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Wahlbündnisse jenseits von Religion und Säkularismus: Identitätspolitik als Auslaufmodell in der Türkei?

Günter Seufert

/ 11 Minuten zu lesen

Bei der Wahl eines neuen Präsidenten am 14. Mai 2023 in der Türkei stehen sich zwei Wahlbündnisse gegenüber: Sechs türkische Oppositionsparteien schlossen sich dafür zur "Allianz der Nation" zusammen und unterstützen einen gemeinsamen Kandidaten, Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP. Der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan, AKP, versucht seine Mehrheit durch eine "Volksallianz" mit zwei islamistischen Splitterparteien zu sichern.

Das Wahlbündnis "Allianz der Nation" stellt sich vor: Kemal Kılıçdaroğlu (CHP), Meral Akşener (Gute Partei), Temel Karamollaoğlu (Glückseligkeitspartei), Gültekin Uysal (Demokratische Partei), Ahmet Davutoğlu (Zukunftspartei), Ali Babacan (Demokratie- und Fortschrittspartei). (© picture-alliance, abaca | Depo Photos/ABACA)

Am 1. April 2023 nahm der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu an einem abendlichen Fastenbrechen teil. Es war Ramadan, der Fastenmonat, an dem sich nicht nur Familien und Freunde und Bekannte, sondern auch Geschäftspartner und Politiker zu feierlichen Abendessen treffen. Nur sechs Wochen später würden die Wahlen des Staatspräsidenten und des Parlaments stattfinden. Aller Augen ruhten an diesem Abend auf Kemal Kılıçdaroğlu, dem Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP), der säkularen Partei von Republikgründer Kemal Atatürk. Denn das größte Oppositionsbündnis hatte ihn zu seinem Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten bestimmt und damit zum Herausforderer von Recep Tayyip Erdoğan, der das Land seit 21 Jahren regiert und sich zunehmend autoritär gebärdet. Erdoğans Umfragewerte waren im Sinkflug begriffen und die Chancen standen nicht schlecht für Kemal Kılıçdaroğlu. Doch beim anschließenden Fototermin passierte dem Oppositionsführer ein Unglück. Ohne es zu merken, trat er mit seinen Schuhen auf einen Gebetsteppich, den jemand dort vergessen hatte. "Skandal" schrien am nächsten Tag die Zeitungen und Fernsehsender, die der Regierung nahestehen, und in der heutigen Türkei sind das gut 90 Prozent der Presse. Erdoğan selbst zögerte keinen Augenblick, aus dem Vorfall politisches Kapital zu schlagen. "Wer die Gebetsrichtung und die Kaaba nicht kennt, der hat auch keine Augen für den Gebetsteppich", sagte er und sprach seinem Konkurrenten damit den Glauben ab. Dem fehle es an Wissen über den Islam, an guter Erziehung und an Sittlichkeit. Erdoğan hofft, er könne so das größte Bündnis der Oppositionsparteien schwächen, das unter dem Namen Nationsallianz (Millet İttifkakı) gegen die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) und ihre Partner antritt, die sich unter der Marke Volksallianz (Cumhur İttifkakı) zusammengeschlossen haben.

Sich selbst als fromm und sittlich, als guten Muslim zu präsentieren und seine Konkurrenten als religionslos, unsittlich und ehrlos hinzustellen, das hat für Erdoğan bisher gut funktioniert. Dass seine AKP seit 2002 ununterbrochen am Ruder ist, hat viel damit zu tun, dass sie sich zum Sprachrohr der religiös-konservativen Bevölkerung aufschwingen konnte, die zahlenmäßig größte einzelne Wählergruppe der Türkei.

