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Die Gülen-Bewegung in der Türkei und Deutschland | Türkei | bpb.de

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Die Gülen-Bewegung in der Türkei und Deutschland

Dr. Günter Seufert

/ 11 Minuten zu lesen

Von Dezember 2013 an beherrschte der Konflikt zwischen den Anhängern des Predigers Fethullah Gülen und der Regierungspartei AKP die Medien der Türkei. Die Kommunalwahl im März 2014 gewann die AKP jedoch deutlich und im August wurde Erdoğan sogar bereits im ersten Wahlgang zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Die Gülen-Bewegung scheint den Kampf damit verloren zu haben.

"Herrschaft der Diebe beenden!" Demonstranten protestieren im Januar 2014, im Zuge des Korruptionsskandals, in der türkischen Hauptstadt Ankara sowohl gegen Recep Tayyip Erdoğan als auch gegen den Prediger Fethullah Gülen. (© dpa)

Aufnahmen von Fethullah Gülen zeigen ihn meist in einem Sessel sitzend; das Haupt fast demütig zur Seite geneigt. Das Bild eines frommen und gelehrten Mannes, der sich am liebsten seinen Studien widmet, entsteht ganz von alleine. Die Anhänger dieses Mannes betreiben nach eigenen Angaben in über 160 Ländern mehr als 1.500 Schulen, organisieren Nachhilfekurse, unterhalten "Dialoginstitute", geben Zeitungen und Zeitschriften heraus, besitzen Fernsehsender und sind über global agierende Unternehmervereinigungen miteinander vernetzt. Entstanden ist die Bewegung, die sie selbst gerne Hizmet (Dienst am Nächsten) nennt, in der Türkei. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts breitete sie sich auf dem Balkan und in Zentralasien aus. Seit Anfang der 2000er-Jahre ist sie auch in den USA und Afrika aktiv. In Deutschland sind über 300 regionale Bildungsvereine tätig, die Schulen, meist Gymnasien, betreiben und nach eigenen Angaben den "interkulturellen Dialog" pflegen.

Die Diskussion über Fethullah Gülen in Deutschland

Seit Fethullah Gülen in der Türkei ins Zentrum des politischen Streits gerückt ist, ist in der Bundesrepublik die Auseinandersetzung um die Einschätzung seiner Bewegung neu entbrannt. Integrations- und Bildungspolitiker heben das schulische Engagement von Gülens Anhängern hervor, deren Einrichtungen den Kindern von Migranten den Weg zur Universität oft besser ebnen als die deutschen Schulen. Die Kirchen reagieren meist zustimmend auf die Initiativen der Bewegung zum "interkulturellen Dialog". Gleichzeitig jedoch fordern sie von der Gülen-Gemeinde, ihr doch noch recht traditionelles Koranverständnis weiterzuentwickeln. Als einen "islamistisch-nationalistischen Wolf im demokratischen Schafspelz" sehen dagegen säkulare, linke und alevitische Vereine türkischer Migranten in Deutschland die Anhänger von Fethullah Gülen. Die deutschen Medien zeigen sich von jüngeren Entwicklungen in der Türkei alarmiert. Dort erscheinen Gülens Anhänger als geheime Organisation, die wie ein Mann zu reagieren in der Lage ist und straff geführt zu sein scheint.

Fethullah Gülen im Dezember 2013 in Pennsylvania. (© dpa)

Die Gülen-Bewegung hatte deshalb im letzten Jahr in Deutschland eine eher negative Presse. Journalisten verlangten von der Politik, den Druck auf die Bewegung zu erhöhen, damit sie transparenter wird. Wie hängen Religion, Bildung und Politik bei Fethullah Gülen nun eigentlich zusammen?

