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Das Präsidialsystem in der Türkei: Nach dem Vorbild der USA? | Türkei | bpb.de

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Das Präsidialsystem in der Türkei: Nach dem Vorbild der USA?

Ismail Küpeli

/ 6 Minuten zu lesen

Das politische System der Türkei steht vor einem Paradigmenwechsel. Das Referendum am 16. April wird entscheiden, ob die bisherige parlamentarische Demokratie bestehen bleibt oder von einem Präsidialsystem abgelöst wird. Befürworter und Gegner der Verfassungsänderung mobilisieren die türkischen Wähler nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland.

Wahlkabinen stehen am 27.03.2017 in einem Wahllokal für das türkische Referendum auf dem Messegelände in Hannover (Niedersachsen). (© picture-alliance/dpa)

Aus der anfangs vagen Idee starker und einheitlicher Führung ist ein Verfassungsentwurf geworden, der einen Systemwechsel herbeiführen würde: Auf die konkreten Verfassungsänderungen, die insgesamt 18 Artikel der Verfassung betreffen, wird in der öffentlichen Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern nur selten Bezug genommen. So überwiegen pauschale Bewertungen wie etwa die der AKP-Politiker, dass mit der Einführung des Präsidialsystems der Terror in der Türkei enden, das Wirtschaftswachstum zurückkehren und die Türkei endlich wieder den Platz in der Welt erlangen würde, der ihr zustehe. Von Diktatur und dem Ende der türkischen Republik spricht dagegen die Opposition, die Bilder aus der Vergangenheit – auch aus der deutschen Geschichte – herbeizitiert.

Systemwechsel per Verfassungsänderung?

Die Befürworter der Verfassungsänderung vertreten den Standpunkt, in vielen Demokratien der Welt gäbe es Präsidialsysteme. Dafür führen sie prominente Beispiele wie etwa die USA oder Frankreich an, wodurch die Verfassungsänderung legitim erscheint. Allerdings handelt es sich bei dem angestrebten Präsidialsystem in der Türkei keinesfalls um ein System, das etwa mit dem der USA vergleichbar wäre: In einer Präsidialdemokratie werden der Staatspräsident und das Parlament direkt vom Volk gewählt und sind jeweils nur dem Volk gegenüber verpflichtet. Weder kann der Staatspräsident vom Parlament abgesetzt noch das Parlament vom Staatspräsidenten aufgelöst werden. Beide Institutionen arbeiten strikt unabhängig voneinander, was eine strenge Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Legislative zur Konsequenz hat.

Bereits hierbei weicht das angestrebte türkische Präsidialsystem deutlich von einer klassischen Präsidialdemokratie ab: Geplant ist, dass sowohl der Staatspräsident wie auch das Parlament jeweils Neuwahlen herbeiführen können, bei denen der Staatspräsident und das Parlament gemeinsam gewählt werden (Artikel 116). Folglich kann der Staatspräsident durch die Ausrufung von Neuwahlen das Parlament auflösen. Darüber hinaus kann der Staatspräsident einer Partei im Parlament angehören und als Politiker dieser Partei agieren. Die Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Legislative ist dadurch nicht mehr klar getrennt. Das türkische Präsidialsystem, über das die türkischen Wählerinnen und Wähler am 16. April abstimmen werden, lässt sich also nicht in die bekannten Kategorien der repräsentativen Demokratie einordnen.

Auch darüberhinaus lassen sich auf fast allen Ebenen Differenzen zwischen dem türkischen Präsidialsystem und dem US-amerikanischen System auffinden, obwohl dieses als Modell für die türkische Verfassungsreform viele Präsidialdemokratien dient. So werden die Minister in den USA vom Staatspräsidenten ernannt, bedürfen aber einer Bestätigung durch den US-Senat. Da dabei immer wieder Minister abgelehnt werden, muss der US-amerikanische Staatspräsident mit dem Senat politische Kompromisse eingehen. Dieses wäre in der Türkei nicht nötig, weil der Staatspräsident eigenmächtig Minister ernennen und abberufen könnte, ohne dass andere Institutionen dabei Mitsprache- oder Entscheidungsrechte hätten (Artikel 106). Darüber hinaus könnte der Staatspräsident im türkischen Modell Ministerien umgestalten, neu gründen oder abschaffen, ohne dass er andere Akteure oder Institutionen konsultieren oder ihre Zustimmung einholen müsste (Artikel 106).

Die geplanten Befugnisse des Präsidenten gegenüber der Judikative und dem Staatsapparat unterscheiden sich ebenfalls vom US-Modell. Werden etwa die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs der USA vom Staatspräsidenten nach Zustimmung des Senats ernannt, könnte der türkische Staatspräsident eigenmächtig 12 der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts (Türkiye Cumhuriyeti Anayasa Mahkemesi) berufen, ohne dafür eine Bestätigung oder Zustimmung des Parlaments einholen zu müssen (Artikel 146). Lediglich drei Mitglieder des Verfassungsgerichts müssten durch das Parlament bestimmt werden.

