sind erste Zeichen dafür.

Ohnehin verliere die Türkei ein Jahr nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine an Bedeutung, meint die frühere ukrainische Diplomatin Yevgeniya Gaber, die von 2014 bis 2018 in der ukrainischen Botschaft in Ankara arbeitete. In der Ukraine wachse das Misstrauen gegen Erdoğan, schrieb Gaber in einer Analyse für die US-Denkfabrik Atlantic Council. Die Chancen des türkischen Präsidenten, als Vermittler zwischen Putin und Selenskyj aufzutreten, seien im Vergleich zu den ersten Kriegswochen stark gesunken. Aus ukrainischer Perspektive nicht ganz uneigennützig rät Gaber Erdoğan, sich von Putin zu lösen und die kriegsbedingte Schwäche Russlands für den Ausbau des türkischen Einflusses in Zentralasien zu nutzen.

Ein solcher Schwenk wäre für Ankara nicht einfach, zumal Russland als Energie-Lieferant, Bauherr des ersten türkischen Atomkraftwerkes und mächtigste Militärmacht im Nachbarland Syrien nach wie vor großen Druck auf die Türkei ausüben kann. Wegen der schlechten Wirtschaftslage und des türkischen Finanzbedarfs nach der Erdbebenkatastrophe dürfte die türkische Regierung – unter Erdoğan oder unter einem anderen Präsidenten – jedoch keine andere Wahl haben, als sich an den Westen anzunähern. Europa und die USA werden wohl darauf bestehen, dass diese Annäherung nicht nur in Sonntagsreden beschworen, sondern mit konkreten Schritten, etwa in der Nato, untermauert wird.

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Thomas Seibert berichtet seit mehr als 20 Jahren über die Türkei und den Nahen Osten. Nach dem Studium der Politikwissenschaft in Bonn und einer journalistischen Lehre als Redaktionsassistent bei der New York Times, arbeitete er für Reuters und AFP, bevor er 1997 als freier Korrespondent nach Istanbul zog. Von 2016 bis 2018 war er als USA-Korrespondent in Washington, seither lebt er wieder am Bosporus.