Religion und Politik bei Fethullah Gülen

Je nach Quelle lassen sich sowohl 1941 als auch 1938 als Geburtsjahr Fethullah Gülens finden. 1941 gilt dabei als das offizielle Geburtsjahr, einige seiner Anhänger beharren jedoch darauf, dass Gülen bereits 1938 das Licht der Welt erblickte. Das ist nicht nebensächlich: 1938 starb Kemal Atatürk, der die Republik Türkei gegründet und den Islam aus dem öffentlichen und politischen Leben des Landes verdrängt hatte. Wenn das Sterbejahr Atatürks und das Geburtsjahr Fethullah Gülens partout zusammenfallen sollen, soll das signalisieren, dass die Periode Atatürks und seiner Politik zu Ende geht und der Islam - über Gülen - erneut seine gesellschaftliche Kraft entfaltet. Wie ein Blick in seine Autobiographie zeigt, ist der Streit um das Geburtsdatum Gülens nicht der einzige Wink auf die von ihm verfolgte religiöse und politische Mission. Da ist der Hinweis auf die direkte Abstammung Gülens vom Propheten des Islam. Da spricht der Prophet Muhammed im Traum direkt zu ihm. Und da wird die Herkunftsregion Gülens, das ostanatolische Ahlat, als das Gebiet gewürdigt, in dem vor tausend Jahren Islam und Türkentum verschmolzen sind - womit, so heißt es, die Basis für die türkisch-islamische Staatstradition geschaffen worden ist.

Tatsächlich begriff Fethullah Gülen sich schon in jungen Jahren als auserwählt und als verpflichtet, der Religion erneut zur Herrschaft zu verhelfen; in der Gesellschaft wie auch im Staate. Gülens Autobiographie und seine Schriften belegen diese frühe Haltung ausführlich. Der Weg, den Gülen dazu einschlug, führte jedoch nicht durch die Niederungen der Politik, sondern über die Heranziehung einer Generation, die vom Glauben ergriffen ihr ganzes Sinnen und Trachten dem Dienst an dieser großen Sache widmet. Tatsächlich hatte Fethullah Gülen die Bildungsarbeit seiner Gemeinde immer auch als Teil einer religiös-politischen Mission verstanden. Das gilt für die Anfänge seines Wirkens 1964 als junger Prediger von knapp 20 Jahren in Edirne, das gilt für die späten 1970er-Jahre, als er die ersten Stiftungen und Zeitschriften seines späteren Netzwerks ins Leben rief. Und das gilt für die Mitte der 1990er-Jahre, als Gülen zu einer im ganzen Land bekannte religiösen Autorität wurde und schon mehr als 300 private Schulen initiieren konnte. An diesen Schulen wurde die Aneignung von Wissen als religiös verdienstvoll angesehen und sie wurden schnell zum Sprungbrett für Karrieren, vor allem in der Staatsbürokratie. Doch weil Gülen sich gegen jene Parteien wandte, für die der Islam ein politisches Programm war, galt er den bürgerlichen Parteien der Türkei als weitestgehend unpolitisch. Mehr noch, attackiert von pro-islamischen Parteien verwies die säkulare politische Elite des Landes in diesen Jahren auf Fethullah Gülen als muslimischen Musterdemokraten. Verschiedene türkische Regierungen unterstützten die Schulen Gülens im Ausland, wo sie noch heute als Botschafter türkischer Kultur auftreten und frommen Unternehmern der Türkei beim Aufbau von Kontakten helfen.

Vom Teilhaber an der Macht zum Freiwild

Das änderte sich Ende der 1990er-Jahre:

Der islamistische Politiker Interner Link: Necmettin Erbakan regierte 1996 und 1997 als Ministerpräsident die Türkei. (© picture-alliance/dpa)

Das türkische Militär zwang die Regierung des Islamisten Interner Link: Necmettin Erbakan zum Rücktritt, seine Interner Link: Wohlfahrtspartei wurde verboten. Die säkulare politische Elite glaubte nun, sie könne auf Gülen verzichten und nahm dessen Gefolgsleute in den Beamtenrängen als Gefahr wahr. Gegen Fethullah Gülen wurde ein Prozess wegen Ausnutzung der Religion für politische Ziele eröffnet, der Jahre später mit einem Freispruch enden sollte. 1999 floh er in die USA, wo er bis heute lebt. In der Türkei gingen seine Anhänger Anfang der 2000er-Jahre ein Bündnis mit der damals neu gegründeten Interner Link: Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) ein, der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei des heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Zwar gewann die AKP eine Wahl nach der anderen, doch musste sie sich stets vor den Generälen hüten, die jederzeit hätten erneut intervenieren können. Als Gegengewicht zur Macht des Militärs förderte Erdoğan die Kader Gülens in Justiz und Polizei. Über groß angelegte Strafverfahren gegen ehemalige und aktive Generäle und politische wie verfassungsrechtliche Reformen gelingt es diesen Kadern und der AKP-Regierung 2010 schließlich, die Macht des Militärs zu brechen.