Zudem werden die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs der USA auf Lebenszeit ernannt, wodurch die Möglichkeiten des Staatspräsidenten, die Zusammensetzung des Gerichts zu verändern, sehr begrenzt sind. Im Regelfall ernennen US-Staatspräsidenten ein oder zwei Richter, wobei sie für diese Ernennung die Zustimmung des Senats benötigen. Die Amtszeit der türkischen Verfassungsrichter ist jedoch auf zwölf Jahre begrenzt, sodass der Staatspräsident die Zusammensetzung schneller verändern könnte. Auch bei der Besetzung von anderen leitenden Positionen im Staatsapparat benötigt der Staatspräsident in den USA die Zustimmung des Senats, während im türkischen Modell der Staatspräsident auch hier wieder allein bestimmen und ernennen könnte (Artikel 104).

Einer der zentralen Unterschiede zwischen einer Präsidialdemokratie nach französischen oder US-amerikanischen Vorbild und dem türkischen Präsidialsystem verbirgt sich in den angestrebten Verfassungsänderungen zum Staatshaushalt: In Demokratien braucht die Exekutive die Zustimmung des Parlaments für den Staatshaushalt. Das Parlament muss also den Vorschlägen der Regierung, wie und wofür der Staat zukünftig Geld ausgeben soll, mehrheitlich zustimmen. Dadurch ist die Exekutive gezwungen, Kompromisse mit dem Parlament einzugehen, und kann nicht unbeschränkt regieren. Im türkischen Präsidialsystem bräuchte der Staatspräsident zwar auch die Zustimmung des Parlaments, allerdings sieht der Entwurf für die neue Verfassung vor, dass im Falle einer Ablehnung durch das Parlament, einfach der letzte Staatshaushalt an die Inflation und gestiegene Ausgaben angepasst und bis zur Zustimmung des Parlaments für den neuen Staatshaushalt eingesetzt wird (Artikel 161). Damit würde ein entscheidendes Machtmittel des Parlaments gegenüber der Exekutive und ein zentraler Aspekt der Gewaltenteilung faktisch verloren gehen.

Neben der Entscheidungsmacht über den Staatshaushalt würde die Einführung eines Präsidialsystems dem Parlament faktisch auch die alleinige legislative Kompetenz entziehen, weil der Staatspräsident eigenmächtig Dekrete erlassen kann, die faktisch Gesetzeskraft haben (Artikel 104). In einer gewissen Weise würde damit der derzeitige Ausnahmezustand, der im Juli 2016 verhängt und seither zweimal verlängert worden ist, zum Normalfall gemacht: Seit Beginn des Ausnahmezustands wird die Türkei hauptsächlich durch Dekrete des Staatspräsidenten regiert, die nicht im Parlament bestätigt werden müssen.

Von den insgesamt 18 Verfassungsartikeln verstärkt lediglich ein Artikel (Artikel 105) die demokratische Gewaltenteilung, in dem er die strafrechtliche Verantwortung des Staatspräsidenten festlegt und eine Amtsenthebung durch den Staatsgerichtshof ermöglicht. Allerdings ist fraglich, ob dieser "Rettungsanker" gegen einen politischen Machtmissbrauch des Präsidialsystems ausreichen wird.

Kampf um die Stimmen der türkischen Wähler in Deutschland

Sowohl die AKP-Regierung als auch AKP-nahe Verbände in Deutschland und in anderen europäischen Ländern setzen im Wahlkampf bewusst auf Eskalation. Der herbeigeführte Streit um die Wahlkampfauftritte türkischer Minister, aber auch die von Erdoğan persönlich vorgetragenen Nazi-Vergleiche zielen ausschließlich auf die Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft in Deutschland.

Ob am 16. April 2017 für oder gegen das Referendum gestimmt wird, ist aktuell kaum absehbar. Da für die Verfassungsänderung und die Einführung des Präsidialsystems eine einfache Mehrheit von über 50 Prozent der abgegebenen Stimmen notwendig ist, könnten die Stimmen der türkischen Wahlberechtigten in Deutschland eine Schlüsselrolle spielen – und zwar im Sinne der AKP-Regierung, die offen für die Verfassungsänderung wirbt. Bei der letzten Parlamentswahl im November 2015 erzielte die AKP in Deutschland mit knapp 60 Prozent der Stimmen ein überdurchschnittlich gutes Ergebnis. In Deutschland können etwa 1,4 Million türkische Wähler in türkischen Konsulaten ihre Stimme für das Referendum abgeben. Die Beteiligung bei der letzten Parlamentswahl lag bei etwa 40 Prozent.

Nach dem Referendum: Rückkehr zur Normalität?

Eine Zustimmung im Referendum für die Verfassungsänderung würde die Abschaffung des bisherigen parlamentarischen Demokratiesystems in der Türkei einläuten. Ein deutliches "Nein" hingegen würde jedoch auch keine Rückkehr zum alten politischen System bedeuten, in dem der Staatspräsident allein repräsentative Aufgaben erfüllt.

Wenn die türkische Wählerschaft trotz des massiven Einsatzes des Staatsapparats, der medialen Übermacht und der innenpolitischen Eskalation nicht zu einem "Ja" zu bewegen ist, dann wäre es zur Zeit vorstellbar, dass die AKP-Regierung dieses Ergebnis zwar hinnimmt, wahrscheinlich ist dann jedoch eine Fortsetzung des Status Quo und des Ausnahmezustands – der soll am 19. April enden.

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ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er schreibt für Tages- und Wochenzeitungen u.a. mit dem Schwerpunkt Türkei sowie Naher und Mittlerer Osten.