Tatsächlich hat in den zwei Jahrzehnten für die Wähler ihre Zugehörigkeit zu einzelnen kulturellen Gruppen die entscheidende Rolle dafür gespielt, wem sie bei Wahlen ihre Stimme gaben. Das galt nicht nur für die Religiös-Konservativen. Strikt säkulare Leute und die religiöse Minderheit der Aleviten wählten in aller Regel die CHP. Die säkularen Kurden machten ihr Kreuz bei der Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP). Unduldsame türkische Nationalisten, die gleichwohl gläubig sind, votierten für die rechtsextreme Partei der nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP). Und die türkischen und kurdischen Konservativen waren das Stimmenreservoir der AKP. Der türkische Soziologe Yılmaz Esmer verglich die Wahlen in der Türkei daher mit Volkszählungen, bei denen nach der kulturellen Zugehörigkeit gefragt wird. Und weil sich diese Zugehörigkeiten - wenn überhaupt - nur langsam ändern, blieben die Wahlergebnisse bis ins Jahr 2018 erstaunlich gleich. An erster Stelle kam seit 2002 immer die AKP, Vertreterin des größten kulturellen Blocks. Mit großem Abstand folgte ihr die CHP, die Partei der städtischen Säkularen. Darauf folgten die türkischen Nationalisten und zu guter Letzt die kurdische Partei HDP, die manchmal unter der Zehn-Prozent-Hürde blieb und deshalb den Einzug in das Parlament verpasste, aber 2018 mit 11,7 Prozent ins Parlament einzog. Dabei erreichte die CHP oft nur die Hälfte der Stimmen der AKP, und die MHP und die HDP bewegten sich ungefähr bei der Hälfte der Stimmen der CHP. Zwar schnitt die eine oder andere Partei mal besser und mal schlechter ab. Doch stets blieb es bei dieser Reihenfolge.

Vor der Wahl am 14. Mai ist diese Regel nicht mehr gültig. Denn seien sie religiös-konservativ, säkular, extrem türkisch nationalistisch oder kurdisch - die Wähler haben jetzt die Möglichkeit, sich für eine von mehreren Parteien zu entscheiden, die kulturell ganz ähnlich ausgerichtet sind, sich jedoch politisch ganz gegensätzlich positionieren.

So können sich fromme Muslime nicht länger nur bei Erdoğans AKP zuhause fühlen, sondern auch bei der Zukunftspartei (Gelecek Partisi, GP) oder bei der Demokratie- und Fortschrittspartei (Demokrasi ve Atılım Partisi, DEVA). Schließlich sind die Vorsitzenden beider Parteien fromme Muslime, die für die AKP jahrelang zentrale Ministerien führten. Ahmet Davutoğlu, der Chef von Gelecek war erst außenpolitischer Chefberater Erdoğans, dann sein Außenminister und kurzzeitig gar Ministerpräsident. Und Ali Babacan, der Vorsitzende von DEVA, war während Erdoğans Regierungszeit Staatsminister für Wirtschaft und Finanzen, und als Außenminister Chefunterhändler der Türkei mit der Europäischen Union (EU). Beide gründeten ihre eigenen Parteien. Und beide halten Erdoğan nicht nur vor, dass er den ursprünglichen Kurs der AKP auf Demokratisierung und wirtschaftliche Liberalisierung verlassen und sich tief in Korruption verstrickt hat. Sie kritisieren auch, dass er seiner wenig erfolgreichen Außen-, Wirtschafts- und Bildungspolitik einen islamischen Anstrich gibt. Dabei waren Davutoğlu und Babacan zusammen mit Erdoğan einst angetreten, um zusammen mit anderen Politikern mit der AKP eine muslimisch-demokratische und keine islamistische Partei zu gründen. Davutoğlu und Babacan lehnen auch das 2018 eingeführte Präsidialsystem ab, das es mit einer solchen Konzentration der Macht auf eine Person nur in offen autoritären Staaten gibt, und beide sind deshalb Teil des Oppositionsbündnisses von Kemal Kılıçdaroğlu. Zu diesem Bündnis gehört noch eine weitere Partei, die fromme Muslime ohne Bedenken wählen können und die sich sogar explizit als pro-islamisch bezeichnet. Es handelt sich um die Glückseligkeitspartei (Saadet Partisi, SP) von Temel Karamollaoğlu. Zwar vertritt sie konservative Sittlichkeitsvorstellungen, doch wendet sie sich ebenfalls dagegen, dass Erdoğan mit Hilfe seines Präsidialsystems nicht nur die Regierung allein bestimmt, sondern auch im Parlament das Sagen und die Justiz weitgehend unter seine Kontrolle gebracht hat. Mehr noch, in der Glückseligkeitspartei heißt es, Erdoğan habe dem Islam geschadet. Enttäuscht davon, dass er die Religion für seine Zwecke ausnutzt, hätten viele junge Leute dem Islam den Rücken gekehrt.