Aus Pennsylvania nahe bei New York, wo Fethullah Gülen sich 1999 niedergelassen hatte, äußert er sich unterdessen immer weniger türkisch-nationalistisch und schlüpft immer mehr in die Rolle eines muslimischen Demokraten: Die Grundsteine dafür wurden bereits in der Türkei gelegt. Schließlich hatte sich Gülen immer gegen islamistische Parteien ausgesprochen und schon während seiner letzten Jahre in der Türkei den interreligiösen Dialog mit Christen und Juden begonnen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York nahm man in Washington diese moderaten muslimischen Töne begeistert auf und Gülen wurde - auf fast globaler Ebene - zum muslimischen Gegenentwurf zu Al-Qaida. Der einflussreiche Think Tank East-West-Institute verlieh Gülen 2011 seinen jährlichen Peace Building Award. Die Laudatio hielten die beiden ehemalige US-Außenminister James Baker und Madeleine Albright. Ins gleiche Horn stoßen auch hochrangige Mitarbeiter der CIA, für die die Lehre Gülens die Alternative zu islamischem Radikalismus und zu Terrorismus im Namen der Religion ist. In einem politischen Bericht für den Kongress heißt es, Gülen verurteile islamistischen Terrorismus, fördere den interkulturellen Dialog und begrüße die parlamentarische Demokratie, säkulare Lebensformen sowie moderne Wirtschaft und Technologie. Die regierungsnahe US-amerikanische Zeitschrift Foreign Affairs wirft die Frage auf, ob Gülen ein muslimischer Martin Luther sei und bescheinigt ihm, auf die Reformation des Islam hinzuarbeiten. Auch in den Vereinigten Staaten wächst die Gemeinde schnell, heute betreibt sie dort gut 120 Schulen.

Während sich Fethullah Gülen auf diese Weise zunehmend in den USA zuhause fühlt, entwickelten sich in der Türkei die Dinge in die Gegenrichtung: In Ankara suchte die Regierung bereits seit einigen Jahren den Schulterschluss mit den arabischen Staaten und der islamischen Welt und setzt damit auch die einstmals guten Beziehungen zu Israel aufs Spiel. Wichtige Stationen dieser Entwicklung waren die Rede Erdoğans in Davos 2009 und die Ereignisse rund um die Stürmung der türkischen Gaza-Flotille Mavi Marmara durch das israelische Militär 2010. Mit der Kritik Fethullah Gülens am Versuch, mit der Mavi Marmara die israelische Blockade des Gaza-Streifens zu durchbrechen, brach der Streit zwischen Gülens Bewegung und Erdoğans Partei dann offen aus und eskalierte im Dezember 2013, als Staatsanwälte, die Gülen nahestehen sollen, gegen vier Minister der Regierung Erdoğan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. Gleichzeitig tauchte eine Vielzahl von Mitschnitten abgehörter Telefonate im Internet auf, die den Verdacht nahelegten, dass auch der damalige Ministerpräsident Erdoğan selbst in schwere Korruptionsfälle verstrickt ist. Der Streit zwischen der Hizmet-Bewegung und der Partei entwickelte sich zum politischen Krieg: Die Regierung versetzte die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, die deren Anweisungen ausführenden Polizisten und die zuständigen Richter. Es blieb nicht bei dieser Intervention in die richterliche Unabhängigkeit. Über gesetzliche Änderungen sicherte die Regierung sich die letztendliche Entscheidung über die Versetzung, Ernennung von sowie über Disziplinarverfahren gegen einzelne Richter und bedroht damit wesentliche Elemente der Gewaltenteilung. Im Laufe der darauffolgenden Wochen wurden mehr als 6.000 Polizisten und circa 130 Staatsanwälte versetzt, einige gar für immer aus dem Dienst entfernt. Erdoğan beschuldigte in diesem Zusammenhang die Anhänger Gülens in der Bürokrate, sie seien ein "Werkzeug der ausländischen Feinde der Türkei". Doch die Regierung legte weder der Öffentlichkeit noch den Gerichten Beweise für Straftaten konkreter Personen vor und richtete auch keine parlamentarische Untersuchungskommission ein. Stattdessen kommt es, so Erdoğan, zu einer "Hexenjagd" auf die Anhänger Fethullah Gülens, und zwar nicht nur in der Polizei, sondern in der Bürokratie generell und selbst in staatlichen und halbstaatlichen Unternehmen wie der Fluggesellschaft Turkish Airlines.

Für Recep Tayyip Erdoğan ist Fethullah Gülen heute nicht mehr als der Chef einer Bande, die den türkischen Staat unterwandert hat und die demokratisch gewählte Regierung stürzen will. Kulturminister Ömer Çelik bezeichnet Gülen als Spion. Ihsan Arslan, Berater Erdoğans, verweist als Auftraggeber für diese Spionage auf die USA und Innenminister Efkan Ala deutet an, Gülen diene primär den Interessen Israels. Die AKP-treue Zeitung Yeni Şafak schreibt, Anhänger Gülens hätten türkische Rüstungsunternehmen ausgespäht, was für ihre Leser sinnvoll erscheint, weil Ankara und Tel Aviv vor ihrem Bruch auf diesem Feld sehr eng kooperierten. Auch das Amt für Religiöse Angelegenheiten, das unter Aufsicht der Regierung steht, warnt vor Gülen und seiner Gemeinde. Sie seien nicht nur kriminell, sondern gnostische Abweichler vom Islam und wiesen spiritualistische und messianistische Züge auf.

Die Veränderung der Bewegung im Laufe der Zeit und als Folge ihrer Internationalisierung

Für jedes Urteil über Gülen lassen sich so scheinbar leicht Belege finden: für türkischen Nationalismus ebenso wie für Universalität, für Islamismus ebenso wie für Demokratie, für Traditionalismus ebenso wie für die Öffnung hin zu anderen Religionen. Doch die Entwicklung der Bewegung im Laufe der Zeit verweist klar in eine bestimmte Richtung:

Die Gülen-Bewegung formierte sich in den 1960er-Jahren als kleiner, lokaler Kreis in der westanatolischen Stadt Edirne. Bereits damals konzentrierte sich der Kreis auf die Heranbildung von frommen jungen Leuten, die den Marsch durch die türkischen Institutionen antreten sollten. Heute ist die Gülen-Bewegung dagegen weltweit für eine bessere Bildung der Muslime aktiv, die freilich immer auch eine Verstärkung der religiösen Identität anstrebt. Pläne zur Eroberung des Staates kann sie mit diesen Bildungsaktivitäten außerhalb der Türkei jedoch nicht verbinden.

Ideologisch war die Bewegung bis in die zweite Hälfte der 1990er-Jahre von der Fixierung auf das Türkentum geprägt. Heute predigt sie – besonders in den USA und Europa - kulturelle Toleranz und Vielfalt, eine Orientierung, die nicht nur für ihre Ausbreitung in westlichen Ländern funktional ist, sondern die auch der gesellschaftlichen Realität ihrer Anhänger in diesem Teil der Welt entspricht. Auch die straffe innere Hierarchie, die die Bewegung lange ausgezeichnet hat, steht heute unter dem Druck, Anpassung an die unterschiedlichen Gegebenheiten in den verschiedenen Staaten, in denen die Bewegung tätig ist, zuzulassen und nationalen Entscheidungszentren größere Bewegungsfreiheit zu gewähren. Die religiöse Ausrichtung entwickelt sich also von der Propagierung eines so traditionellen wie autoritären sunnitischen Islams zu einer offeneren Lesart der Lehre. Wie schwierig dieser Wechsel ist – bei dem immer auch auf die Befindlichkeiten der konservativen anatolischen Bevölkerung Rücksicht genommen werden muss - zeigt die Haltung Gülens zur Apostasie, der Abkehr des einzelnen Gläubigen vom Islam: Vertreter der Bewegung in Deutschland verbreiten zur Zeit eine Stellungnahme Gülens, nach der die Abkehr vom Islam zwar ein religiöses Vergehen ist, das aber keine diesseitige Strafe nach sich ziehen kann. Die türkische Website der Bewegung spricht dagegen nach wie von der theologischen Gültigkeit der religionsrechtlichen Vorschrift, nach der Abtrünnige des Todes sind, eine Haltung die von weiten Kreisen des konservativen Mainstreams in der Türkei geteilt wird. Allerdings ruft so gut wie niemand in der Türkei danach, dass der moderne Staat oder gar der einzelne Gläubige dieses religionsrechtliche Gebot auch durchzusetzen hätte und auch bei Gülen findet sich dazu keine Forderung.