Tatsächlich waren es die Einführung des Präsidialsystems im Juni 2018 und die vorangegangene Volksabstimmung für die dafür notwendige Verfassungsänderung im April 2017, die den Stein ins Rollen gebracht und die Parteienlandschaft in der Türkei so grundlegend verändert haben. Den ersten Schritt machte die Sozialwissenschaftlerin und Hochschuldozentin Meral Akşener, die im Oktober 2017 die Gute Partei (İyi Parti, İyi) gründete. Bis dahin war Akşener eine der führenden Köpfe in der Partei der nationalistischen Bewegung (MHP), die sich anfangs strikt gegen die Einführung des Präsidialsystems gewandt hatte. Doch nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs im Juli 2016 wechselte die MHP plötzlich die Fronten, und der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli wurde zum wichtigsten Verbündeten von Recep Tayyip Erdoğan. Meral Akşener war bis dahin nicht als überzeugte Demokratin hervorgetreten. Vor ihrer Karriere in der rechtsextremen MHP hatte sie in den 1990er Jahren kurzzeitig als Innenministerin gewirkt, und in ihrer Amtszeit war es zu einer ganzen Reihe von politischen Morden gekommen, die niemals aufgeklärt wurden. Umso erstaunlicher war es, dass Akşener ihre neue Partei strickt auf die rechte Mitte orientierte. Kurz vor den Wahlen ist die Gute Partei die zweitstärkste Kraft im Oppositionsbündnis. Sie präsentiert sich als Alternative für säkulare türkische Nationalisten, die in vielerlei Hinsicht keine lupenreinen Demokraten sein mögen, sich jedoch sowohl gegen die um sich greifende Korruption als auch gegen die Entfremdung der Türkei vom Westen wenden.

Auch die auf die linke Mitte orientierten Wähler verfügen heute über Alternativen. Die größte Partei links der türkischen Mitte und die Anführerin der oppositionellen Nationsallianz ist die Republikanische Volkspartei (CHP) von Kemal Kılıçdaroğlu. Doch sie hat einen gefährlichen Konkurrenten, die ebenfalls neue gegründete Partei Heimat (Memleket) von Muharrem İnce. İnce gehörte früher selbst der CHP an und war bei den Wahlen von 2018 ihr Präsidentschaftskandidat gegen Recep Tayyip Erdoğan. Böse Zungen behaupten, İnce habe seine Partei nur gegründet, weil ihn die CHP nicht erneut zu ihrem Präsidentschaftskandidaten ernannt hat. Zwar sagt İnce, er stehe in Opposition zu Erdoğan. Doch spricht er primär die potentiellen Wähler von CHP und İyi an und lässt dabei kein gutes Haar an diesen beiden Parteien. Die CHP beschuldigt er, zu sehr auf Konservative und Kurden zuzugehen und so den Säkularismus von Republikgründer Kemal Atatürk zu verraten. Das ist Wasser auf die Mühlen von Recep Tayyip Erdoğan, der alles tut, damit die kulturellen Gräben nicht zugeschüttet werden und sich das Volk auch weiterhin in Fromme und Gottlose teilen lässt.

Bei den säkularen Kurden verhindert dagegen die Konkurrenz mit linken Parteien nicht die Zusammenarbeit gegen das Regierungslager. Dabei tut die Regierung alles Erdenkliche, um Kurden ihrer Stimmen zu berauben. Über der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) schwebt ein Parteiverbot, und es kann gut sein, dass die Partei nur wenige Tage vor der Wahl aus dem Rennen genommen wird. Die HDP lässt ihre Kandidaten deshalb auf der Liste der bislang unbedeutenden Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti) antreten. Die Kurden sind mit der neu gegründeten Türkischen Arbeiterpartei (Türkiye İşçi Partisi, TİP), zwei kleinen linken Parteien und einem Dachverband linker NGOs ebenfalls ein Wahlbündnis eingegangen: das Bündnis Arbeit und Freiheit (Emek ve Özgürlük İttifkakı). Bei den Wahlen zum Parlament konkurriert die pro-kurdische Partei mit der linken Arbeiterpartei um Wählerstimmen, so dass die Kurden sich entscheiden können, ob ihnen Schritte zur Lösung der Kurdenfrage oder der Aufbau einer linken Opposition in der Türkei wichtiger ist. Trotz dieser Konkurrenz unterstützen sich die pro-kurdische Partei und die Arbeiterpartei gegenseitig da, wo sie alleine keine Chance auf einen Parlamentssitz haben. Für die Opposition gegen Erdoğan ist es jedoch zentral, dass die Parteien dieses Bündnisses keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten ins Rennen schicken und ihren Anhängern die Wahl von Kemal Kılıçdaroglu empfehlen.