Ausgrenzung oder Einbindung durch Kooperation?

In der Türkei macht die Bewegung heute eine äußerst schwierige Phase durch: Innerhalb eines Jahres wurde sie von einem Teilhaber an der politischen und bürokratischen Macht quasi zum Freiwild. Das muss und wird sowohl das Charisma von Fethullah Gülen als auch die nach wie vor bestehenden inneren Hierarchien schwächen. Es war der Machtkampf zwischen Erdoğan und Gülen, der Zweifeln an den Aktivitäten und Zielen der Bewegung in Deutschland neuen Auftrieb gab. Die Bewegung hat diesen Kampf verloren. Als Folge davon ist bereits jetzt zu beobachten, dass ihre hiesigen Mitglieder sich stärker auf die deutschen Verhältnisse und Erwartungen einlassen müssen und auch einlassen.

Für eine abschließende Bewertung der Gülen-Bewegung in Deutschland, müssen eine Reihe von Faktoren in Betracht gezogen werden. Erstens ist die Gülen-Bewegung in theologischer Hinsicht nicht traditioneller und nicht stärker in der Orthodoxie verhaftet als viele andere in Deutschland tätigen türkisch-sunnitische Vereine und Verbände. Sie kann zweitens auch nicht als nationalistischer oder türkistischer als andere sunnitisch-muslimische Vereine aus der Türkei bezeichnet werden. Sie ist insofern Teil des türkisch-sunnitischen Mainstreams in Deutschland. Anders als manch andere Gruppe erteilt sie jedoch islamistischem Aktivismus und islamistischer Radikalität eine klare Absage und spricht sich stets für demokratische Regierungsformen aus. Mehr noch, sie ist die einzige türkisch-muslimische Gruppe, die sich nicht nur aktiv für die Verbreitung säkularer Bildung unter den Muslimen einsetzt, sondern auch greifbare Erfolge vorzuweisen hat. In den Schulen, die sie in Deutschland und anderen europäischen Ländern betreibt, gibt es keinen islamischen Religionsunterricht. Es wird vielmehr darauf vertraut, dass die Lehrer als Person Vorbild für eine moralische Lebensführung sind. Es wäre deshalb wenig hilfreich, gerade der Gruppe, die von ihrer politischen Orientierung und ihrer praktischen Arbeit her einen positiven Beitrag zur Integration leisten kann, die Zusammenarbeit prinzipiell zu verweigern. Im Gegenteil, gerade angesichts der Schwächung der Bewegung in der Türkei werden die Mitglieder der Gülen-Gemeinde sich umso mehr auf die Situation in Deutschland einlassen, je mehr Kooperationsmöglichkeiten sie vorfinden. Mit der Bereitschaft zur Zusammenarbeit muss von Seiten deutscher Institutionen allerdings die Forderung nach größtmöglicher organisatorischer, institutioneller und finanzieller Transparenz einhergehen.

Dr. Günter Seufert ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit (SWP) in Berlin und arbeitet zur Türkei und zum Zypernkonflikt. Davor berichtete er als Korrespondent mit Sitz in Istanbul für deutsche, schweizerische und österreichische Zeitungen. Als Visiting Associate Professor lehrte er an der University of Cyprus in Nikosia. Zum Thema erschien von ihm zuletzt: Überdehnt sich die Bewegung von Fethullah Gülen: Eine türkische Religionsgemeinde als nationaler und internationaler Akteur, SWP, Berlin 2013.