Vorbei also die Zeit, in der die kulturelle Zugehörigkeit bestimmt, wem Wähler ihre Stimme geben. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei kooperieren Oppositionsparteien über das gesamte kulturelle Spektrum der Türkei hinweg. Türken und Kurden, Sunniten und Aleviten, Fromme und Säkulare lassen sich nicht mehr ohne weiteres gegeneinander in Stellung bringen. Das ist ein großer Fortschritt und trägt sicher zum gesellschaftlichen Frieden bei. Die Front zwischen der Opposition und der Regierung verläuft nicht mehr primär entlang kultureller Gräben. Sie verläuft zwischen denen, die ein autoritäres System ändern und jenen, die es beibehalten wollen. Entsprechend unterschiedlich sind die Taktiken der beiden aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten. Kemal Kılıçdaroğlu ist gezwungen, die existierende gesellschaftliche Pluralität der Türkei anzuerkennen und für sich nutzbar zu machen. "Wir müssen alle Farben dieses Landes an diesen Tisch einladen", sagte er nach einer Krise in der Nationalallianz und fuhr fort, "Sonst gibt es keine Chance auf Besserung". Und das Regierungslager? Im März entschloss sich die AKP, mit zwei kleinen, explizit islamistischen Parteien zu kooperieren. Die Neue Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah Partisi, YRP) will das Erbe der 1998 vom Verfassungsgericht verbotenen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi, RP) wiederbeleben, in der der junge Erdoğan politisch geprägt worden ist. Die kurdische Partei der freien Sache (Hür Dava Partisi) ist eine radikale vom Iran inspirierte Organisation. Beide Parteien fordern die Rücknahme von Vorschriften des türkischen Strafgesetzbuches, die Frauen vor häuslicher Gewalt schützen und ihnen im Fall der Scheidung langfristigen Unterhalt zusichern. So zieht sich die Regierung weiter auf den extrem konservativen und nationalistischen Teil der Bevölkerung zurück und sie setzt weiterhin darauf, die Gesellschaft zu polarisieren.

Das nimmt zuweilen groteske Züge an. So verbot der Rundfunkkontrollrat (Radyo ve Televizyon Üst Kurulu, RTÜK) im April die weitere Ausstrahlung einer türkischen Fernsehserie. Die Serie schildert, wie zwei Familien, die eine strikt säkular, die andere sehr religiös, aufgrund der Liebe und der Heirat ihrer Kinder miteinander in Kontakt kommen. Wie sie lernen, miteinander umzugehen und sich zu akzeptieren. Das passt nicht in die Wahlkampftaktik des Regierungslagers, und der Rundfunkkontrollrat verpflichtete den Sender anstatt der nächsten Serienfolge eine Dokumentation über Islamophobie auszustrahlen.

Zerfällt das Bündnis der Opposition bei einer Niederlage, und ist es dann vorbei, mit einer neuen politischen Kultur? Das weiß wohl niemand. Doch es besteht zumindest Hoffnung, dass ein eventueller Rückfall in alte Muster nicht dieselben Ausmaße annehmen wird, wie früher. Denn in den großen kulturellen Lagern hat ein vorsichtiges Nachdenken eingesetzt. So hat sich der CHP-Vorsitzende beim konservativen Teil der Bevölkerung für die früher unduldsame Politik seiner Partei den Frommen gegenüber öffentlich entschuldigt. Die nationalistische Gute Partei hat, wenn auch mit großen Bauchschmerzen, hingenommen, dass ihre Partner, die CHP, mit der pro-kurdischen Partei nicht nur verhandelt, sondern auch kooperiert. Ihre Vorsitzende Meral Akşener widerspricht öffentlich der Gleichsetzung von Kurden und ihrer Partei mit Terrorismus, die Erdoğan immer wieder im Munde führt. Unter den Kurden vermindert sich die Zustimmung zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK), die auf eine bewaffnete Lösung des Kurdenkonflikts setzt. Und wenn die türkischen und kurdischen Sunniten, die gut achtzig Prozent der Bevölkerung der Türkei ausmachen, den Aleviten Kemal Kılıçdaroğlu tatsächlich zum Präsidenten wählen, dann wird ein weiterer kultureller Graben zugeschüttet.

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Dr. Seufert ist Leiter des Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS.) und ist zudem als Autor für zahlreiche Fachzeitschriften und Zeitungen tätig.